NS-Zeit in Berlin / Überleben als Jüdin: „Du wolltest doch immer erzählen“
Sklavenarbeit. Hunger. Vergewaltigungen. 13 illegale Quartiere. Die Jüdin Marie Jalowicz überlebt 1940 bis 1945 mitten in Berlin. Wie – das will sie später vergessen. Doch kurz vor ihrem Tod bringt ihr Sohn, der Historiker Hermann Simon, ihr ein Aufnahmegerät. 77 Kassetten sprach sie voll. Hier spricht er.
Herr Simon, wann haben Sie, Jahrgang 1949, das erste Mal von den Erlebnissen Ihrer untergetauchten Mutter im Berlin der NS-Zeit erfahren?
Ich bin nicht mit diesen Geschichten groß geworden, aber ich wusste von einer dramatischen Überlebensgeschichte. Viel später bekam ich dann mit, wie meine Mutter bei der Anfrage eines Journalisten, der über ihr Leben schreiben wollte, ins Telefon trompetete: „Also glauben Sie nicht, dass ich das selber kann!! Dazu bin ich doch intellektuell selbst in der Lage, wenn ich denn will!“
Hat sich denn von dem, was Sie sporadisch zu Hause erfuhren, etwas bei Ihnen als Kind eingeprägt?
Ihr gescheiterter Versuch, über Bulgarien in die Türkei und von da nach Palästina zu fliehen: mit relativ schlechten selbst gebastelten Papieren, die in sich nicht stimmig waren. Da war sie 20. Sie war sehr sprachbegabt, hatte schnell Bulgarisch für den Hausgebrauch gelernt, aber die Sprachbarriere doch unterschätzt.
Mussten Sie als Erwachsener Mut aufbringen, um Ihre Mutter, die auf Interviewanfragen so wütend reagiert hatte, neun Monate vor ihrem Tod zu diesen Erinnerungsaufnahmen zu überreden?
Wenn sie nicht gewollt hätte, hätte sie es nicht gemacht. Am 26. Dezember 1997 habe ich das Gerät auf den Tisch des Hauses gestellt und gesagt: Du wolltest doch immer erzählen. Völlig konsterniertes Schweigen. Fang irgendwo an, mit deiner Geburt, ist doch egal, sagte ich. Ich wollte das für mich und für unsere Kinder gerne haben. Ich habe parallel ein Inhaltsverzeichnis geschrieben: Datum Kassette 1, „Schilderung des Elternhauses“; oder einen Satz, den ich besonders spannend fand. Am Ende waren es 77 Kassetten. Meine Mutter genoss diese Sitzungen immer mehr, bis zu drei oder vier Mal die Woche. Das hat sie schon am Leben gehalten. Sie hat sich in den Erzählungen freigeschwommen. Sie hätte gerne Feedback gehabt, ich habe mit ihr über diese Aufzeichnungen aber nicht gesprochen. Ich wollte den Redefluss nicht durch Fragen unterbrechen. Nur wenn ich Menschen gefunden habe, habe ich mit ihr darüber geredet, ich habe ja Hunderte von Schicksalen recherchiert: Um ihre detaillierten Angaben bestätigen zu können, habe ich also auch ein biografisches Namensverzeichnis angelegt.
Viele Kinder sagen, wenn die Eltern tot sind: Mensch, hätten wir die noch gefragt. War so ein Jetzt-oder-nie-Gefühl das Motiv für Ihre Überrumpelung?
Vielleicht war der Auslöser das Gespräch mit einer Ärztin, die mir klar sagte, was man bei ihr nicht therapieren konnte. Hauptmotiv war der eigene Ärger von meiner Profession her. Das kann nicht sein, dass ein Vollbluthistoriker wie ich, der sich 20 Jahre lang mit Selbstzeugnissen beschäftigt hatte, es nicht schafft, die eigene Mutter zum Sprechen zu bringen!
Nach dem Krieg wurde Ihre Mutter Professorin für Antike Literatur- und Kulturgeschichte im damaligen Ost-Berlin. Wieso kommen diese Jahre auf den Tonbändern nicht mehr vor?
Wenn man sich diese Bänder anhört, merkt man: Das ist eine Durchsage mit letzter Kraft. Zwischen der letzten Aufnahme und ihrem Tod ist keine Woche vergangen.
