Europa und die Flüchtlinge: Droht der Europäischen Union das Aus?
In der Flüchtlingskrise ruft jeder EU-Staat nur nach Europa, wenn er etwas will. Das muss sich ändern. Sonst überlebt die EU nicht. Ein Kommentar.
Viel steht auf dem Spiel diese Woche, sehr viel. Am Dienstag kommen die EU-Innenminister zusammen, tags darauf die Staats- und Regierungschefs, um endlich die politische Lähmung Europas in der Flüchtlingskrise zu überwinden. Es geht darum, Menschen zu retten und würdig zu behandeln, die Schutz vor Krieg und Verfolgung in den Nachbarländern Syriens oder eben in der Europäischen Union suchen. Es geht aber auch darum, eine politische Gemeinschaft zu retten, die ihren Gemeinsinn so gut wie verloren hat.
Die Wertegemeinschaft EU erweist sich als labil. Die Bilder applaudierender Menschen am Münchner Hauptbahnhof und jene vom Stacheldrahtzaun an der ungarisch-serbischen Grenze passen nicht zusammen. Aussagen aus dem tiefreligiösen Osteuropa, nur Christen, nicht aber Muslimen Schutz gewähren zu wollen, erzeugen im liberaler wie weltlicher geprägten Westen des Kontinents Fassungslosigkeit.
Die gesellschaftliche Abschottung der Sowjetzeit wirkt bei Polen, Ungarn oder Tschechen im Streit um Pflichtquoten stärker nach als gedacht. Zur Angst vor Überfremdung gesellt sich die Furcht vor neuer Fremdbestimmung – diesmal nicht aus Moskau, sondern aus Brüssel.
In der Griechenland- oder Ukrainekrise hat Kanzlerin Angela Merkel die EU damit verteidigt, dass sie mit den Partnern über unterschiedliche wirtschafts- oder außenpolitische Vorstellungen streiten müsse, nie aber über Grundlegendes wie Bürger- und Menschenrechte. Nun ist es soweit, wackelt auch diese vermeintliche Grundfeste.
Das kann ganz schnell gehen
Wird der Zerfallsprozess nicht gestoppt, kann es plötzlich ganz schnell gehen mit dem Ende der Gemeinschaft. Sie flüchtet sich vor der Flüchtlingskrise lieber in den Nationalismus gegenseitiger Schuldzuweisungen, als auf Solidarität zu setzen. In Polen, Großbritannien oder Frankreich sind Rechtspopulisten und -extremisten schon so etabliert, dass die Mehrheit ihnen mit einer liberalen Migrationspolitik nicht zusätzliches Futter liefern will.
Europas Entsolidarisierung ist in Kroatien zu beobachten, das Busladungen voller Flüchtlinge an die Grenze zu Slowenien und Ungarn fährt und den Nachbarn quasi vor die Füße kippt. Krassestes Beispiel bleibt Ungarn, wo Viktor Orban Gesetze zum Einsperren von Flüchtlingen erlässt und die Krise als rein deutsches Problem bezeichnet.
Die Milliarden für sein Land aus EU-Regionalfonds tauchen in Orbans Reden nicht auf. Das ist ein Druckmittel: Vizekanzler Sigmar Gabriel hat die Ungarn daran erinnert –, wenn auch in zweifelhafter Wortwahl –, dass „unser Geld“ nicht dauerhaft fließt, wenn „unsere Werte“ nicht geteilt werden.
Deutschland leistet in dieser Krise Besonderes. Syrern auf der Flucht zu signalisieren, dass sie entgegen des üblichen EU-Prozederes in der Bundesrepublik Asyl beantragen können, war eine historische Geste der Menschlichkeit.
Einerseits. Andererseits war die Entscheidung ein Alleingang, der die Nachbarn vor vollendete Tatsachen gestellt hat. Das gilt auch für die Kehrtwende zurück zu Grenzkontrollen, die schnell kopiert wurde und das schrankenlose Reisen im Schengenraum vorerst beendet hat. So hat auch Deutschland, das Griechen und Italiener mit dem Flüchtlingsproblem lange alleingelassen hat, als es selbst nicht betroffen war, seinen Anteil am Einzelgängertum. Jeder ruft nur nach Europa, wenn er etwas will. Das muss sich ändern, wenn die EU überleben will.
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