Staatsbesuch: Barack Obama in Berlin: Ein historischer Besuch
Das Essen des Gala-Dinners, der letzte Punkt im dichtgedrängten Terminkalender des US-Präsidenten, ist verspeist, die "First Family" hat das Land bereits wieder verlassen. In den 25 Stunden, die der Besuch dauerte, gab es Küsschen links und rechts, beherzte Griffe um die Hüfte - und vor allem viel Geschichte.
Geschichte, sagt man, wiederholt sich nicht. Aber vielleicht kann sie noch mal kurz zurückkehren, wenigstens für diesen Tag an diesen Ort? Barack Hussein Obama steht auf der Tribüne mitten auf dem Pariser Platz, ein lockerer, mit seinen 51 Jahren immer noch jungenhaft wirkender Mann. Er wird gleich eine Rede halten. Er weiß, was das heißt. War ja kein Zufall, dass er vor fünf Jahren als Kandidat schon einmal genau an dieser Stelle sprechen wollte. Damals war die Landesherrin dagegen. Diesmal steht sie im orangegelben Blazer neben ihm. Wenn der 44. Präsident der Vereinigten Staaten vor dem Brandenburger Tor doch noch Geschichte schreiben will, dann jetzt.
Wobei er natürlich für bundesdeutsche Verhältnisse auch so schon historisch genug ist, dieser erste Besuch Obamas als Präsident in Berlin. Jedenfalls besagt das schon am Morgen die beseelte Miene des Herrn Bundespräsidenten. Joachim Gauck empfängt den Gast als Erster, das sieht das Protokoll so vor. Nicht vorgeschrieben ist hingegen, dass sich die beiden nach dem militärischen Zeremoniell wie alte Schulfreunde um Hüfte und Schulter fassen, als sie im Park von Schloss Bellevue noch kurz mit fahnenschwingenden Zwölfjährigen plaudern. Hinterher wird zu erfahren sein, Obama habe sich vor allem für das Schicksal des Bürgerrechtlers Gauck interessiert und bei der Gelegenheit profunde Kenntnisse der DDR-Historie gezeigt. Geschichte ist also gleich präsent.
Als sich Obama mit kurzem Händedruck verabschiedet, schwitzen auf dem Pariser Platz die ersten der rund 4500 geladenen Gäste schon in der prallen Sonne. Warten, warten, warten ist der Preis für alle, die dem Präsidenten nahekommen wollen. Die 150 Schüler der John-F.-Kennedy-Schule sind kurz nach zehn Uhr am Kontrollpunkt nahe dem Bahnhof Friedrichstraße. Auf dem Platz werden später ein paar der Gäste einfach umfallen. Heinz Buschkowsky hat das kommen sehen und lieber gleich abgesagt: Drei Stunden Warten ohne Schatten sei nichts mehr in seinem Alter, hat der Neuköllner Bürgermeister wissen lassen. Die zwei Wasserspender auf dem ganzen Platz köcheln milde. Selbstgekühltes mitbringen ist nicht, sorry, Security!
Die Sicherheit diktiert den Tag in der Stadt. Hubschrauber in der Luft, Absperrgitter, 8000 Polizisten. Wer durchs Fenster im Bahn-Tower am Potsdamer Platz einen Blick auf das Ritz Carlton gegenüber wirft, kriegt nicht das Präsidentenpaar zu sehen, sondern das Zielfernrohr eines Scharfschützen. In den Bundestag kommt man nur noch hintenrum und unterirdisch. Immerhin hat die Verwaltung die Adresse rumgemailt, wo alle die Pechvögel, die ihr Fahrrad am falschen Ort angeschlossen haben, es bei der Polizei abholen können.
Was für ein Aufwand für 25 Stunden! Eigentlich scheint das überflüssig geworden in Zeiten, in denen jeder Enkel rund um die Welt mit der Oma skyped. Wenn Barack Obama und Angela Merkel etwas zu besprechen haben, schalten sie eine Videokonferenz. Aber Politik ist mehr als Sachliches. Politik ist das Reich der Gesten und Symbole. Welche Stadt wüsste das besser als Berlin. Und welcher Staatsmann wüsste das besser als Obama.
