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Das Auto als Familienmitglied. Manche hatten sogar Namen.
© ullstein bild

Jugend ohne Auto: Die Zweckmobilisten

Das Auto war ein Götze des 20. Jahrhunderts. Als Symbol für Freiheit und Wohlstand wurde es verehrt und war sakrosankt. Das hat sich überholt. Der urbane Mensch steigt aus und um. Flexibel mobil sein ist alles – wie, ist egal.

Fünf junge Männer, fünf Wege ins Leben. Jan probiert gerade den dritten Studiengang aus. Fabian jobbt so vor sich hin. Hannes kämpft mit dem Jurastudium, Daniel plant eine Asienreise und Alex brütet über dem Thema seiner Bachelorarbeit. Die Schulfreunde, die sich drei Jahre nach dem Abitur mal wieder treffen, haben nur noch wenig gemein. Doch auf die Frage des Reporters entdecken sie eine Gemeinsamkeit, über die sie bisher wenig nachgedacht haben. Sie alle besitzen kein Auto. Und: Sie wollen auch keines haben. „Das braucht man in Berlin doch gar nicht“, sagt Jan. Alex fährt zwar gern mit dem Wagen seiner Eltern, aber ein eigener wäre ihm „viel zu teuer“. Fabian könnte es sich „eigentlich leisten“, aber er gibt sein Geld „lieber für andere Sachen aus.“ Hannes hält Autos für „eine veraltete Technik“ und Daniel hat nicht mal einen Führerschein gemacht, weil er ihm „nicht wichtig“ war.

Das klingt nach jugendlicher Subkultur, aber die fünf Freunde liegen voll im Trend. Mitte der 90er Jahre besaß noch fast die Hälfte der Bevölkerung im Alter von 18 bis 29 Jahren ein eigenes Auto und für die übrigen war das eines ihrer vorrangigen Ziele. Heute zählt nur noch ein Viertel dieser Altersgruppe zu den amtlich registrierten „Haltern“ eines „Personenkraftwagens“. In den ländlichen Regionen ist das Auto mangels Alternative zwar noch immer unverzichtbar. Dafür aber fällt der Wandel in den Großstädten umso radikaler aus. Selbst in Stuttgart, dem Zentrum der deutschen Automobilindustrie, hat sie die Jungen als Kundschaft großteils verloren. Noch im Jahr 2000 hatten 12 600 Stuttgarter im Alter von 18 bis 25 einen eigenen Wagen. Zwölf Jahre später gab es nicht mal mehr 5000 Autobesitzer in diesem Alter, und das obwohl die Zahl der jungen Leute in der Stadt um fast zehn Prozent wuchs.

Im Leben der großen Mehrheit der jüngeren Generation spielt das Automobil also nur noch eine Nebenrolle. Aber woran liegt das? Was heißt das für den Verkehr der Zukunft?

Als Trendforscher das Phänomen vor fünf Jahren erstmals beschrieben, traf das bei Industrie und Politik auf Skepsis. Im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums waren 50 000 Haushalte im Abstand von sechs Jahren zwei Mal zur „Mobilität in Deutschland“ (MiD) befragt worden. In dieser Zeit waren sowohl der Besitz als auch die Nutzung von Autos bei jungen Leuten rapide gesunken. Das machte zwar Schlagzeilen. Aber die meisten Automanager und Verkehrspolitiker mochten die Zeichen nicht sehen. Matthias Wissmann, einst Verkehrsminister und heute Präsident des Verbandes der Automobilindustrie, erklärte erst kürzlich wieder, das „nachlassende Interesse am Auto“ werde der Jugend „gerne angedichtet“. In Wahrheit hielten 80 Prozent aller Erwachsenen unter 30 „das erste eigene Auto für etwas ganz Besonderes“, sagte er unter Verweis auf eine eigene kleine Umfrage.

