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Rote Protestschilder stehen vor jedem Ortseingang östlich der Stadt Erkelenz.
© dpa

Garzweiler II: Ein Dorf bereitet sich auf die Umsiedlung vor

Sie haben vieles nicht gemacht, was sie hätten machen wollen: ein neues Dach, schöne Fliesen im Bad. Seitdem sie wissen, dass der Tagebau Garzweiler II auch ihren Wohnort Keyenberg fressen soll, sitzt das Ehepaar Pisters zwar nicht auf gepackten Koffern – aber es fühlt sich so an.

Er sagt, er sei in Keyenberg geboren. Und Hans-Josef Pisters meint das genau so, er meint nicht, er sei im nächstbesten Krankenhaus geboren. Sondern eben hier. Zu Hause. In dem zweistöckigen Haus aus dunkelroten Klinkern in diesem kleinen Ort ganz im Westen Deutschlands. Da, wo die Maispflanzen hoch wie Basketballspieler stehen und die vielleicht dicksten Rüben Deutschlands im Boden stecken. Da, wo die Niers entspringt, und sich ein einziges Wäldchen über die platten Äcker erhebt. 1941 ist Hans-Josef Pisters in Keyenberg auf die Welt gekommen. Sterben wird er hier wohl nicht.

Denn Keyenberg liegt da, wo auch die Braunkohle liegt. Auf den Plänen des Energiekonzerns RWE existiert der Ort schon nicht mehr. Wo er sich befindet, ist ein riesiger Krater eingezeichnet.

Bis zum Jahr 2045 soll sich der Tagebau Garzweiler II noch ausbreiten. Tag für Tag graben sich die gigantischen Bagger in Richtung Keyenberg. In Richtung Hans-Josef Pisters’ Garten, mit der tollen Südlage. Dort sitzt er jetzt, unter der roten Markise, auf die eine energiegeladene Herbstsonne brennt, an seinem weißen Gartentisch, auf dem sein Mittagessen steht. Er blickt auf seinen Rasen. Nach einer Weile sagt er: „Die Bagger kommen so.“ Dabei lässt er die flache Hand in einem Halbkreis gegen den Uhrzeigersinn über seine Pizza schweben. Soll heißen: Die Tagebaukante nähert sich in einem Bogen von Nordwesten. „In zehn Jahren ist hier alles Loch.“

Das Loch hat sich in die Köpfe der Menschen gefressen, lange bevor es deren Häuser frisst. Seit Jahren treiben die Bagger die Gedanken der Anwohner vor sich her, vieles andere ist dabei verschütt gegangen. Pisters sagt: „Es gibt keine Familienfeier mehr, bei der die Umsiedlung nicht das Thema Nummer eins wäre.“

Der Tagebau gilt als Wirtschaftsmotor

Gerade machten mal wieder Gerüchte die Runde, RWE könnte doch früher aus der Braunkohle aussteigen, wegen der Energiewende. Keyenberg würde verschont bleiben. Aber die meisten hier wollen nicht mehr umsonst hoffen. Außerdem hat RWE längst dementiert.

Die Anwohner haben eine Fackelkette entlang der Tagebaukante gebildet, sie haben demonstriert, die Stadt Erkelenz, zu der Keyenberg gehört, hat geklagt. Ja, sie haben sogar die Grünen gewählt damals, hier am schwarzen Niederrhein, weil die versprochen hatten RWE zu stoppen. Aber selbst die grüne Umweltministerin Bärbel Höhn hat in zehn Jahren Amtszeit nichts gegen Garzweiler II ausrichten können. Der Tagebau gilt als nordrhein-westfälischer Wirtschaftsmotor, 1700 Arbeitsplätze, dazu kommen tausende Mitarbeiter in den Kraftwerken. Der größte Teil der Kohle, laut RWE bis zu 40 Millionen Tonnen jährlich, wird in diesen Kraftwerken verheizt.