Also noch einmal: Geschichte. Auf dem Pariser Platz findet die sonst nur als Disneyland statt. Uniformierte spielen Kalten Krieg für Touristen, die die Mauer suchen oder in fremden Zungen unsicher nach „Führerbunker?“ fragen. Doch noch die Farce zeigt, was für ein aufgeladener Ort dies geblieben ist im Gedächtnis der Welt. Er hat ikonografische Bilder geschaffen. Ronald Reagan auf der anderen Seite, der Mr. Gorbatschow zuruft, die Mauer zu öffnen – „Tear down this wall!“ Und wer John F. Kennedys 50 Jahre alte „Ich bin ein Berliner“-Rede im Internet im Original nachhören will, stößt auf „Kennedy speech at Brandenburg Gate“. Das ist geografisch so falsch wie symbolisch richtig. Das Tor hinter der Mauer war das Bild für die Spaltung der Welt. Das Tor in Obamas Rücken ist das Bild… ja, wofür?
Aber bis zur Antwort ist noch Zeit. Erst mal rollt die schwarze Superpanzerpräsidentenlimousine auf den Vorplatz des Kanzleramts. Die Begrüßung wirkt wie ein Guten Tag zwischen alten Kumpanen. Küsschen links, Küsschen rechts, ein burschikoser Händedruck, ein burschikoses „Hi!“, dann zieht die Kanzlerin ihren Gast plaudernd zur Tür hinein. Was sollen sie auch groß posieren – man hat sich erst gestern gesehen beim G-8-Gipfel in Nordirland. Wenn hier überhaupt etwas zelebriert wird, dann eine freundliche Arbeitsbeziehung zwischen dem mächtigsten Mann der Welt und der mächtigsten Frau Europas.
In das Verhältnis zwischen Obama und Merkel ist ja über die Jahre einiges hineingeheimnist worden: dass sie mit ihm fremdele, wollen viele wissen, und dass umgekehrt er ihr immer noch übel nehme, wie sie ihn vor fünf Jahren an die Siegessäule verwies …
Dabei ist es im Grunde recht einfach. Merkel gilt als streng Kopfgesteuerte, was aber in einem Punkt nicht stimmt: Sie hat in kleinem Kreis ein präzises Gespür für ihre Gegenüber. Meist weiß sie schnell, wie sie Bush und Sarkozy und Berlusconi und wie sie alle heißen zu nehmen hat in all ihrem Ehrgeiz, ihren Eigenarten und ihren kleinen Eitelkeiten.
Bei Obama hat dieses Radar lange nicht funktioniert. Halb war ihr der Messias aus Illinois unheimlich, halb sein Messianismus selbst, der Erwartungen schürte, die gar nicht zu erfüllen waren. Wenn sie den Obama von heute sieht, wird sie sich still denken: recht gehabt.
Aber es gehört zum ganzen Bild auch jene Angela Merkel, die in kleinem Kreis mal sinngemäß gesagt hat, dass wir, also Europa, also die Welt, uns diesen Präsidenten erhalten müssten, weil wir einen besseren so schnell nicht wiederkriegten. Es gehört dazu die Freiheitsmedaille, die Obama der Frau aus dem unfreien Osten verlieh. Bei der Pressekonferenz am Mittag mit Merkel erinnert er daran. Dass er selbst kurz vor der Bundestagswahl kommt, lässt erst recht den Schluss zu: Nachtragend sieht anders aus. Wahrscheinlich mögen sie sich sogar persönlich ganz gerne. Die Bilder aus dem Kanzleramt zeigen Obama auf der Seite des Kabinettstischs, wo sonst die Chefin sitzt – eine kleine galante Geste. Das „Du“ ist längst selbstverständlich.
