Kassenärzte warnen vor Überlastung der Praxen: Digitaler Nachweis könnte die Impfkampagne ausbremsen
Zwischen Mitte Mai und Ende Juni rechnet Gesundheitsminister Spahn mit dem digitalen Impfnachweis. Das Ausstellen dürfte allerdings Probleme mit sich bringen.
Die Ausstellung von digitalen Ausweisen für abschließend gegen SARS-CoV-2 Geimpfte oder von einer Corona-Erkrankung genesene Patienten dürfte in den kommenden Wochen zu einer starken Belastung der Arztpraxen führen, die auch die Impfkampagne bremsen könnte.
Davor warnten gestern die Vorstände der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bei der Vertreterversammlung (VV). Gemindert werden könnte das Problem allerdings durch eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes, die das Corona-Kabinett gestern vorschlug und die noch in dieser Woche im Bundestag behandelt werden soll.
Demnach sollen die digitalen Impf-Nachweise nicht nur in Impfzentren und bei niedergelassenen Ärzten ausgestellt werden können, sondern nachträglich auch in Apotheken. Menschen, die bereits abschließend geimpft wurden, könnten dann mit Vorlage ihres Impfausweises in der Apotheke ihren digitalen Impfnachweis aktivieren.
Dadurch entfiele ein erneutes Vorsprechen beim impfenden Arzt oder im Impfzentrum , wo dann der nötige QR-Code ausgedruckt werden müsste. Es geht dabei um den digitalen Corona-Impfnachweis, den gerade ein Konsortium um die Firmen IBM, Ubirch, govdigital und Bechtle im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums erarbeitet.
An das System sollen Arztpraxen und Impfzentren angebunden werden, und nun offenbar auch die Apotheken. Nach der Impfung wird mit dem IBM-System eine Impfbestätigung mit QR-Code ausgedruckt, der dann mit der Impfnachweis-App oder auch der Corona-Warnapp eingelesen werden kann.
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Darauf setzt dann auch das Grüne Zertifikat der EU, an dem in Brüssel derzeit parallel gearbeitet wird: Geimpfte und Genesene sollen damit barrierefrei innerhalb des Schengenraums reisen können. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kündigte gestern an, dass die Regierung in dieser Woche einen Entwurf für eine neue Einreiseverordnung vorlegen will. Mit der müssten Genesene und Geimpfte bei Einreisen keine Negativ-Tests mehr vorlegen und auch nicht in Quarantäne – es sei denn, sie kommen aus Virusvariantengebieten.
Die legislativen Vorarbeiten für Erleichterungen bei Geimpften und Genesenen sind damit weit gediehen, besonders, da Ende der Woche Corona-Einschränkungen für beide Gruppen fallen sollen. Umso mehr rückt nun in den Blick, wie schnell der digitale Impfnachweis kommen wird und was das für die Arztpraxen heißen könnte. Zwischen Mitte Mai und Ende Juni, sagte Jens Spahn gestern, rechne er mit der Verfügbarkeit des digitalen Impfnachweises.
Man stehe bereit, sagte KBV-Vorstandsmitglied Thomas Kriedel gestern bei der Vertreterversammlung, in den Praxen die digitalen Impfnachweise auszustellen – allerdings nur, wenn dies automatisiert über die Praxisverwaltungssysteme (PVS) laufe, und auch nur für die in den Praxen geimpften Patienten.
„Wir stehen seit Tagen im engen Austausch mit dem BMG, IBM und den PVS‐Herstellern“, sagte Kriedel, es deute sich an, dass Anfang Juni das System laufe. Allerdings seien bis dahin voraussichtlich schon 18 Millionen Menschen abschließend geimpft, hinzu kämen 3,5 Millionen Genesene.
„Das wird einen Run auf den digitalen Impfnachweis auslösen. Damit dürfen aber nicht die Praxen überrannt werden“, sagte Kriedel. Welche Friktionen in Praxen drohen, zeigte eine Wortmeldung von Walter Plassmann, Vorstandschef der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburgs. „Wir werden nicht in der Lage sein, das in so kurzer Frist bei uns umzusetzen“, sagte er.
Den Praxen die Ausstellung der digitalen Impfnachweise zu überlassen, müsse „unter allen Umständen verhindert werden“, weil „dies den Impfprozess verzögern würde“, so Plassmann. Die Einbeziehung der Apotheken dürfte auch eine Reaktion des BMGs auf die Befürchtungen der Kassenärzte sein. Die KBV wollte Spahns Entscheidung gestern nicht kommentieren:
Kritik an Scholz und Söder
Mit zusätzlicher Bürokratie im Rahmen der Corona-Impfkampagne belastet zu werden: Das dürfte auch eine der Hauptsorgen der niedergelassenen Ärzte sein, die beim heutigen und morgigen Ärztetag artikuliert werden, in dessen Vorfeld die KBV-VV klassischerweise stattfindet. „Für jede gesetzte Impfung muss ein Arzt sechs Seiten Papier bearbeiten“, beklagte KBV-Chef Gassen dort gestern. Der digitale Impfnachweis mache dies „eher komplizierter als einfacher“.