Am Sonntag vor einer Woche wurde die Kirche im nahen Immerath entweiht, weil der Ort als Nächstes abgebaggert werden soll. Immerath hat es in die überregionalen Zeitungen geschafft, weil dort ein Mann wohnt, der bis vors Bundesverfassungsgericht gezogen ist, um sein Zuhause zu retten. Ein Urteil gibt es noch nicht, es wäre ohnehin zu spät.

7600 Menschen mussten schon wegziehen

Mehr als ein Dutzend Dörfer hat Garzweiler II schon geschluckt, 7600 Menschen mussten wegziehen. Bei Erkelenz sollen in den nächsten Jahren noch einmal 5000 dazukommen, einer davon ist Hans-Josef Pisters. Keyenberg mit seinen rund 900 Einwohnern, könnte eines der letzten Dörfer sein, die in diesem Land der Braunkohle geopfert werden.

Hans-Josef Pisters trägt ein gestreiftes Hemd, eine goldfarbene Uhr, die graugewellten Haare sind zurückgekämmt. Er ist ein Mann, der Sätzen eine Wichtigkeit verpassen kann, indem er sie genau so ausspricht, wie er sie ausspricht. Manchmal ergreift er dabei den Unterarm seines Gegenübers, rheinische Verbindlichkeit. Er war mal Ehrenbeamter, hatte das Siegel der Stadt Erkelenz im Keller, war Schiedsmann und beglaubigte Kopien. Er sagt, dass selbst die Vertriebenen aus Schlesien oder Pommern ihre Heimat noch besuchen könnten, auch wenn die jetzt in einem anderen Land liegt. „Ich werde in meinem Leben keine Heimat mehr finden, nur einen neuen Wohnort“, sagt er.

Die Bagger anhalten, der Wunsch regt sich selbst jetzt noch

So gut wie alle Dörfer östlich von Erkelenz haben zwei Ortsschilder. Ein gelbes mit dem jeweiligen Namen und ein rotes, auf dem immer dasselbe steht: „Ja zur Heimat, Stop Rheinbraun.“ 2003 ist der Energieversorger Rheinbraun mit RWE verschmolzen, neue Schilder haben die Protestierenden deshalb nicht aufgestellt. Wie der Konzern heißt, ist egal, wichtig ist die Botschaft, Pisters formuliert sie so: „Lasst das Zeug doch drin in der Erde! Wenn die Russen uns das Gas abdrehen, können wir da immer noch ran.“

Die Bagger anhalten, der Wunsch regt sich selbst jetzt noch, wo längst alles beschlossen ist. Denn da ist dieses Gesetz von 1937, welches das Bergrecht über bürgerliches Recht erhebt. Die Nazis wollten unabhängig von Energieimporten sein, zum Wohl des Vaterlands. Bis heute sieht man das so. Der Energieriese RWE muss nicht verhandeln, er hat das Recht auf seiner Seite. Es ist dieses Machtgefälle, das Pisters und den anderen den Mut ausgesaugt hat. Wut spürt man hier nirgends mehr, an ihre Stelle ist Resignation getreten.

Er wird 80 sein, wenn er sein neues Haus bezieht

2016 sollen – nach Immerath – auch die Keyenberger den Umsiedlerstatus bekommen, dann beginnen die Entschädigungsverhandlungen mit RWE, danach bleiben den Anwohnern noch ein paar Jahre für den Umzug. Hans-Josef Pisters und seine Frau Anita sitzen nicht auf gepackten Koffern, aber es fühlt sich so an. Die Gewissheit über das, was kommt, hat ihr Handeln diktiert. Sie haben Dinge nicht gemacht, die sie eigentlich hätten machen wollen: ein neues Dach, einen neuen Teppich im Wohnzimmer, moderne Fliesen im Bad. Die Zeit vergeht zäh, es wäre besser, wenn es morgen losginge. „Andere in unserem Alter genießen die Rente, wir fangen noch mal ganz von vorn an“, sagt Pisters. Er wird 80 sein, wenn er sein neues Haus bezieht.

