Polizeiwissenschaftler über umstrittene Einsätze: „Ein Organ, das so mächtig ist, muss ständig misstrauisch beäugt werden“
Zuletzt häuften sich Videos von Polizeieinsätzen, die angeblich unrechtmäßige Gewalt zeigen. Doch was dürfen Polizisten eigentlich?
Ein Video zeigt wie Polizisten auf einen jungen Mann am Boden eintreten. Auf einem anderen ist zu sehen, wie ein Beamter sein Knie auf den Nacken und Hinterkopf eines 15-Jährigen drückt. Die dokumentierten Fälle von Polizeigewalt scheinen sich zuletzt zu häufen.
Innerhalb von wenigen Tagen gingen fünf solcher Videos viral, führten zu Empörung in den sozialen Medien. Städtenamen werden auf Twitter zum Synonym für Polizeigewalt: Düsseldorf, Frankfurt, Hannover, Hamburg, Ingelheim. Nicht zuletzt, weil sie an den Tod von George Floyd in Minneapolis erinnern.
Sie werfen auch die Frage auf, was Polizisten bei Einsätzen dürfen, welche Techniken zum „Brechen von Widerstand“ sind zulässig? Und: Wie weit geht das Gewaltmonopol des Staates?
„Gewalt in ihrer Ausführung sieht nie schön aus“, sagt Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg. „Gepaart mit omnipräsenten Smartphone-Kameras, entsteht so im Netz eine neue Wirklichkeit, die den Eindruck erweckt, die Polizeigewalt würde zunehmen und brutaler werden.“
Eine Zunahme von Polizeigewalt konnte Behr jedoch nicht feststellen, sie werde lediglich öfter dokumentiert. „Ich sehe derzeit eher die Polizei in der Defensive“, sagt der Polizeiwissenschaftler. Doch das sei auch gut so: „Ein Organ, das so mächtig ist und sogar Gewalt anwenden darf, muss ständig von Politik und Gesellschaft misstrauisch beäugt werden.“
Düsseldorf: Das Knie im Nacken
Einer der besonders kontroversen Fälle war folgender: Zwei Polizeibeamte fixieren einen Jugendlichen, der Eine hält seinen Rumpf und seine Arme fest, der Andere drückt sein Knie auf den Nacken und Hinterkopf des Jungen. Mindestens ein weiterer Polizist steht daneben, während Menschen in der Nähe filmen und die Beamten lautstark auffordern, aufzuhören.
Das Video, das diese Szenen zeigt, entstand am Samstag, den 15. August, gegen 19.30 Uhr auf der Neustraße in der Altstadt in Düsseldorf.
Einer Pressemitteilung der Polizei Düsseldorf zufolge wurden die Einsatzkräfte zuvor zu einem nahe gelegenen Restaurant gerufen, weil angeblich eine Gruppe von rund zehn Leuten dort randalieren würde. Der 15-Jährige, der zum Schluss von den Beamten auf den Boden gedrückt wurde, soll nicht an den Randalen beteiligt gewesen sein, aber das Einschreiten der Polizei gestört haben. Der Jugendliche soll die Beamten angepöbelt und attackiert haben, worauf sie ihn zu Boden brachten und zur Identifizierung mit auf die Polizeiwache nahmen.
Die Polizei erstattete Anzeige gegen den Jugendlichen wegen Beleidigung, Widerstands und eines tätlichen Angriffs. Bei der Staatsanwaltschaft Düsseldorf gingen zugleich mehrere Anzeigen gegen den Polizisten ein.
„In den meisten Fällen geht bei solchen Einsätzen immer etwas schief“, sagt Polizeiwissenschaftler Behr. „Diese Art der Gewaltanwendung, wie wir sie in Düsseldorf gesehen haben, ist eins der letzten Mittel.“ Dennoch sei sie legitim.