Ähnlich äußerte sich auf Anfrage von Tagesspiegel Background auch der Chef des Deutschen Hausärzteverbands, Ulrich Weigeldt. Entscheidend sei, dass der international anerkannte WHO-Impfausweis weiterhin gelte. „Egal, wie ein digitaler Impfnachweis am Ende aussehen wird – den Hausärztinnen und Hausärzten darf dadurch nicht noch mehr Bürokratie aufgebürdet werden.“
Hausarztpraxen seien schließlich nicht „das elektronische Passamt der Republik“. Ihrem Frust nicht nur mit der Bürokratie, sondern auch mit der staatlichen Impfstoffbeschaffung und -verteilung an die Praxen machte gestern VV-Chefin Petra Reis-Berkowicz Luft. Die Hausärztin impft seit März in Bayern und kritisiert das Vorgehen des bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU):
„Es ist ärgerlich, wenn Landesregierungen von einem Tag auf den anderen die Priorisierung ändern und damit den Eindruck vermitteln, jetzt könne jeder in den Praxen geimpft werden – ausgerechnet in einer Woche, in der kein AstraZeneca geliefert wird“. Besonders wütend allerdings sei sie auf Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und dessen jüngst geäußerte Befürchtung, eine Aufhebung der Impf-Priorisierung könnte sozial Schwächere benachteiligen, da diese weniger persönliche Beziehungen zu Ärzt:innen hätten.
„Das ist arrogant, inkompetent und ein Schlag ins Gesicht der Kollegenschaft“, sagte Reis-Berkowicz. Scholz gehe es offenbar darum, vom Regierungsversagen der zu spät georderten Impfstoffe abzulenken.
Gassen sieht Zynismus
Insgesamt sprach nicht nur aus den Reden der KBV-Spitze, sondern auch den Wortmeldungen der KBV-VV ein großer Vertrauensverlust in die derzeitige Krisenmanagementfähigkeit des Staates. Andreas Gassen kritisierte die derzeit in vielen Teilen der Republik geltenden nächtlichen Ausgangssperren als offensichtlichen „Versuch, das Narrativ des Lockdowns als einziges wirkungsvolles Mittel um jeden Preis zu retten, um nicht die unangenehme Frage beantworten zu müssen, warum Deutschland bisher so schleppend geimpft hat“.
Er erkenne nach wie vor „keine echte Strategie zur Pandemiebekämpfung“, eher ein „munteres Glücksrad mit den 7-Tages-Inzidenzen“. Inzwischen sei nicht mal mehr klar, ab welchen Inzidenzwerten und Durchimpfungsraten der derzeitige Ausnahmezustand beendet werden solle.
[Mehr zum Thema: Jung, gesund – trotzdem geimpft: Die 3 legalen Tricks der Ungeduldigen (T+)]
„Der sprichwörtliche Tunnel, durch den wir alle miteinander seit über einem Jahr gehen, wird gefühlt immer weiter verlängert, das Licht am Ende rückt nicht wirklich näher. Da darf man sich nicht wundern, wenn die Menschen beginnen, sich zu fragen, wann das Hinhalten ein Ende haben wird.“
Dass Markus Söder die letzte Bund-Länder-Runde als „Hoffnungsgipfel“ bezeichnet habe, sei da nur noch „zynisch“, sagte Gassen. „Hoffnung auf was? Hoffnung darauf, dass die Regierenden bei der nächsten MPK‐Runde mit Frau Merkel zu Entscheidungen im Sinne der Regierten fähig sind?“ Er erhoffe sich nun eine verbale Abrüstung in einer derzeit völlig überhitzten Corona-Debatte.
„Ärzte und Psychotherapeuten sowie Kinder‐ und Jugendlichen‐Psychotherapeuten werden in der nächsten Zeit viel damit zu tun haben“, prognostizierte der KBV-Chef, „auch die seelischen Folgen von Corona zu behandeln, damit unsere Gesellschaft heilen kann.
In Deutschland soll es bis zum Sommer einen digitaler Impfnachweis geben. Obwohl bereits seit Frühjahr 2020 bekannt ist, wie wichtig ein solcher Nachweis für die Normalisierung des öffentlichen Lebens werden kann, soll der gesamte Vergabeprozess nun in zwölf Tagen über die Bühne gehen. Wichtige Fragen bleiben bislang offen.
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