Das Referendum auf der Krim: Ein Tag im Wahllokal
„Wir werden erst besser leben, wenn wir ein Teil Russlands sind“, sagen sie im Nordwesten von Simferopol. Selbstverständlich also, wohin ihr Kreuz gehört. Ein Tag im Wahllokal 08062, wo sich lange niemand findet, der das anders sieht.
Warum er für Russland gestimmt hat? Der Mann, der gerade die Wahlkabine verlassen hat, ist um die 50, und er ist sichtlich dankbar für die Frage. „Das kann ich Ihnen genau sagen! Weil ich Kulakow heiße! Ku-la-kow, verstehen Sie, mein Nachname ist russisch! Und wie haben mich diese ukrainischen Bürokraten ins Wählerregister eingetragen? Kurkuljow! Sie haben meinen Namen ins Ukrainische übersetzt, verstehen Sie? Ich will nicht in einem Land leben, in dem mein Name nicht mehr mein Name ist!“
Simferopol, 16. März, der Tag, mit dem alles anders werden könnte auf der Krim. Das Wahllokal mit der Nummer 08062 liegt im Nordwesten der Krim-Hauptstadt Simferopol, in einem nicht sehr wohlhabenden Viertel in der Nähe des Bahnhofs. Genau 1837 Wähler von den rund 1,5 Millionen Stimmberechtigten der Krim werden hier heute die Möglichkeit haben, über das politische Schicksal ihrer Halbinsel abzustimmen.
Drei plombierte Wahlurnen sind an der Stirnseite des Raums aufgereiht, das Lokal ist in einem kommunalen Verwaltungsgebäude untergebracht. Auf dem Wahlzettel stehen zwei Kästchen zur Auswahl. Den ersten kreuzt an, wer für den Anschluss ans Nachbarland ist, dafür, dass die Krim zum „Subjekt der Russischen Föderation“ wird.
Die zweite Option sieht eine Rückkehr zur Krim-Verfassung von 1992 vor, die der Region deutlich weiterreichende Autonomierechte einräumte, als die Krim sie heute innehat. Für die Beibehaltung des Status quo kann man nicht stimmen. Gegner des Referendums kritisieren, dass auch die zweite Wahloption die Krim zu einer Art russischem Protektorat machen würde, manche scherzen, man könne beim Referendum lediglich darüber entscheiden, ob man für den Anschluss an Russland sei oder ob man sehr dringend für den Anschluss an Russland sei.
An der Längsseite des Raums stehen sechs Wahlkabinen, verhängt mit Stoffbahnen in Blau, Weiß und Rot. Es sind die Farben der russischen Trikolore, die auf der Krim allgegenwärtig sind, nicht erst seit dem Ausbruch der aktuellen Krise.
Das gängigste Argument: "Ich bin Russe"
Auch die vier Ordner vor dem Wahllokal tragen die russischen Farben als Armbinde über ihrer Zivilkleidung, es sind Angehörige der „freiwilligen Bürgerwehr“, die sich hier in den letzten Wochen formiert hat. Als unbewaffnete Truppe bewachen sie derzeit Verwaltungsgebäude, Bahnhöfe, Straßensperren und öffentliche Plätze auf der gesamten Halbinsel. Vor dem Wahllokal halten sich die vier jungen Männer weitgehend im Hintergrund, sie sagen, dass sie nur „Provokationen verhindern“ wollen, damit keiner der „Faschisten“ aus der Westukraine auf die Idee komme, den Ablauf des Referendums zu stören.