Waren Sie bei diesen 77 Sitzungen mehr Sohn oder mehr Historiker?
Tja. Ich war ich selbst. Ich habe versucht, mehr Historiker zu sein, emotional war ich natürlich Sohn. Während der Diktate, die eigentlich Vorlesungen waren, sagte sie: Heute reden wir über Thema sowieso, chronologisch ist das dran, ich möchte sprechen über Frau Sowieso, die habe ich vor acht Wochen eingeführt. Ich wusste das nicht mehr – und es stimmte! Anfangs war mein Vater dabei, eine Weile hat er kommentiert, „das hast du mir anders erzählt“ oder „bist du da nicht zu kritisch gegenüber dir selbst“. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er gedacht, er kennt die Geschichte seiner Frau. Das hat er nicht ausgehalten.
Widerlegt diese Erinnerungspräzision Ihrer Mutter die Skepsis der Historiker gegenüber der mündlichen Überlieferung?
Ich halte meine Mutter für einen Ausnahmefall. Sie war ja in der Lage, einen Vortrag zu halten über das Phänomen des Überlebens – um irgendwo am Rande erkennen zu lassen, dass das ihre Geschichte ist. Sie konnte abstrahieren. Dieser Vortrag ist als einziger ihrer Vorträge nicht publiziert, weil sie dann doch das Gefühl hatte: Vielleicht habe ich hier zu viel gucken lassen. Ein irrer Text, schließt mit der Erkenntnis, dass zum Überleben der Zufall gehört, den Spinoza „asylum ignorantiae“ nennt: den Zufluchtsort der Unwissenheit.
Traumatisierte brauchen oft Jahrzehnte, bis sie „darüber“ sprechen können. Woher kam die Traumatisierung Ihrer Mutter?
Ich glaube nicht, dass sie so schwer traumatisiert war. Doch es gibt Dinge, die sich daraus erklären lassen. Ich habe in Erinnerung, wie wir spazieren gingen, es wurden vom Militär Kabelschächte ausgehoben, irgendwelche Uniformierte, die Schwarz trugen, Monteursklamotten. Meine Mutter zuckte körperlich zusammen. Sie blieb auch nie stehen, wenn es einen Verkehrsunfall gab: keine Aufläufe. Sie ging nicht zum Bahnhof, um sich zu verabschieden, besuchte niemanden im Krankenhaus: Ich habe zu viele Leute verabschiedet, sagte sie. Und in meiner Kindheit war mir peinlich, wie sie die Leute fixiert hat; gescannt, würde man heute sagen. Das war zum Überleben notwendig. Blitzschnell durchschaut. Das kann man nicht ablegen. Und ihre Ungeduld!
Es gibt diese gespenstische Szene bei Siemens, 1940/41, noch vor dem Abtauchen in die Illegalität: wo zwischen Werkmeistern und Zwangsarbeitern, zu denen Ihre Mutter gehört, Unglaubliches an Subversion und Sabotage möglich wird. Und sie spricht von zwei Freundinnen, von denen eine sagt: Du bist von uns dreien die Einzige, die überleben wird. War das Überlebthaben für Ihre Mutter auch eine Belastung? Hatte sie ein Schuldgefühl?
Mir hat sie das nie mitgeteilt. Aber sie wollte mit all diesen Rettern und mit all diesen Menschen aus dieser Zeit nichts mehr zu tun haben. Sie wollte nicht ewig dankbar sein, sie wollte neu durchstarten. Natürlich hat die Erinnerung sie eingeholt. Wenn Sie in der Schönhauser Allee 126 bei Frau Kahnke untergebracht waren, und wenn Sie dann später von Pankow viermal die Woche zu den Vorlesungen in die Universität fahren, dann kommen Sie achtmal daran mit der Straßenbahn vorbei.
Ihre Mutter sagt: „Überleben heißt, nicht auf das Niveau der Feinde herabsinken.“ Trotzdem schildert sie ihre eigenen Widersprüche ungeschönt, auch ihr Selbstbewusstsein als Bildungsbürgerin, was manchmal wie Dünkel gegenüber den Underdogs wirkt, bei denen sie unterkommt. Harte Bilder der Realität: auch im Hinblick auf die Sexualität, die als Mittel zum Überleben eingesetzt wird, mit all der Kritik an anderen Nazi-Opfern und dem Bericht von drastischen Situationen, zu denen eine Abtreibung gehört. Wie reagiert auf all das der Sohn, der Historiker, der Herausgeber?