Trotzdem bleibt eine Distanz. Es ist die Distanz zwischen der Weltmacht und einer Regionalmacht in einer Gegend, die für den Lauf der Geschichte nicht mehr ganz so wichtig ist wie einst – wirtschaftlich ein Faktor, politisch anderthalbte Liga, militärisch schwer einkalkulierbar. Es ist zugleich die Distanz zwischen zwei Politikern, die um die Interessen ihrer Länder wissen und sie zu vertreten haben – die gemeinsamen genauso wie die widerstreitenden.
Von Letzteren gibt es einige. Als Merkel mit ihrem Gast nach dem offiziellen Gespräch vor die blaue Pressewand im Kanzleramtsfoyer tritt, fragen vor allem die deutschen Journalisten danach: das US-Abhörprogramm Prism, Guantánamo, der Drohnenkrieg, der Streit um Sparen oder Gelddrucken in der Finanzkrise. Die Fragenden spiegeln das veränderte Verhältnis der Deutschen zu Obama wider. 2008 an der Siegessäule haben ihm 200 000 zugejubelt wie einem zweiten Befreier. Nichts ist so nachhaltig wie enttäuschte Hoffnungen. „Yes we can“? Das Internet spottet nur noch: „Yes we scan“ – jau, wir hören ab.
Auf diesen Punkt geht Obama übrigens sehr ausführlich ein. Merkel hatte ihn einführend erwähnt, auf gut merkeldiplomatisch: „Wir haben die Fragen des Internets erwähnt, die aufgekommen sind …“, hat sie angefangen, und dass man die Balance wahren müsse zwischen Bürgerrechten und Sicherheit, und dass es noch ein paar Fragen weiter zu bereden gebe.
Obama geht ins Detail. Nein, es stimme nicht, dass der US-Geheimdienst massenweise Mails mitlese und Telefonate abhöre. Aber wenn zum Beispiel auf dem Anwesen in Pakistan, in dem Osama bin Laden starb, die US-Spezialeinheit ein Handy gefunden hätte mit einer Telefonnummer in New York, dann habe man sich den Angerufenen näher angesehen. Mit richterlicher Erlaubnis. Alles rechtsstaatlich korrekt. Aber vor allem: „Wir wissen konkret, dass es mindestens 50 Bedrohungen gab, die beseitigt worden sind. Man hat Leben gerettet.“
Auf dem Pariser Platz ist es langsam voll geworden. In den vorderen Reihen trudelt die Prominenz ein, Minister, Parteispitzen, Peer Steinbrück. Der SPD-Kanzlerkandidat spricht nachher auch noch mit Obama. Etwa 40 Minuten dauert das Treffen, bei dem beide, wieder in Schlips und Kragen, über das amerikanische Spähprogramm und die europäische Finanzkrise sprechen. Tagsüber trägt man hemdsärmelig, sogar First Ehemann Joachim Sauer; Thomas de Maizière schützt sich mit Strohhut. Nur Hans-Peter Friedrich trotzt der Hitze im Innenministersakko. Was ihn nicht hindert mitzuwippen bei David Garretts Violinversion von „Born in the USA“ im Vorprogramm.
Und dann also: Geschichte! Klaus Wowereit erinnert an die deutsch-amerikanischen Höhepunkte. Merkel erinnert an das Ende der DDR. Ein bisschen wird sogar sie pathetisch: „Ich heiße dich willkommen bei Freunden!“
„Hallo Berlin“, gibt Obama trocken zurück. Vor ihm auf der Tribüne steht eine schussfeste Scheibe. Hinter ihm verdeckt ein Planenzaun den Durchblick auf die leer gefegte Straße des 17. Juni wie ein billiges Remake der Mauer von einst.