Das Wort „Faschisten“ bekommt oft zu hören, wer sich vor dem Lokal mit Wählern unterhält. „Ich habe Angst um mein Kind“, sagt eine 40-jährige Buchhalterin, die mit ihrem achtjährigen Sohn ins Wahllokal gekommen ist. „Wir sind Russen. Ich will nicht, dass die Kiewer Faschisten meinem Sohn verbieten, seine Muttersprache zu sprechen.“
Viele der Wahlargumente, die hier kursieren, geben nahezu wörtlich die antiukrainische Stimmungsmache wieder, die das russische Fernsehen seit Wochen auf der Krim ausstrahlt. Ukrainische Sender sind auf der Halbinsel nicht mehr zu empfangen, die neu eingesetzte Krim-Regierung hat sie Anfang der vergangenen Woche abschalten lassen.
Das Wahllokal ist gut besucht, um elf Uhr vormittags, drei Stunden nach der Eröffnung, haben bereits knapp die Hälfte der Stimmberechtigten ihren Zettel eingeworfen. Die Menschen geben gerne und bereitwillig Auskunft über ihre Wahlentscheidung, und lange findet sich nicht ein Einziger, der nicht „für Russland“ gestimmt hat. Die meisten fangen sofort an, über die Gründe ihrer Wahl zu sprechen, ohne vorher überhaupt erwähnt zu haben, für welche der beiden Optionen sie sich entschieden haben – sie halten es schlicht für selbstverständlich, dass das Kreuz eines Krimbewohners ins erste Kästchen gehört.
Das gängigste Argument ist simpel: „Ich habe für Russland gestimmt, weil ich Russe bin.“ Das trifft auf knapp zwei Drittel der Halbinselbewohner zu, und man kann davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen den Anschluss ans Nachbarland befürworten wird. „Mein Blut ist russisch“, sagen andere. „Meine Muttersprache ist Russisch.“ – „Ich bin russisch-orthodox.“ – „Meine Familie kommt aus Russland.“ – „Alle meine Verwandten leben in Russland.“ – „Alle meine Freunde sind russisch.“ Über der Eingangstür des Wahllokals hängt ein Lautsprecher, der die Straße mit russischer Schlagermusik beschallt. „Wenn ich diese Musik höre“, sagt eine Frau um die 50, „diese Wörter, diese Silben, diese wunderbare russische Sprache, dann weiß ich, dass ich zu Hause bin.“
Aufschwung wird es nicht geben, mein Sergej. Stattdessen: Chaos
Fast alle, die angeben, „für Russland“ zu sein, fügen hinzu, dass sie „gegen die Ukraine“ sind. Wieder ist das Wort „Faschisten“ zu hören, gemünzt auf die Maidan-Aktivisten, die in Kiew die Macht übernommen haben, unrechtmäßig, wie hier fast alle übereinstimmend finden. „Diese Faschisten haben sich mit Waffengewalt an die Macht geputscht“, ruft ein aufgebrachter älterer Herr. „Und uns wollen sie verbieten, mit einer friedlichen Abstimmung über unser Schicksal zu entscheiden!“
Andere Menschen sprechen sich aus eher materiellen Gründen für den Beitritt zur Russischen Föderation aus, sie hoffen, dass die wirtschaftlich schwache Krim unter Regie des starken Nachbarlands endlich einen Aufschwung erleben könnte. „Die Ukraine hat uns 20 Jahre unseres Lebens gestohlen“, sagt eine 43-jährige Hausfrau. „Sehen Sie sich unsere Stadt an: keine Straße ohne Schlaglöcher, die Häuser verfallen, die Menschen haben keine Arbeit. Wir werden erst besser leben, wenn wir ein Teil Russlands sind.“
Draußen vor dem Wahllokal rechnet ein junger ukrainischer Polizist vor, dass sein Staatsgehalt um das Fünffache steigen würde, wenn die Krim Russland beitritt. Eine 52-jährige Hausmeisterin freut sich darüber, dass sie als russische Staatsbürgerin in nur drei Jahren in Rente gehen könnte, während sie als Ukrainerin noch acht Jahre arbeiten müsste.
