Kretschmer sieht „erheblichen Gesprächsbedarf“: Diese Politiker wollen das Corona-Bundesgesetz so nicht hinnehmen
Die geplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes polarisiert in Bund und Ländern. Es gibt überwiegend kritische Stimmen – und überraschende Rückendeckung.
Mehrere deutsche Politiker haben deutliche Kritik an der geplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes geäußert. Allerdings gibt es auch Unterstützung für Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die sich am Sonntag bei der Klausur der Unionsfraktionsspitze erneut für einen konsequenten Lockdown ausgesprochen hat.
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat „erheblichen Gesprächsbedarf“ angemeldet. Es gebe eine Reihe von Punkten, die geändert werden müssten, sagte Kretschmer der „Welt“.
„Dazu gehören eine Ergänzung des Inzidenzwertes um einen Faktor, der die Bettenauslastung beschreibt, eine Eingriffsschwelle für die Ausgangssperre erst ab einer Inzidenz von 200, weitere Ausnahmen für den Einzelhandel, damit die Angelegenheiten des täglichen Bedarfs auch im Falle eines Brücken-Lockdowns weiterhin ermöglicht werden, sowie insbesondere ein Verzicht des Bundes für Regelungen im Schulbereich“, sagte Kretschmer. „Außerdem muss das Gesetz zeitlich befristet werden, das heißt, es muss automatisch auslaufen.“
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Bedenken gegen eine Kompetenzverlagerung von den Ländern nach Berlin äußerte auch der bayerische Vizeministerpräsident und Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger. "Der Bund soll sich bei der Coronapolitik um die Dinge kümmern, für die er zuständig ist und wo er bisher versagt hat. Beschaffung von Impfstoff, genügend gute Masken, bessere Bezahlung der Pflegekräfte", sagte Aiwanger der "Passauer Neuen Presse" und dem "Donaukurier" vom Montag.
Bayerns Freie-Wähler-Chef fügte hinzu, für ihn stelle sich nun die Frage, in welcher Form der Bundesrat mit der Gesetzesänderung befasst werde. "Wenn sie das ganze Vorhaben nicht geschickt am Bundesrat vorbeisteuern um Widerstand zu erschweren, habe ich aufgrund meiner jetzigen Einschätzung keine Lust, dieser Machtverlagerung von Bayern nach Berlin zuzustimmen."
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat sich hingegen hinter den Entwurf des Infektionsschutzgesetzes der Bundesregierung gestellt, die dem Bund mehr Rechte bei Corona-Maßnahmen geben soll. "Er wird gerade noch abschließend beraten und natürlich werden wir sowohl als Bayern als auch als CSU in der Bundesregierung da sogar Mittreiber sein, dass es beschlossen wird", sagte der CSU-Chef in der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin".
Söder begründete die Notwendigkeit der Gesetzesänderung, mit der Tatsache, dass einige Bundesländer die Notbremse in Regionen mit Inzidenzen von mehr als 100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner und Woche nicht konsequent umsetzen würden. Dies hatte auch Kanzlerin Merkel wiederholt kritisiert.
„Die Pandemie ist ja keine regionale Frage, sondern die nationale Herausforderung“, sagte Söder. Für eine erfolgreiche Bekämpfung sei ein bundeseinheitlicher Rahmen wichtig. Er hoffe sehr, dass die Opposition im Bundestag bereit sei, das Gesetzgebungsverfahren mit zu beschleunigen.
Auch der Bremer Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) äußerte sich kritisch zu Teilen der geplanten Gesetzesänderung. "Der vorliegende Entwurf greift tief, meines Erachtens in manchen Bereichen unverhältnismäßig tief in die Privatsphäre ein und nimmt gleichzeitig die Infektionsgefahren in den Betrieben nicht ernst genug", sagte Bovenschulte dem Tagesspiegel.
Konkret kritisierte Bovenschulte, dass ab einer Inzidenz von 100 automatisch Sport für Kleingruppen im Freien verboten werde. "Dass Sport im Freien verboten wird, bei dem es eine geringe Infektionsgefahr gibt, der aber für die Gesundheit der Menschen so wichtig ist, erschließt sich mir nicht". Wenn dann gleichzeitig die Fußball-Bundesliga einfach weitermachen könne, "dann befürchte ich schon, dass das die Akzeptanz der Menschen nicht gerade fördert".
Das sieht die Änderung im Infektionsschutzgesetz vor:
- Harter, regionaler Lockdown bei Überschreiten des Schwellenwerts von 100.