Barack zieht das Sakko aus. Unter Freunden, sagt er, muss man ja nicht so förmlich sein. Aber es wird keine lockere Rede werden. Staatsmännischer ist sie, ernster, weniger vom Aufbruchston des Wahlkämpfers getrieben – und doch: ein Echo jener Ansprache vor fünf Jahren, die da hinten an der Siegessäule Beifallsstürme auslöste. Sogar das konkrete Versprechen, weitere Schritte auf Russland zuzugehen im Bemühen um eine Welt ohne Atomwaffen, hat er damals schon abgegeben. Da hat es bloß keiner groß vermerkt, weil der Mann von damals noch machtlos war. Jetzt sagt er, er wolle die Potenziale des Todes um ein Drittel vermindern. Richtig viel wäre selbst das nicht, 1000 Sprengköpfe statt der 1550, die der letzte russisch-amerikanische Abrüstungsvertrag als Obergrenze vorsieht.
Aber ist nicht der Visionär Obama sowieso längst abgelöst durch einen Mann der kleinen Schritte? Einen, der sich gar nicht mehr so sehr unterscheidet von seiner Gastgeberin, außer dass die bisher keine Gesundheitsreform durchgeboxt hat und noch nie so schöne Reden halten konnte? Ob er heute, Amt hin, Titel her, noch den Willen und die Macht hat, die Welt zu verändern? Es ist die Frage, die hinter der Enttäuschung des Siegessäulen-Obamaniacs von einst steckt. Als der Präsident auf dem Pariser Platz vor das Mikrofon tritt, sammeln sich am alten Ort seines Triumphs Demonstranten gegen Prism, das Internet-Spähprogramm. Der gute Hegemon, als der Obama einmal galt, ist bei vielen Deutschen längst wieder dem älteren Bild von jenem Amerika gewichen, das seine Interessen in der Welt mit Soldatenstiefeln und Internetpolizisten durchsetzt.
Obama war vermutlich nie ein Maniac seiner selbst. Aber er besteht darauf, dass eine Utopie von „Frieden in Gerechtigkeit“ nicht ganz und gar von der Realpolitik widerlegt ist. Hat nicht genau hier, wo er jetzt steht, ein welthistorisches Wunder stattgefunden? „Die Offenheit hat gesiegt, die Toleranz und der Frieden, hier in Berlin!“ Und dann zählt er alles auf, was immer noch nicht in Ordnung ist in der Welt. Die Ungleichheit. Der Hunger. Die Arbeitslosigkeit. Das Leben ohne Hoffnung. Die Diskriminierung und Anfeindung von Menschen anderen Glaubens ebenso wie der Homosexuellen. Solange es Ungerechtigkeit an einem Ort der Welt gibt, gibt es keine Gerechtigkeit in der ganzen Welt. Frieden in Gerechtigkeit, „peace with justice“, darauf hinzuarbeiten sei die Aufgabe eines jeden Weltbürgers.
Die Leitfigur der Rede ist ein Zitat. Es stammt aus jener anderen Ansprache, die John F. Kennedy an die belagerte und ummauerte Stadt richtete. Merkel hat ihm die Tonkonserve davon als Gastgeschenk auf einer historischen Schallplatte überreicht. Ob sie im Weißen Haus noch Plattenspieler haben? Egal, Obama kennt den Text. „Ick bin ein Berliner“ – er ahmt das berühmte Zitat nach. Die Zuhörer wollen schon losklatschen, weil sie natürlich auf die lokalpatriotische Anspielung gehofft haben, aber er nutzt sie nur als Mittel zum Zweck. Sicher, dieser Satz schalle durch die Jahrhunderte. Aber Kennedy habe noch mehr gesagt, Wichtigeres: „Richtet eure Blicke voraus auf den Tag, an dem Frieden in Gerechtigkeit herrschen wird!“ Die Mauer, sagt Obama, ist Geschichte. „Aber wir müssen ebenfalls Geschichte schreiben!“
Das Auditorium applaudiert. Merkel und Wowereit klatschen. Als die drei abgehen, klapst Merkel Obama auf die Schulter. Na, das haste hinter dir, sagt die Geste. Das Publikum sucht den Schatten. Der Innenminister trägt sein schwarzes Sakko stoisch weiter. Guido Westerwelle verkündet, die Rede sei ein „großer Wurf“. Der Außenminister ist der Diplomatie verpflichtet. Aber Geschichte wiederholt sich nicht.
Robert Birnbaum