Plötzlich, es ist kurz vor Mittag, dringt eine laute Frauenstimme aus dem Wahllokal. Eine ältere Dame hat sich vor dem Wahlleiter aufgebaut, sie ist außer sich, ihre Stimme überschlägt sich. „Meine Tochter! Warum steht meine Tochter im Wählerregister? Meine Tochter ist seit zwei Jahren tot!“ Der Wahlleiter redet beschwichtigend auf sie ein, entschuldigt sich, erklärt, die Wählerlisten seien schon ein paar Jahre alt, die Regierung in Kiew habe mit allen Kräften die Erstellung eines aktuellen Registers blockiert. Mit tränenerstickter Stimme ruft die Dame immer wieder: „Meine Tochter!“ Was erst wie ein Manipulationsvorwurf klang, klingt jetzt zunehmend nach dem Entsetzen einer Mutter, die an unerwarteter Stelle an eine Familientragödie erinnert wurde.
"Das ist keine Hilfsaktion, das ist Krieg“
Der Wahlleiter heißt Nikolaj Aleksejewitsch Ljubezkij, er ist ein freundlicher älterer Herr mit weißem Haar, ehemaliger Militärangehöriger, Hauptmann der Reserve, eine Zeit lang saß er als Abgeordneter im Regionalparlament von Simferopol. Er kennt den Wahlbezirk gut, er hat hier auch schon bei vergangenen Regionalwahlen das Prozedere geleitet. Die Mehrzahl der Einwohner sei russisch, sagt er. Außerdem gebe es einen kleinen Anteil von Tataren, deren Namen in der Wählerliste stünden, sagt Ljubezkij, aber gesehen habe er im Wahllokal noch keinen von ihnen. Die ethnische Minderheit der Krimtataren stellt auf der Halbinsel etwa zwölf Prozent der Bevölkerung. Weil sie mit Russland im Lauf ihrer Geschichte nicht die besten Erfahrungen gemacht haben, hat sich ihre politische Führung offen für einen Boykott des Referendums ausgesprochen.
Draußen vor dem Verwaltungsgebäude findet sich schließlich doch noch ein Mann, der für den Verbleib der Krim in der Ukraine gestimmt hat. Seine Gründe erklärt er gerne, aber nicht in Hörweite der Freiwilligen von der Bürgerwehr, er möchte das Gespräch lieber hinter der nächsten Gebäudeecke führen. Sergej ist 50 Jahre alt und hat früher für ein Tourismusunternehmen gearbeitet, jetzt ist er arbeitslos. Für Russland, sagt er, habe er nicht stimmen können: „Nicht nach dieser bewaffneten Intervention.“ Er könne nicht begreifen, warum es seine Landsleute auf der Krim nicht nur hinnehmen, sondern begeistert begrüßen, dass Russland mit Waffengewalt in einen souveränen Staat einmarschiere. „Das ist keine Hilfsaktion, das ist Krieg.“
Im Übrigen, fügt Sergej hinzu, glaube er auch nicht an die „Märchen“, die Russland über seine staatlichen Fernsehsender verbreiten lasse. „Die Leute hier glauben, dass ihre Gehälter steigen werden, aber wer soll ihnen die zahlen, wenn jetzt schon die ersten ukrainischen Firmen panisch die Krim verlassen?“ Den versprochenen Aufschwung werde es nicht geben, sagt Sergej. „Stattdessen wird hier bald wirtschaftliches Chaos ausbrechen. Und in der Folge möglicherweise Bürgerkrieg. Wenn sich die Krim abspaltet, könnte sich die ganze Ukraine in ein neues Jugoslawien verwandeln.“
Sergej wird im Lauf des Tages der Einzige bleiben, der sich vor dem Wahllokal mit der Nummer 08062 für den Verbleib der Krim in der Ukraine aussprechen wird. „Was haben Sie erwartet?“, fragt am frühen Nachmittag ein junger Mann, der ein T-Shirt in den russischen Nationalfarben trägt, blau, weiß und rot. „Wenn man der Krim die Wahl gibt, wird sie sich immer für Russland entscheiden.“
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