Doch anders als von Wissmann und seinen Auftraggebern erhofft, waren die Ergebnisse der MiD-Studie kein Ausrutscher. Ganz ähnliche Entwicklungen beobachten Verkehrsforscher auch in anderen Wohlstandsstaaten. Gleich ob in Japan, Kanada, Schweden, Südkorea oder Großbritannien, in all diesen Ländern erwerben immer weniger junge Leute einen Führerschein und haben ein Auto zur Verfügung. Das gilt sogar im Mutterland der Autokultur, den Vereinigten Staaten. Schon ein Viertel aller Amerikaner unter 34 hat keinen Führerschein mehr. Gleichzeitig sind die gefahrenen Meilen in dieser Altersgruppe von 2000 bis 2009 um ein Viertel zurückgegangen. Genau wie in Europa nutzen die Jüngeren zunehmend andere Verkehrsmittel neben dem Auto, und da vor allem Fahrräder. Zahlreiche amerikanische Kommunen haben daher mit dem Wiederaufbau von Bahn-, Bus- und Radwegnetzen begonnen. Sogar Phoenix in Arizona, Inbegriff der amerikanischen Eigenheimsteppe, legte sich eine Straßenbahn zu.

„Da könnten wirklich mächtige Kräfte am Werk sein“, sagte Michael Tanor, leitender Manager aus der Strategieabteilung des Ford-Konzerns, der Zeitung „Financial Times“. Auch Ferdinand Dudenhöfer, einer der führenden deutschen Experten für die Autowirtschaft, sieht „eine große Veränderung im Gang“. Nur verlaufe dies „sehr langsam“, weil die Älteren dafür umso länger und mehr fahren. Doch auf lange Sicht bahnt sich ein säkularer Wandel an, der die Weltwirtschaft fundamental verändern wird. Schließlich ist die Automobilisierung seit mehr als einem Jahrhundert eine der mächtigsten wirtschaftlichen Triebkräfte überhaupt. Seitdem Henry Ford im Jahr 1914 in Detroit die Fließbandfertigung des Modells T startete und damit den Weg für die Motorisierung der Massen wies, war der Siegeszug des Autos unaufhaltsam. Wo immer die wirtschaftliche Entwicklung es zuließ, geriet es zum wichtigsten Konsumgut der aufsteigenden Mittelschichten – eine Automatik, die in China und Indien noch immer in Reinform läuft.

Für die Generation der deutschen Babyboomer aus den 50er und 60er Jahren, die heute die Führungspositionen besetzen, war das prägend. Das Auto aus den noch von Hitlers Planern angelegten Fabriken für den „KdF-Wagen“ (Kraft durch Freude) wurde als „VW Käfer“ zum Symbol des westdeutschen Wirtschaftswunders. In Wolfsburg rollte schon zehn Jahre nach dem Krieg das millionste Exemplar vom Band. Vielfach war das erste eigene Auto damals Bestandteil des Familienlebens. Nicht selten gaben die stolzen Besitzer ihrem Kultobjekt sogar einen Namen. Zugleich wurde der Besitz des richtigen Gefährts zum Ausweis des persönlichen Erfolgs. 1971 kamen dann schon mehr als zwei Millionen Neuwagen auf die Straßen, nicht zuletzt, weil immer mehr junge Leute ein Auto haben wollten. Für die Nachkriegskinder von einst, die heute in ihren 50ern und 60ern sind, war der Kauf des ersten eigenen Wagens vielfach ein Akt der Emanzipation.

Das änderte sich selbst dann nicht, als die zerstörerischen Folgen der massenhaften Autonutzung offenkundig wurden. Lärm, giftige Abgase und der enorme Platzbedarf für Straßen und Parkplätze wurden schon mit Beginn der 1970er Jahre zum Dauerthema der Verkehrspolitik. „Wir sind drauf und dran, unsere Städte und damit uns selbst zu zerstören“, beklagte der SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel und damalige Oberbürgermeister in München bereits 1971. Bundesweit formierten sich Bürgerinitiativen, um Platzraub und Lärm Einhalt zu gebieten. In Berlin zeugt der Autobahnstummel von Schöneberg nach Steglitz bis heute vom erfolgreichen Widerstand der damaligen „BI Westtangente“ gegen den geplanten Bau einer Autobahn durch die Wohnquartiere auf der Schöneberger Insel.