Er sagt sich: Das ist mitteilenswert. In den Kassettenaufnahmen sitzt meine Mutter über sich selbst zu Gericht, diese Schärfe gibt ihr die Freiheit, sich zu allen kritisch zu äußern, es bleiben ja keine Helden übrig. Außer ihr selbst, sage ich. Irgendwann hat sie gesagt: Mach mit dem Material, was du willst!
Gab es außer dramaturgischen Eingriffen Gründe, bestimmte Passagen nicht hineinzunehmen?
Nein. Die Journalistin Irene Stratenwerth und ich haben gemeinsam das Material so bearbeitet, dass ich aus jeder Zeile die Stimme meiner Mutter höre. Wir haben nie gesagt, zum Beispiel die Geschichte, wie Emil Koch sie vergewaltigt, die lassen wir jetzt weg ...
Was war das für eine Beziehung zu der Frau von Emil Koch?
Wenn meine Mutter vor jemandem richtig Angst hatte, dann war das Johanna Koch: die meine Mutter gerettet hat, die ihr die Kennkarte für ihre gefälschte Identität gab. Die versucht hat, sich ihrer irgendwie zu bemächtigen. Als Johanna Koch 1994 starb, erbte meine Mutter das Haus, eine bessere Laube in Kaulsdorf; die 1938 von meinem Großvater an die Kochs verkauft worden war. Die Kochs hatten zur Nazizeit zu ihren Gunsten ein Testament gemacht! Meine Mutter ließ einen Anwalt ins Krankenhaus kommen, dem sie sagte: Dies Grundstück wird übertragen an meinen Sohn und seine Familie, aber die Verfügung ist hinfällig, wenn sie dort hinziehen oder dort bauen.
Für sie offenbar ein verfluchter Ort. Haben Sie es verkauft?
Ja. Und dann räumten wir da aus. Plötzlich kommt mein Vater, den hatte meine Mutter geschickt, zieht den Nachtisch auf, holt die falschen Papiere meiner Mutter raus: Pass aus Bulgarien, Kennkarte auf den Namen Johanna Koch. Ich fragte meine Mutter: Wie kommen die denn hierher? Da sagt sie: Ich saß hier, und die Befreier (die Russen) kamen, da hat sie die Papiere aus meiner Tasche genommen, mit der Begründung, es seien ihre.
Eine symbiotische Geschichte ...
... derer sich meine Mutter nur bis zu einem gewissen Punkt erwehren konnte. Der Mann von dieser Johanna Koch hat meine Mutter wahrscheinlich sogar mehrfach vergewaltigt, er hat die Zwangssituation ausgenutzt. Er war nicht der Einzige. Sie geht ja sehr schonungslos mit diesen Dingen um. Das, fand mein Vater, müsste man ja nun nicht jedem mitteilen! Und manchmal saß Johanna Koch in meiner Kindheit vor unserer Wohnungstür und wartete auf meine Mutter.
Was die Beschreibungen Ihrer Mutter so lebendig macht, ist, dass sie die Widersprüche der Charaktere zulässt: Viele Retter sind Egoisten, Menschen sind hassenswert und hilfsbereit. Hat sie solche Gegensätze damals abgespalten, um das auszuhalten?
Ich glaube, sie hat das damals schon so scharf analysiert wie später im Rückblick: Das war ihre Überlebenshilfe. Da sitzt sie in einer Wohnung in einem Korbstuhl, die sie seitdem hasste, darf sich nicht rühren. Dielen knarren. Sie hat nichts zu lesen. In der Wohnung wohnt nur Frau Kahnke, das war in der Schönhauser Allee, das wissen alle im Haus. Sie kann sich nicht bewegen, kein Radio hören. In so einem alten Mietshaus hört man alles. Da kann man nur irgendetwas memorieren, die Situation und die Leute analysieren. Man muss die Sache notieren im Kopf, um die Zeit zu überstehen.
So ist sie Herrin der Lage geblieben.
Absolut. Wobei es auch Momente gab, in denen sie verzweifelte. Wo sie kein Quartier hatte, durch die Stadt irrte. Und die Frage sich stellt, was man in ihrer riskanten Situation macht, wenn man ein menschliches Bedürfnis hat.