„Schon im Kinderwagen hatte ich die Bagger im Rücken“, sagt Anita Pisters, als sie sich neben ihren Mann an den Gartentisch setzt. Sie stammt aus Königshoven, einem Ort, den es schon lange nicht mehr gibt. Sie war noch ein Kind, als er verschwand. Für Anita wird es der dritte Umzug sein. Zwei Mal musste sie dem Tagebau schon weichen, es war nie weit genug. Nach dem Essen ist sie im Haus verschwunden, um ihr Fotoalbum zu holen. Als sie es aufschlägt, wird aus der Metapher ein echtes Bild, ein SchwarzWeiß-Foto: Die kleine Anita sitzt in einem Kinderwagen, daneben steht der Vater, hinter den beiden der Bagger. Das Album ist voll von diesen Riesenmaschinen, es sind Erinnerungen, die umziehen.

Der neue Ort: sieben Kilometer Richtung Westen

Am Abend zuvor saß Pisters zwischen Nachbarn drüben in der Turnhalle der Grundschule, wo Neu-Keyenberg präsentiert wurde – oder wie auch immer der künftige Ort heißen wird, in den auch Menschen aus den vier kleineren Nachbardörfern umsiedeln sollen. Die Stadtplaner aus Aachen hatten die Halle mit orangefarbenen Plastikstühlen voll gestellt, mit Leinwand, Beamer und Rednerpult, der Bürgermeister von Erkelenz war auch da.

Sie waren angereist, um den Gewinnerentwurf zu präsentieren. Die Mehrheit der Anwohner hatte für Variante 1 gestimmt, den kompakteren der beiden Entwürfe, in dessen Mitte sich ein Band aus Wiesen und Bäumen von Norden nach Süden zieht. Unterm Basketballkorb war das Modell aufgebaut, Maßstab 1:1000, eine Landschaft aus Pappe, Häuschen aus Holz, grüne Kugeln als Bäume. An der Stelle, wo der echte Ort einmal liegen soll, ist jetzt noch Acker. Von hier sind es sieben Kilometer Richtung Westen.

Ein schwieriges Projekt

Stadtplaner Uli Wildschütz ist schon lange im Geschäft, aber das hier, er zeigt auf das Pappmodell, sei ein schwieriges Projekt. Weil es mehr sein muss als ein neuer Ort, weil es ein Ersatz für Altes sein muss, neue Heimat für 1500 Menschen. Wahrzeichen aus den alten Dörfern sollen mitgenommen werden, Wegekreuze zum Beispiel. Ein Verein wirbt dafür, eine ganze Kapelle auf Räder zu stellen und umzusiedeln. Sie wollen mehr mitnehmen als die Erinnerung.

Man kann vieles planen, einiges bewegen, die Natur nicht. Noch haben die Keyenberger ihren Obstwiesengürtel, ihren Wald, ihre Niers. „Diese Landschaft werden sie nicht wiederbekommen“, sagt Wildschütz.

Niemand wird gezwungen, in den Musterort umzusiedeln

Ihre Nachbarn im Haus links kennen die Pisters seit einer Ewigkeit, mit ihnen stimmen sie den Urlaub ab, damit der Garten im Sommer nicht vertrocknet. Die Nachbarn werden nicht mit umsiedeln, sie ziehen weg, zur Tochter. Der Nachbar auf der anderen Seite ist ein Sohn der Pisters, wenn seine Enkel im Garten sind, hört Hans-Josef Pisters sie hinter der Zypressenhecke spielen. Die Hecke ist so hoch geworden, dass er nur noch die dunkel glänzenden Ziegel auf dem Dach des Sohns sieht. Der hat das Haus erst 2006 gebaut, obwohl seit 1995 feststeht, dass Garzweiler II auch Keyenberg fressen wird. Er hatte keine Wahl. Hätte er nicht im alten Ort gebaut, wäre ihm das Anrecht auf ein Ersatzgrundstück im neuen Ort verloren gegangen. Zudem haben sie damals noch gehofft. Gehofft, dass die Braunkohle schneller in Vergessenheit gerät, dass sich der Aufwand nicht mehr lohnt, dass RWE vielleicht doch noch an der A61 haltmacht. Bislang hofften sie umsonst.