Aber der Nachfrage nach Blechkarossen tat all das nie einen Abbruch. Im Boom der Nachwendezeit stieg 1991 die Zahl der neu zugelassenen Wagen sogar auf vier Millionen. Seitdem pendelt sie um die 3,2 Millionen im Jahr und noch immer werben die Hersteller vor allem mit dem potenziellen Statusgewinn des Käufers für ihre Produkte. „Ich will Spaß, ich geb’ Gas“ – dieses Motto galt gerade auch bei jungen Leuten. Irgendwann gaben selbst die Grünen ihren Widerstand weitgehend auf. Gegen den lange beklagten „Autowahn“ schien kein Kraut gewachsen. Die Bürger wollten es nun mal so.

Folgt der Autoflut nun die Ebbe? Verkehrsforscher warnen vor voreiligen Schlüssen

Was also hat sich jetzt geändert? Folgt der Autoflut nun die Ebbe? Der Geograf Robert Schönduwe und der Verkehrsplaner Benno Bock warnen vor voreiligen Schlüssen. Die beiden Wissenschaftler vom Berliner „Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel“ (Innoz), die selbst erst Anfang 30 sind, haben alle verfügbaren Studien zum Thema gesichtet und eigene Befragungen durchgeführt. Wissenschaftlich gesichert, so fanden sie heraus, ist nur, dass junge Erwachsene weniger Auto fahren und damit „wesentlich pragmatischer“ umgehen als ihre Eltern, erklärt Schönduwe. Für das Warum gebe es nur Indizien.

Die vermutlich wichtigste Ursache sei, dass junge Leute heute andere Konsumbedürfnisse haben, während gleichzeitig die Preise für Benzin und Autounterhalt stark gestiegen sind. Deshalb reiche ihr knappes Budget nicht für ein eigenes Auto. Reisen und der Kauf des neuesten elektronischen Geräts haben höhere Priorität. Hinzu komme, dass die Ausbildung länger dauert als früher, der erste Job erst später beginnt. Mindestens so wichtig sei aber auch, dass der zeitweilige Verzicht aufs Auto heute leichter möglich ist. Busse und Bahnen sind besser und bequemer, Studenten erhalten Semestertickets und auch Fahrräder sind technisch weit ausgereifter als vor 20 Jahren.

Viel spricht dafür, dass der Umbruch sich weiter beschleunigt. Schuld daran sind Öffi, Carjump, Flinc oder Moovel. Die Kürzel stehen für einige der vielen kleinen Programme, mit denen sich mittels eines Smartphones die eigene Mobilität spielerisch leicht und flexibel organisieren lässt. In den großen Städten sind damit binnen Sekunden die nächsten verfügbaren Bus- und Bahnverbindungen, Leihfahrräder, Mitfahrgelegenheiten oder Carsharing-Angebote abzufragen und zu buchen. Darum seien junge Leute „nicht mehr auf ein Verkehrsmittel fixiert“, berichtet Schönduwe. Vielmehr seien sie „multimodal“ und das Auto für sie nur im Bedarfsfall Mittel zum Zweck. „Flexibel sein ist das Wichtigste“, beobachtet Bock. Mit der Sorge um die Umwelt habe das allerdings wenig zu tun: „Die Gleichen, die zu Hause aufs Fahrrad schwören, fliegen ohne Bedenken mal übers Wochenende nach Barcelona oder London.“

