zum Hauptinhalt
Die Angeklagte Beate Zschäpe unterhält sich mit ihrem Anwalt Mathias Grasel im Saal des Oberlandesgericht in München.
© dpa

261. Tag im NSU-Prozess: Ein Tag, der die ganze Dimension des Schreckens zeigt

Im NSU-Prozess schildert ein ehemaliger Sparkassen-Mitarbeiter einen Banküberfall, bei dem mutmaßlich Uwe Böhnhardt ihm in den Bauch schoss. Der Zeuge leidet darunter noch heute.

Der NSU-Komplex steckt voller Dramen, doch manche Schicksale sind der Öffentlichkeit kaum bekannt. Wie das von Nico R., dem einstigen Auszubildenden der Sparkasse in Zwickau. Er war am Mittag des 5. Oktober 2006 in der Filiale in der Kosmonautenstraße, als ein maskierter Mann hereinstürmte, mit einer Waffe fuchtelte und Geld verlangte. Der Täter sei handgreiflich geworden „und schlug einer Kollegin mit einem Ventilator auf den Kopf“, erinnert sich Nico R., als er am Mittwoch im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München als Zeuge aussagt. Und er schildert, was der Bankräuber ihm antat.

„Er kam auf mich zugelaufen und sagte, wenn der Chef in drei Sekunden nicht da ist, knall ich dich ab“, die Stimme von Nico R. klingt hastig. Dann habe der Täter ihm kurz den Rücken zugewandt. „Ich versuchte, ihn zu überwältigen“, sagt Nico R. Er sei dem Räuber auf den Rücken gesprungen, „ich wollte ihn zu Boden bringen“. Doch der Täter reagierte blitzschnell. „Mit den Worten, bist du verrückt geworden, hat er nach hinten geschossen“, Nico R. stockt. „Dann hat er die Halle verlassen.“ Erst da realisierte der Auszubildende, dass er schwer verletzt war. „Ich griff mir an den Bauch und hatte Blut an den Händen.“ Das Projektil hatte den Körper durchschlagen. Nico R. überlebte nur mit viel Glück. Und er leidet noch heute unter den Folgen der Tat.

Der Bankräuber war mutmaßlich Uwe Böhnhardt. Der NSU-Terrorist versuchte es alleine, bei den zehn Überfällen zuvor hatte sein Kumpan Uwe Mundlos mitgewirkt. Trotz oft üppiger Beute fürchtete die Terrorzelle offenbar, bei weiteren Auftritten als Duo in Bankfilialen sei die Gefahr zu groß, die Polizei könnte ihnen, den untergetauchten Neonazis aus Jena, auf die Spur kommen. Doch Böhnhardt allein scheiterte, trotz seiner Brutalität.

Er hatte in der Sparkasse nicht nur auf Nico R. gefeuert und einer Angestellten den Tischventilator ins Genick gehauen. Böhnhardt schoss auch in die Richtung von Mitarbeitern, die in den Küche der Filiale flohen. Ein Kunde drückte ihm jedoch gerade noch rechtzeitig den Arm hinunter, die Kugel landete im Fußboden. Als Böhnhardt begriff, dass sich der Tresor für ihn so schnell nicht öffnen würde, rannte er hinaus, ohne einen Euro Beute. An der Straße hielt er noch einem Passanten die Waffe an den Kopf. Dann war Böhnhardt weg.

Der Sparkassen-Azubi lag eine Woche auf der Intensivstation

Der Passant, ein Arzt, war ein Kunde der Sparkasse. Kurz vor dem Überfall hatte er die Filiale verlassen. Der Arzt hörte jedoch die zwei Schüsse. Nachdem der herauslaufende Räuber ihn mit der Pistole bedroht hatte und dann verschwand, ging der Arzt sofort in die Sparkasse zurück, um seine Hilfe anzubieten. Sie wurde dringend gebraucht. Er spritzte dem blutenden Nico R. eine Infusion und gab ihm eine Tablette gegen die Schmerzen. Dann kam auch schon der Krankenwagen.

Er habe eine Woche auf der Intensivstation gelegen, sagt Nico R. Ihm sei die Milz entfernt worden. Nach der Operation sei er lange krankgeschrieben gewesen. Aber er wollte seine Ausbildung bei der Sparkasse beenden. Doch es ging nicht. Nico R. spricht von „Arbeitsunfähigkeiten“ und sagt dann, „ich habe einen psychischen Schaden von zehn Prozent, als anerkannte Unfallfolge“. Er nennt Angstgefühle und Schlafstörungen, außerdem litt er nach Entfernung der Milz an Infekten. Doch die Tat wirkte noch schlimmer.

Auch eine ehemalige Sparkassen-Kollegin ist traumatisiert

Nico R. ließ sich umschulen zum Tischler. „Aber wegen der Operationsnarbe konnte ich dauerhaft nicht so schwer heben, wie gedacht“, sagt er. Nur bis zu 20 Kilo. Als Tischler konnte er nicht arbeiten. Nico R. sitzt heute in einem Büro.