"Sozialverträgliche" Umsiedlung

Niemand wird gezwungen, in den neuen, am Reißbrett entworfenen Musterort umzusiedeln, aber es gibt Vorteile, weil RWE sich um die Details kümmert. Der Konzern wirbt mit einer „sozialverträglichen“ Umsiedlung und versucht, die Dorfgemeinschaft möglichst geschlossen zum neuen Standort zu bekommen. Das Problem ist, dass kein Umsiedler weiß, ob er das Grundstück erhält, das er sich wünscht. Es gibt Bebauungspläne, jeder kann sich auf eine Parzelle bewerben, aber es wäre reiner Zufall, wenn es keine Mitbewerber gäbe. „Da sind schon Freunde zu Feinden geworden“, sagt Pisters, der die Geschichten aus den Nachbarorten kennt, die bereits umgesiedelt sind. Ein RWE-Sprecher dagegen sagt, dass man bisher fast immer einen Kompromiss gefunden habe.

Hans-Josef Pisters fallen noch mehr solcher Geschichten ein, die aus Neu-Borschemich etwa, wo seit Jahren Leute wohnen, es aber erst seit kurzem eine richtige Straße gibt. Die Bank ist auch noch in Alt-Borschemich, die neue Filiale noch im Bau. So eine Umsiedlung ist langwierig, wenn es schlecht läuft, zerreißt sie einen Ort für immer.

Es ist auch eine Chance

Ein Dorf aus dem Boden zu stampfen, das ist aber auch eine Chance: Man kann Dinge besser machen, als sie sind. So wird es etwa zwei Hauptstraßen geben, damit sich der Verkehr besser verteilt. Und jede Familie muss jetzt für sich klären, wie sie in Zukunft leben will. Die Pisters bauen sich ein altersgerechtes Zuhause, einen Bungalow, kein Keller, kein Obergeschoss, keine Treppen.

Vor ein paar Jahren wurden in der Gegend die ersten Windräder aufgestellt, deren Schatten hier immerzu über die Rübenäcker schneiden. Damals konnten sich die Leute noch an ihnen orientieren, wenn sie über die Feldwege fuhren. Längst sind es zu viele geworden. Nachts blinkt der Horizont bei Keyenberg wie eine Landebahn. Es ist, als wollten die Windräder sagen: Nehmt die Energie aus dem Himmel, nicht aus der Erde.

Sie fotografieren - das Nichts

Bei Jackerath erlaubt RWE einen Blick in diese Erde. Ein schickes Metallrondell schwebt wie eine Brücke ins Nichts über dem Krater, der daliegt wie ein ausgetrockneter See. Hans-Josef Pisters läuft bedächtig über das Metallgitter, man muss schwindelfrei sein. Er guckt runter auf den marmorierten Boden, der an allem schuld ist, als sich ein Mann mit Kamera um den Hals zu ihm dreht. Er fragt: „Und das lohnt sich wirklich?“ Pisters zuckt ein Mal mit den Schultern, ein zweites Mal.

Was er den Männern mit Sicherheit sagen kann, ist, von wo aus sie den Bagger am besten sehen können: „Hackhausen, da haben Sie den direkt vor der Nase.“ Die Tagebautouristen bedanken sich. Sie senken ihre Köpfe über den 100 Meter tiefen Krater, staunen über die winzigen gelben Maschinen da unten, fotografieren das Nichts. Dann fahren sie wieder nach Hause.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

Alexander Krex

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