Was das für die Zukunft des Verkehrssystems bedeutet, sei noch nicht ausgemacht, sagen die beiden Forscher. Ob künftig tatsächlich weniger Autos fahren werden, sei „noch eine Glaubensfrage“. Doch auf den Straßen der großen Städte ist der Wandel nicht mehr zu übersehen. Sowohl in Europa als auch in den USA beobachten Verkehrsforscher eine stete Zunahme des Fahrradverkehrs. Erstmals seit Kriegsende wurden im Jahr 2012 in allen Ländern der EU mit Ausnahme von Belgien mehr Fahrräder als Neuwagen verkauft. Gleichzeitig wachsen die Fahrgastzahlen bei Bahnen und Bussen. Und parallel dazu boomt der Markt für die gemeinsam genutzten Autos. „Nutzen statt besitzen“ ist angesagt. Allein im vergangenen Jahr wuchs die Zahl der registrierten Carsharing-Kunden in Deutschland um 67 Prozent auf gut 750 000 Gelegenheitsfahrer, die sich knapp 14 000 Fahrzeuge teilten.

Darauf setzen denn auch die Automobilkonzerne. Daimler-Benz machte mit seinem 2009 gestarteten „Car2go“-Service den Vorreiter. Die blauweißen Smarts sind nicht an festen Standorten geparkt, sondern flottieren frei im Stadtgebiet und die Kunden können per Smartphone das nächststehende finden. Das ist mit 29 Cent pro Minute (17,40 Euro pro Stunde) nicht billig, aber praktisch. Bis 2016 soll der Service auf mehr als 50 Städte in Europa und den USA ausgedehnt werden, und „spätestens dann sind wir auch profitabel“, erwartet Andreas Leo, Sprecher für die Daimler-Tochter „Moovel“. Der exotische Name für die Firma zeigt, wo es langgehen soll. Denn Moovel ist auch die Internetplattform, über die der Konzern demnächst die gesamte Palette von Verkehrsdienstleistungen verkaufen – und dafür Provision kassieren – will. Die Frage, ob die Autoindustrie mit solchen Angeboten nicht ihren eigenen Markt kannibalisiert, hält Leo für abwegig. Ob jemand einen Mercedes kaufe oder nicht, hänge davon nicht ab. Entscheidend sei, dass da ein neuer Markt entstehe. Schließlich bahne sich „eine Revolution“ an, erwartet Moovel-Chef Robert Henrich. Wem es gelinge, „unterschiedlichste Mobilitätsangebote auf einem einzigen Internet-Marktplatz zu bündeln“, dem winke „ein Milliardengeschäft“. Allerdings vermutlich nur für den Ersten auf diesem Markt. Und das könnte auch ein Bahn- oder Ölkonzern sein, die auch damit experimentieren.

Während die Industriestrategen zumindest Pläne schmieden, tun sich die Verkehrspolitiker schwer mit der neuen Ära, jedenfalls in Deutschland. Zwar bekennen sich alle Parteien zur Förderung der Alternativen zum Auto. Doch die Investitionen folgen nicht den Worten. Besonders im Fall Berlin. Nirgendwo sonst wächst die Nutzung von Fahrrad, Bussen und Bahnen schneller als im ewigen Verkehrslabor an der Spree, das schon vor 100 Jahren Vorreiter beim Bau von Bahnen und Ampeln war. Aber die Ausgaben für Fahrradwege und den öffentlichen Verkehr wachsen nicht mit. Während Kopenhagen und London längst schon Schnellstraßen für Fahrräder bauen und den Autoverkehr aus der Stadt drängen, investiert der Berliner Senat noch einmal eine halbe Milliarde Euro in die Verlängerung der Stadtautobahn. Gleichzeitig stehen für Radwege gerade mal zwei Euro pro Einwohner und Jahr zur Verfügung.

Dahinter, so vermutet der junge Verkehrsplaner Benno Bock, stehe die Angst vor einer Autolobby, „die es so gar nicht mehr gibt“, bei Beamten und Politikern aber noch als feste Größe gelte. Dagegen habe schon die Mehrheit seines Jahrgangs, der 2002 an der TU das Studium aufnahm, die Minderung des Autoverkehrs zum Ziel gehabt, um die Städte „lebenswerter zu machen“. Das sei nun Standard in seiner Profession und werde alsbald auch die Praxis der Behörden prägen. „Früher haben Autofahrer für Autofahrer den Verkehr geplant“, sagt Bock, „das ist bald vorbei.“

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