- Private Zusammenkünfte werden auf die Angehörigen eines Haushalts und eine weitere Person beschränkt.
- Ausgangssperren von 21 bis 5 Uhr, mit Ausnahmen für Notfälle oder aus beruflichen Gründen.
- Sport ist nur noch sehr begrenzt und maximal zu zweit möglich.
- Auch alle Geschäfte müssen dichtmachen – mit Ausnahme des Lebensmittelhandels, Apotheken, Drogerien und Tankstellen.
- Auch Kultur- und Freizeiteinrichtungen wie Zoos, Schwimmbäder, Museen etc. müssen schließen.
- Die Gastronomie bleibt geschlossen. Abholung und Lieferung von Speisen ist aber erlaubt.
- Ist der Inzidenzwert von 100 drei Tage lang wieder unterschritten, können die Maßnahmen entfallen. Liegt er drei Tage lang darüber, treten sie wieder in Kraft.
- Schulen und Kitas dürfen nur bei Inzidenz unter 200 offen bleiben. Selbst dann dürfen Schüler nur am Unterricht teilnehmen, wenn sie sich zweimal pro Woche testen.
Die SPD-geführten Länder standen Sonntagabend geschlossen hinter den Änderungen, wie Vizekanzler Olaf Scholz erklärte. Er habe soeben mit den Ministerpräsidenten seiner Partei gesprochen, sagte der Bundesfinanzminister am Sonntagabend in der ZDF-Sendung „Berlin direkt“. „Sie stehen alle hinter diesem Vorhaben, werden das auch unterstützen. Es wird förmliche Beratungen geben, aber der Weg ist klar und wird von allen getragen.“ Der Gesetzesantrag werde am Dienstag im Kabinett beschlossen werden. Zuvor hatte es Detailkritik auch aus SPD-Ländern gegeben.
SPD-Länder wollen Vorschlag zustimmen
Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) hatte eindringlich vor einer Kompetenzverschiebung zugunsten des Bundes gewarnt. "Fakt ist: Dort, wo der Bund die Befugnisse hatte, hat er zum Teil kläglich versagt", sagte Pistorius der "Welt". Als Beispiele nannte Pistorius die Beschaffung von Impfstoff und Schutzausrüstung.
Der Bund habe keine Expertise für Krisenbewältigung oder Krisenkommunikation. "Deshalb wäre es auch keine gute Idee, die Länder jetzt mitten in der Krise zu entmachten", warnte Pistorius. "Das wäre ein großer Fehler."
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) kann nach eigener Einschätzung mit den geplanten bundesweit einheitlichen Corona-Regelungen grundsätzlich „gut leben“. Im Hinblick auf zahlreiche Details und auch inhaltlich müsse der aus dem Bundesinnenministerium stammende Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes allerdings überarbeitet werden. Das passiere mit Hilfe der Länder. Den Juristinnen und Juristen im Bund fehlten „die in den Ländern in den letzten Monaten gemachten Erfahrungen“.
Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), stellte sich hinter die Pläne des Bundes. „Wir sind offen für die Gesetzesänderung, wir finden schon lange, dass bestimmte Beschränkungen und auch Instrumente in ein Bundesgesetz gehören. Zum Beispiel die Ausgangsbeschränkungen“, sagte die SPD-Politikerin den Sendern RTL und ntv. Zugleich müsse es aber mehr Unterstützung etwa für die Gastronomie geben.
Die SPD-Fraktion im Bundestag forderte ebenfalls neue Hilfsprogramme. Zugleich sei eine Testpflicht auch für Unternehmen nötig, heißt es in einem Positionspapier des geschäftsführenden Fraktionsvorstands um den Vorsitzenden Rolf Mützenich, das der dpa vorliegt.
Firmen müssten Beschäftigten, die nicht im Homeoffice arbeiten könnten, unabhängig von den Infektionszahlen zweimal die Woche Corona-Tests anbieten. Auch in Schulen müsse verpflichtend mindestens zweimal in der Woche getestet werden, in Kitas solle dies ebenfalls kindgerecht angeboten werden. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kündigte an, er wolle die Testpflicht für Betriebe bereits am Dienstag im Kabinett durchsetzen.