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Gleichzeitig wachse in so einer Situation die Möglichkeit, dass ein Fehler gemacht werde, „der eine illegale Teilhandlung auslöst“. Das Knie auf dem Nacken – das ist eine geläufige Technik in der Ausbildungspraxis. Der Unterschied sei jedoch, dass in der Ausbildung Kollegen als Sparring-Partner fungierten.
„In der Realität wehrt sich der Täter, es sind viele Emotionen im Spiel und es kann leicht passieren, dass das Knie ausrutscht und etwa auf den Hals drückt“, so Behr. „Das wäre fatal und ist absolut nicht legitim.“
Hamburg: „Ich krieg keine Luft, ich krieg keine Luft.“
Die Festnahme in Hamburg erinnert wohl am meisten an den Fall von George Floyd. Auf einem Twitter-Video ist zu sehen, wie sieben oder acht Beamte in Hamburg einen Jugendlichen niederringen, der vor einer Wand steht mit den Graffiti-Schriftzügen „I can't breathe“ (ich kann nicht atmen) - in Anlehnung an Polizeigewalt in den USA.
In einer längeren Fassung des Videos ist zu erkennen, dass der Jugendliche sich zuvor gegen zwei Polizistinnen und zwei Polizisten heftig gewehrt hat, und sie immer wieder kräftig zur Seite schubst. Ein Beamter zückt einen Schlagstock. Dann rückt Verstärkung an.
Der groß gewachsene junge Mann, der nach Angaben von Zeugen 15 Jahre alt sein soll, wehrt sich weiter, ein Polizist schreit den jungen Mann wiederholt an: „Auf den Boden!“ Eine Zeugin ist zu hören, wie sie die Beamten auffordert, ruhig zu bleiben. Schließlich überwältigen sie den Jugendlichen und halten ihn am Boden fest. Auf dem Video ist zu hören, wie er offenbar ruft: „Ich krieg keine Luft, ich krieg keine Luft.“ Die Zeugin ruft: „Was tut ihr ihm an, er kriegt keine Luft.“
Die Polizei teilte am Dienstagmittag mit, der Vorfall habe sich am Vortag ereignet, als ein Stadtteilpolizist den Jugendlichen habe kontrollieren wollen, der ihm in den vergangenen Tagen bereits mehrfach aufgefallen gewesen sei. Dieser habe mit einem Elektro-Roller wiederholt verbotswidrig den Gehweg benutzt. Der Jugendliche kam demnach der Aufforderung sich auszuweisen nicht nach. Der Zehntklässler sagte später der „Bild“-Zeitung: „Ich weiß, dass ich den Beamten provoziert hab.“
Letztlich sei Pfefferspray eingesetzt worden, so die Polizei. Danach sei es den Beamten gelungen, den Jugendlichen auf den Boden zu halten und zu fesseln. „Dabei wurden die Einsatztechniken so kontrolliert, dass es dem Jugendlichen jederzeit möglich war, zu atmen“, hieß es.
Die Polizei betonte, das Video zeige deutlich, dass die Beamten gewillt gewesen seien, den Widerstand mit einfacher körperlicher Gewalt zu beenden und den Jugendlichen zu Boden zu bringen. „Solche Einsätze erzeugen häufig Bilder, die Fragen aufwerfen.“ Der Einsatz werde vom Dezernat Interne Ermittlungen überprüft.
Rafael Behr sieht bei diesem Fall jedoch nicht, dass Polizisten illegal Gewalt angewandt hätten. „Ich sehe ein paar unkoordinierte Polizisten, die versuchen einen 15-Jährigen zu bändigen.“
Frankfurt: Mehrere Tritte in den Rücken
In Fall von Frankfurt sei die Situation jedoch anders, so Behr. Von der Festnahme im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen existieren zwei Videos. Das erste wurde am Sonntag auf Twitter veröffentlicht und zeigt, wie mehrere Polizisten einen Mann, der bereits auf dem Boden lag, festhalten. Einer der Beamten schlägt den 29-jährigen Mann erst mit der Faust und tritt ihm daraufhin zwei Mal in den Rücken.