Warum hat sich Ihre Mutter 1945 als Opfer der Nazis und dann noch einmal als politische Kämpferin anerkennen lassen?
Sie verstand sich nicht nur als Verfolgte, sondern auch als Kämpferin gegen die Nazis. Es ging schon um ihre Selbstdefinition. Immerhin war sie Teil eines großen Widerstandsnetzes, das Flugblätter von Berlin nach Magdeburg brachte, nur dass sie das für Schwachsinn hielt und lieber Kartoffeln in ihrem Koffer transportierte. Die verfolgten Juden, die sich in einem Café am Hackeschen Markt trafen, gefielen ihr überhaupt nicht.
Irgendwann sagt Ihre Mutter: „Wie konnte es eigentlich zu dieser Judenverfolgung kommen? Das sind doch alles so nette Leute.“ Hat sie später darauf eine Antwort gefunden?
Ich denke, die Antwort gibt sie in einem Brief 1946 an einen Schulfreund, warum sie in Deutschland bleibt. Sie sagt: Das, was da passiert ist, ist immer und überall möglich, wenn man an die niedrigsten Instinkte des Pöbels appelliert.
In der ersten Zeit der Verfolgung war sie eher eine Einzelkämpferin, wurde dann aber später sehr beeindruckt von dem Modell Solidarität, von den Kommunisten. Das hat sie für ihr Leben geprägt.
Aber sie sah die Grenzen, auch die intellektuellen Grenzen. Ich glaube, sie ist eine Einzelkämpferin geblieben.
Das Bürgertum, aus dem sie kam, sah sie ebenfalls kritisch, weil es im „Dritten Reich“ versagt hatte, während ihr selbst vor allem die Underdogs am Rande der Gesellschaft geholfen hatten. Ende 1945 ist sie in die KPD eingetreten. Ist dann 1989 doch „etwas“ für sie kaputtgegangen?
Interessanterweise nicht; so kritisch war sie der DDR gegenüber. Sie hat an mich übermittelt, dass man in den eigenen Wänden ganz offen reden muss. Und dass man sich in der Welt, die einen umgibt, anders verhält. Aber sie war stets ein kritischer Geist. Und genoss dann irgendwann so etwas wie Veteranenprestige.
Ihre Mutter bekennt sich als Jüdin, auch als Linke. Sie versucht, wenn es geht, koscher zu leben, Traditionen zu bewahren. Was machte ihr Judentum aus? Welches Judentum haben Sie von Ihren Eltern geerbt?
Ein Traditionsbewusstsein: Man muss die Dinge nicht befolgen, aber man muss um sie wissen. Wie religiös meine Mutter war, ist schwierig zu sagen. Wir haben nicht drüber gesprochen. Es gibt da aber eine Szene. Fromme Juden sprechen, wenn sie einen hebräischen Text zitieren, auch wenn Kantoren im weltlichen Kontext singen, den Gottesnamen nicht aus. Und auf diesen Bändern gibt es nun aber eine gewisse Erregung, die sich bei der Vorlesung einstellt – obwohl meine Mutter sagt: sie selber sei eigentlich in der Zeit damals gar nicht so erregt gewesen wie gerade jetzt, das hänge mit dem Alter zusammen –, und als sie 1942 in einer furchtbaren Situation ist, bei dem „Gummidirektor“...
. . . einem syphilitischen Judenhasser, der sie – sie hatte ja eine falsche Identitätskennkarte – bei einer Kupplerin regelrecht gekauft hat und bei dem sie vor Todesangst hebräische Segenssprüche über die Fische im Aquarium sagt ...
. . . in der Schilderung dieser Szene spricht sie den Gottesnamen nicht aus. Ich habe das im Buch unkommentiert gelassen. Da kann sich jeder dann seinen Vers machen. Sie ist verankert in einer sehr guten Kenntnis der Gebetsüberlieferung. Die hat sie für sich als Krücke benutzt, ohne das je nach außen zu tragen. Sie sagt in der Verzweiflung bei dem Gummidirektor: „Haschem li welau iro“ – Der Name ist mit mir, ich fürchte nichts.
Das Gespräch führte Thomas Lackmann.
Marie Jalowicz Simon: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945
Bearbeitet von Irene Stratenwerth und Hermann Simon, Nachwort Hermann Simon. S. Fischer Verlage, 416 Seiten, Preis 22,99 Euro
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