Kategorische Ablehnung von der FDP
Mehrere Fraktionen halten die Vorschläge des Bundes hingegen für hoch problematisch. „Insbesondere die Frage der Ausgangssperren ist ein dermaßen tiefer Eingriff in die Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger, der nicht einfach en passant beschlossen werden kann“, warnte der erste parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, in einem Brief an das Gesundheits- und das Innenministerium, der der dpa vorliegt. Außerdem fehlten verpflichtende Regelungen für große Unternehmen, während im privaten Bereich massiv eingeschränkt werde.
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Die FDP-Fraktion lehnt den Gesetzentwurf der Bundesregierung für einheitliche Corona-Maßnahmen ab. „Der Entwurf ist in der vorliegenden Fassung für die Fraktion der Freien Demokraten nicht zustimmungsfähig“, schrieb Fraktionschef Christian Lindner in einem Brief an Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn (beide CDU), der dem Tagesspiegel vorliegt.
Es gebe „erhebliche Bedenken“, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen wirksam und verhältnismäßig seien und einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhielten, schrieb Lindner. Er kündigte Änderungsanträge an und forderte eine Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags. „Sollte das Pandemiegeschehen vor Ort es während der Beratung dieses Gesetzes erforderlich machen, dass zusätzliche Maßnahmen verhangen werden müssen, haben die Länder dazu alle rechtlichen Befugnisse“, erklärte Lindner.
Grüne fordern Nachbesserungen
Konkret kritisiert die FDP, dass keine testbasierten Öffnungskonzepte und Raum für Modellprojekte vorgesehen seien. Außerdem fehlten Ausnahmen für Geimpfte. Die geplanten Ausgangsbeschränkungen zwischen 21 und 5 Uhr seien bei einer Inzidenz von 100 „ein unverhältnismäßiger und epidemiologisch unbegründeter Eingriff in die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger“.
Die Ausgangssperre pauschal sehen wir prinzipiell kritisch und hätten sie nicht in einen Maßnahmenkatalog aufgenommen", sagt Lindner im Deutschlandfunk. Auf die Frage, ob die FDP einem Entwurf, der die Ausgangssperre enthalte, nicht zustimmen würde, antwortet Lindner: "Das ist korrekt."
Überhaupt sei die Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner als alleiniger Maßstab für Schutzmaßnahmen ungeeignet. Testkapazitäten, die Belastung des Gesundheitssystems und der Impffortschritt müssten einbezogen werden.
Die Grünen im Bundestag kritisierten die Vorschläge des Bundes als unzureichend. Der Entwurf sei an mehreren Stellen „dringend nachbesserungsbedürftig“, sagte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Insbesondere Wirtschaft und Arbeitswelt müssten verpflichtet werden, mehr zur Vermeidung von Infektionen beizutragen.
Göring-Eckardt forderte eine Pflicht für Arbeitgeber, ihren Beschäftigten Tests anzubieten. Außerdem müssten Homeoffice und das Tragen medizinischer Masken am Arbeitsplatz vorgeschrieben werden. Bereits ab einer Inzidenz von 100 müssten an den Schulen Wechselunterricht und Tests zwei Mal pro Woche Pflicht werden. Kitas müssten auf Notbetreuung umstellen. Zugleich sollten bestimmte Angebote unter freiem Himmel wie Sport für Kinder oder Zoobesuche mit Schutzkonzepten ermöglicht werden.
Göring-Eckard forderte auch zusätzliche Freiheiten für Geimpfte, da bei ihnen das Ansteckungsrisiko entfalle. Besonders in Alten- und Pflegeheimen dürften geimpfte Bewohnerinnen und Bewohner nicht länger in ihren Zimmern isoliert werden. Die Grünen seien bereit, „ein sehr zügiges Verfahren“ im Bundestag und auch den Beschluss noch in der kommenden Woche mit zu ermöglichen. Das vorgeschlagene Gesetz könne allerdings allenfalls ein Notbehelf sein.
Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, nannte den vorliegenden Gesetzentwurf in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe vom Montag ein "in Gesetz gegossenes Misstrauensvotum gegenüber Ländern und Kommunen". Damit verlasse der Bund den Modus gemeinsamer Krisenbekämpfung.
Sager zog in Zweifel, ob es gelinge, mit den geplanten Regelungen die dritte Infektionswelle zu brechen. "Wir halten es jedenfalls generell für fraglich, passgenaue Lösungen für höchst unterschiedliche Situationen vor Ort unmittelbar in einem Bundesgesetz vorzuschreiben", sagte der Landrat des Landkreises Ostholstein. Dagegen hatte der Deutsche Städtetag die geplanten einheitlichen Notbremsenregelungen zuvor begrüßt. (Tsp, mit Agenturen)