Der Festgenommene scheint sich zu wehren, während die Einsatzkräfte ihn mit Handschellen fesseln wollen. Ein anderer Beamter tritt kurz darauf ebenfalls auf den am Boden liegenden Mann ein.
Am folgenden Dienstag erschien ein zweites Video von dem Einsatz, das zeigt wie einer der Beamten den Festgenommenen attackiert, als dieser schon im Polizeiauto sitzt. Der Polizist hält sich am Dach des Autos fest und tritt ins Innere des Wagens.
Laut der Polizei Frankfurt hatte die Polizei am Sonntagmorgen gegen 5.30 Uhr eine Gruppe alkoholisierter Männer des Platzes verwiesen. Die Beamten sollen beleidigt worden sein, der anschließend Festgenommene soll die Beamten bespuckt haben. Als die Polizisten ihn festnehmen wollten, leistete der 29-Jährige Widerstand. Also brachten die Beamten ihn zu Boden.
„Die Tritte des Polizisten sind definitiv eine illegale Teilhandlung, das sieht man im Übrigen daran, dass seine Kollegen ihn schließlich zurückhalten“, sagt Behr.
Nach der Auswertung des zweiten Videos sind inzwischen drei Polizisten vom Dienst suspendiert worden. Ihnen wurde das Führen der Dienstgeschäfte verboten, wie das Polizeipräsidium Frankfurt mitteilte. In dem Fall geht es um den Polizisten, der den am Boden liegenden Festgenommenen getreten haben soll.
Gegen den ersten Beamten war bereits ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden, die zwei weiteren kamen nun nach Auswertung des zweiten Videos hinzu. Dieses Video sei von besserer Qualität, die Handlungen und die Festnahme eines Mannes im Stadtteil Sachsenhausen seien darauf klarer und deutlicher als auf einem ersten Video zu erkennen.
Hannover: Ein Schlag ins Gesicht
Ein Video zeigt, die Polizei am Hauptbahnhof in Hannover einen Mann zu Boden bringt und festnimmt, rundherum herrscht Tumult, Menschen rennen durchs Bild. Als eine Frau sich einmischte, schlug ein Beamter ihr ins Gesicht. Rund um die Szene versammeln sich viele Schaulustige.
Ein Mann, der ebenfalls in der Nähe steht, zeigt aggressives Verhalten gegenüber den Beamten, es kommt zum Gerangel zwischen einem Polizisten und dem Außenstehenden. Daraufhin schaltet sich ein weiterer Polizist ein und bringt den Mann zu Boden.
Nach Angaben der Polizei Hannover wollten die Einsatzkräfte einen 31-jährigen Mann festnehmen, der im Verdacht stand, einer 14-Jährigen die Handtasche geklaut zu haben. Daraufhin hätten sich mehrere Jugendliche eingemischt, die Polizisten beleidigt und angegriffen – einer der Beamten wurde leicht verletzt. Die Beteiligten ignorierten einen Platzverweis, den die Polizisten erteilten.
Der mutmaßliche Dieb wurde anschließend in eine Klinik gebracht, weil eine Eigen- und Fremdgefährdung nicht ausgeschlossen werden konnte. Er war zuvor als vermisst gemeldet worden. Insgesamt sprach die Polizei eigenen Angaben zufolge bei der Festnahme 200 Platzverweise aus. Bei einem 16-jährigen Umstehenden fand die Polizei wohl einen Schlagstock und ein Springmesser.
Ingelheim: Pfefferspray und Schlagstöcke gegen Demonstrierende
Am Samstag demonstrierten 24 Anhänger der rechtsextremen Kleinstpartei „Die Rechte" in Ingelheim in Rheinland-Pfalz zum Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß. Zur Gegendemonstration versammelten sich rund 1200 Personen, die Polizei versuchte die beiden Demo-Gruppen auseinanderzuhalten.