Eine ehemalige Kollegin von ihm aus der Sparkasse ist offenbar auch traumatisiert. „Der Täter hat gebrüllt, wir haben gedacht, der ist auf Drogen, die Schreie“, sagt Danielle G. mit zitternder Stimme. Sie wurde von dem Räuber mit der Waffe bedroht. „Es ist schwer zu verkraften, wenn man eine Pistole an den Kopf gehalten bekommt“,  die Zeugin weint. Ein Justizwachmeister eilt herbei und gibt ihr Tempotücher.

Auf der Tribüne im Gerichtssaal A 101 sind nicht allzu viele Journalisten zu sehen. Der Bankraub vom 5. Oktober 2006 ist nicht so spektakulär wie die zehn Morde und die zwei Sprengstoffanschläge, die der NSU verübt hat. Es ist an diesem Mittwoch auch nicht zu erwarten, dass Zschäpe ihre Einlassung fortsetzt oder ein anderer Angeklagter redet.

Dennoch ist der 261. Verhandlungstag einer, an dem die ganze Dimension des Schreckens spürbar ist, über die Tötungsverbrechen und Explosionen hinaus. Der NSU-Terror hat auch Menschen getroffen, die gar nicht ins rassistische Feindbild der Neonazis passten, aber bei den Raubüberfällen auf 14 Bankinstitute und einen Supermarkt mit den Tätern konfrontiert wurden. Das vergisst niemand. Und selbst jahrelanges Verdrängen nützt nichts mehr, wenn die Zeugen in München aussagen müssen.

Sie habe fünf Jahre nach dem Überfall „die Unterlagen alle weggeschmissen, weil ich einen Schlussstrich ziehen wollte“, sagt Danielle G. und stockt. Wie ihre Kollegen, außer Nico R., hat sie in der Filiale weitergearbeitet. Es gab ein Gespräch mit einem Psychologen, dann hat das Team „über das Reden miteinander das Geschehen verarbeitet, das war für uns eine gute Hilfe“. So wurde das Trauma gedimmt. Weg ist es nicht.

Beate Zschäpe zeigt das gewohnte Pokerface, als Nico R. und Danielle G. aussagen. Auch die Mitangeklagten Ralf Wohlleben, André E. und Holger G. wirken unberührt. Nur Carsten S., der zu Beginn des Prozesses unter Tränen ein umfassendes Geständnis abgelegt hat, schaut bedrückt.

Die Bundesanwaltschaft wertet die Tat als versuchten Mord

Für Zschäpe könnte der Überfall in Zwickau unangenehme Folgen haben. Die Bundesanwaltschaft wertet die Tat als versuchten Mord in Tateinheit mit versuchtem besonders schweren Raub. Und wie bei allen anderen Delikten des NSU gilt Zschäpe als Mittäterin. Diesen Verdacht hat die Angeklagte möglicherweise selbst noch verstärkt. In ihrer Einlassung, die sie im Dezember begann, hat Zschäpe zugegeben, „den finanziellen Vorteil der Raubüberfälle“ akzeptiert zu haben.

Ohne das erbeutete Geld, insgesamt mehr als 600.000 Euro, hätten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt die fast 14 Jahre im Untergrund nicht durchhalten können. Zschäpe müsste schon damals aber auch bewusst gewesen sein, dass mit dem Geld auch die von ihr angeblich abgelehnten Morde und Sprengstoffanschläge finanziert wurden. Dazu hat sich die Angeklagte bislang nicht geäußert. Auch nicht dazu, dass Böhnhardt und Mundlos nach der Pleite vom 5. Oktober 2006 in Zwickau nur noch Banken jenseits von Sachsen überfielen.

Nach den Aussage der Zeugen zum Überfall in Zwickau gab der Vorsitzende Richter Manfred Götzl noch Beschlüsse bekannt, die mehrere Nebenklage-Anwälte ärgern dürften. Sie hatten beantragt, zu der umstrittenen Schredder-Aktion im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) Zeugen zu hören und Akten einsehen zu können. Doch der Strafsenat hält das für überflüssig, die Anträge sind abgelehnt.

Kurz nach dem Ende des NSU im November 2011 hatte bekanntlich ein Referatsleiter des BfV angeordnet, Akten zu mehreren V-Leuten mit Bezug zur rechten Szene in Thüringen zu vernichten. Als die eigenmächtige Aktion im Juli 2012 bekannt wurde, trat der Präsident des Bundesamtes, Heinz Fromm, zurück. Das Münchner Gericht hat nun erneut deutlich gemacht, dass es sich für die Aufklärung von Fehlern in Behörden für nicht zuständig hält. Die Anwälte der Nebenkläger können jetzt nur noch auf den im vergangenen Jahr eingesetzten, zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages hoffen.

Zur Startseite