Ein Jahr nach der Wahlfälschung in Belarus: Die wichtigsten Ziele haben die Demonstranten nicht erreicht
Ein Jahr nach dem Beginn der Proteste in Belarus ist Lukaschenko weiter im Amt - und doch hat die Demokratiebewegung das Land verändert. Ein Kommentar.
Die Bilder aus Belarus gingen um die Welt. Vor einem Jahr, am Abend des 9. August 2020, demonstrierten in der Hauptstadt Minsk mehr als 100 000 Menschen gegen die offensichtlich gefälschte Präsidentenwahl, die an dem Sonntag zu Ende gegangen war. Schon in den Wochen zuvor hatte eine bisher unbekannte Aufbruchstimmung das ganze Land erfasst. Der oppositionellen Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja war es gelungen, die Menschen in Belarus zu begeistern, die sich nach Freiheit und Demokratie sehnten, aber kaum noch an einen Wandel geglaubt hatten.
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Dagegen wirkte der Diktator Alexander Lukaschenko wie ein Relikt aus einer fast vergessenen Epoche. Auf die Demonstrationen reagierte das Regime mit massiver Repression, mit Festnahmen, Gewalt und sogar Folter. Selbst dadurch ließ sich die Protestbewegung nicht abschrecken, und in der folgenden Woche gingen wieder Zehntausende auf die Straße.
Doch auch ein Jahr nach dem Beginn der Proteste ist Freiheit für die Menschen in Belarus noch immer nur ein Traum. Die Führungsfiguren der Demokratiebewegung sind entweder im erzwungenen Exil, so wie Swetlana Tichanowskaja, die bereits kurz nach der Wahl das Land verließ, oder sie sitzen hinter Gittern, wie ihre Mitstreiterin Maria Kolesnikowa, der in einem gerade begonnenen Gerichtsverfahren eine lange Haftstrafe droht. Ist die Demokratiebewegung also gescheitert?
Das Regime setzt weiter auf Gewalt
Ihre wichtigsten Ziele – eine Freilassung der politischen Gefangenen und faire Neuwahlen – haben die Demonstrantinnen und Demonstranten von damals nicht erreicht. Heute gibt es mehr politische Gefangene in Belarus als vor einem Jahr, und Lukaschenko ist nicht einmal zum Dialog mit der Opposition bereit.
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Das Regime, das die Sicherheitskräfte weiter hinter sich hat, setzt auf maximale Repression. Derzeit wird eine Nichtregierungsorganisation nach der anderen verboten, Alexander Lukaschenko will der Gesellschaft auch die kleinste Möglichkeit nehmen, sich zu organisieren. Zugleich zeigt er seinen Gegnern, dass sie sich nirgendwo auf der Welt sicher fühlen können. Dies haben die Entführung von Roman Protassewitsch aus einem Ryanair-Passagierflugzeug sowie der gewaltsame Tod eines weiteren Regimegegners in der Ukraine auf makabre Weise bewiesen.
Lukaschenko mit Kalaschnikow - wer hat Angst vor wem?
Trotz dieser ernüchternden Bilanz haben die Proteste in Belarus etwas grundsätzlich verändert. Zumindest für eine gewisse Zeit hat die Angst die Seiten gewechselt. Die Menschen in Belarus gingen zu Zehntausenden auf die Straße, obwohl ihnen Festnahmen und Gewalt drohten. Das war der Moment, in dem plötzlich vieles möglich schien. Das Regime in Belarus konnte sich erstmals nicht mehr sicher sein, die Lage noch unter Kontrolle zu halten. Es gibt ein kurzes Video aus dieser Zeit, das Stärke demonstrieren sollte, aber letztlich ein Zeichen von Angst war: Lukaschenko zeigte sich auf dem kurzen Weg vom Hubschrauber zu seiner Residenz mit einer Kalaschnikow in der Hand.
Es ist zu befürchten, dass das Regime nach diesen einschneidenden Erfahrungen weiter auf größtmögliche Repression setzen wird. Dafür hat Lukaschenko die Rückendeckung aus Moskau, ohne die er sich kaum an der Macht halten könnte. Denn nichts wäre aus Sicht von Russlands Staatschef Wladimir Putin gefährlicher als eine erfolgreiche Demokratiebewegung im Nachbarland.
Für die Europäische Union könnte der Umgang mit einem Regime, das sich von inneren und vermeintlichen äußeren Gegnern in die Ecke gedrängt fühlt, noch zum Problem werden. Seit Wochen lässt Lukaschenko Flüchtlinge in sein Land holen, um sie dann über die Grenze nach Litauen zu schicken. Litauen ist der wichtigste Zufluchtsort für belarussische Regimegegnerinnen und -gegner, in Vilnius lebt Swetlana Tichanowskaja, deren Schutz die dortige Regierung sehr ernst nimmt. Der Versuch, das kleine Land durch Flüchtlinge zu destabilisieren, ist offenbar Lukaschenkos Antwort darauf. Auf den zunehmend unberechenbaren Diktator in Minsk kann die EU nur mit einer klaren, geschlossenen Haltung reagieren – und mit weiteren Sanktionen.