Nach der Demonstration erhoben Teilnehmer der Gegenkundgebung massive Vorwürfe gegen die Polizei, unter anderem, weil die Polizei eine Gruppe von Demonstranten in einem Bahnhofstunnel zusammengedrängt und dabei massiv Schlagstöcke und Pfefferspray eingesetzt haben soll.
Während der späteren mehrstündigen Einkesselung eines Teils der Demonstranten habe es keine Möglichkeit gegeben, die Betroffenen mit Wasser zu versorgen. Auch Toilettengänge seien nicht oder nur unter entwürdigenden Umständen möglich gewesen. Insgesamt sollen mehr als 100 Menschen verletzt worden sein.
Nach Darstellung der Polizei hätten unmittelbar nach der Ankunft 150 bis 170 Störer aus den Reihen der Gegendemonstranten versucht, Absperrungen zu überwinden. Die Polizei habe schließlich entschieden, die teilweise gewaltbereiten Störer festzusetzen. Gewalt sei nicht von der Polizei ausgegangen. Vielmehr seien Beamte mit Stöcken und Regenschirmen geschlagen, getreten und als Nazis beschimpft worden.
Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft Mainz gegen sechs Polizeibeamte. Gegen vier namentlich bekannte Polizisten laufe ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung im Amt, sagte der Mainzer Polizei-Vizepräsident Thomas Brühl am Mittwoch im innenpolitischen Ausschuss des Landtags. Ein weiterer Beamter werde beschuldigt, ohne Rechtfertigung Pfefferspray eingesetzt zu haben. Einem namentlich noch nicht bekannten Beamten werde vorgeworfen, eine 16-Jährige Demonstrantin geschlagen zu haben.
Außerdem seien bislang fünf Dienstaufsichtsbeschwerden eingegangen. Die Auswertung des umfangreichen Videomaterials von der Demonstration am vergangenen Samstag dauere noch an. Innenminister Roger Lewentz (SPD) versicherte erneut, die Vorwürfe gegen die Einsatzkräfte würden gründlich aufgeklärt.
Warum kritisiert die Polizeigewerkschaft die Einsatzmethoden?
In allen Fällen sind die entstandenen Bilder unschön und sie haben Kritik an den Einsatzmethoden der Polizei zur Folge. Die Polizeigewerkschaft (GdP) hat nach der Festnahme in Düsseldorf, wo ein Beamter einen 15-Jährigen mit seinem Knie am Boden fixierte, eine Reform polizeilicher Methoden gefordert.
Der GdP-Landesvorsitzende Michael Mertens sagte der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ , er bezweifele, dass die Technik, Menschen mit dem Knie auf dem Kopf am Boden zu fixieren, noch zeitgemäß sei. „Das muss verändert und angepasst werden.“
„Grundsätzlich sind innerpolizeiliche Diskussionen über legitime Gewaltanwendung positiv zu bewerten", sagt Polizeiwissenschaftler Behr – er sieht den Vorstoß der GdP jedoch kritsch: „Denn die Gewerkschaften fordern schon seit einiger Zeit noch mehr Werkzeuge für 'Schmerzufügung aus der Distanz', zum Beispiel durch sogenannte 'Taser'.“ Taser sind Elektroschockpistolen, die eingesetzt werden können, wenn das Pfefferspray nicht weiterhilft, der Einsatz einer Pistole aber unangemessen oder zu riskant ist.
In Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen wurden Streifenpolizisten schon testweise mit Tasern ausgestattet, sie sollen deeskalierend wirken. Kritiker verweisen auf hunderte Todesfälle in den USA, wo Taser zur Standardausrüstung für Polizisten gehören. In einer Situation wie in Düsseldorf wäre wahrscheinlich ein Taser benutzt worden, vermutet Behr.
„Mir scheint, als sei das eigentlich eine Forderung nach noch mehr Überwältigungsmitteln." Die Polizei brauche aber nicht noch mehr Waffen, sondern mehr Kompetenz in Sachen Deesklation, so Behr. „Aber dafür scheint es im Moment keine große Nachfrage zu geben." (mit dpa / AFP)
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