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Pro-russische Separatisten mit Panzern im Osten der Ukraine
© reuters

Krieg in der Ukraine: Die Wahrheit liegt eben nicht in der Mitte

Viele Leser sind sauer auf die Ukraine-Berichterstattung der deutschen Medien. Ihr Misstrauen ist legitim. Aber nicht jede Sicht auf den Krieg ist gleich wahr, meint Alice Bota von der "Zeit". Ein Kommentar.

Leser B. schreibt. Beklagt sich über die Ukraine-Berichterstattung, sie sei irreführend und falsch. Ich bin die vergangenen Monate vor Ort gewesen, habe berichtet über den Maidan (ja, auch über die Rechtsextremen), über ukrainische Freiwilligen-Bataillione, den Abschuss der MH 17, die Wahlen, den Krieg, die Opfer von Donezk. Seine Kritik gilt auch mir, deshalb schreibe ich zurück. Was so irreführend sei?, frage ich. Welche Fehler ich gemacht habe? Denn dass ich welche gemacht habe, halte ich für gut möglich, für wahrscheinlich sogar, jeder macht Fehler. Die Frage ist, wie schwerwiegend sie sind und wie ich sie richtigstellen könnte. Ein Fehler wird erst dann zur Lüge, wenn er bewusst gemacht wurde, um zu verschleiern und zu täuschen.

B. antwortetet auf eine Art, die ich schon von anderen wütenden Lesern kenne, die ihre Kritik genauer zu fassen versuchen: Wie man denn dazu komme, zu behaupten, Russland sei an dem Krieg in der Ostukraine beteiligt? Dafür gebe es keine Beweise!

Es gibt Beweise für die Beteiligung der Russen

Meist schreibe ich dann ausführlich zurück. Doch, schreibe ich, es gibt Beweise. Es gibt russische Soldaten, die in Särgen aus der Ukraine heimkehren und Angehörige, die nicht über ihr Leid sprechen dürfen. Es gibt russische NGOs wie das Komitee der Soldatenmütter, die versuchen nachzuvollziehen, wie viele ihrer Söhne bereits in der Ukraine starben. Es gibt Berichte wie die des Armament Research Services, die russische (aber nicht nur die) Waffen in der Ostukraine identifizieren konnten – mal davon abgesehen, dass man sich doch zumindest wundern muss, wenn binnen weniger Monate ein Haufen lokaler Aufständischer eine professionellere Armee hat als die Ukraine. Es gibt russische Geheimdienstler wie Igor Girkin, der an der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine beteiligt war und offen über die russische Taktik spricht.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Was es nicht gibt, ist das Eingeständnis des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass er Krieg führt in der Ostukraine. Und für viele scheint nichts wahr sein zu können, was Putin nicht bestätigt hat.

Doch selbst das Wort des russischen Präsidenten scheint nicht immer zu reichen. Es ist Monate her, dass Putin zugegeben hatte, seine Soldaten auf die Krim geschickt zu haben. Aber erst jetzt, als er im russischen Fernsehen wieder davon sprach, scheint diese Tatsache in Deutschland wirklich anzukommen.

Noch vor einem Jahr wurden Medien, vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender, dafür angegangen, wenn sie das Offensichtliche aussprachen: dass russische Soldaten die Krim besetzten. Jeder, der vor Ort war, konnte es selbst sehen, ja, konnte sogar die Soldaten danach fragen. Aber das zu sagen oder zu schreiben? Unterstellungen! Vorurteile! Lügen!

Die Flucht in die Relativierung

Der Leserbrief von Herrn B. steht für ein Phänomen, nämlich die Flucht in die Relativierung, wenn es um die russische Politik geht. Mal speist sich diese Relativierung aus der Angst, dass Deutschland in diesen Krieg hineingezogen werden könnte, mal aus dem Misstrauen gegenüber den Amerikanern, mal aus dem Hass auf sie; mal aus einer empfundenen historischen Schuld gegenüber Russland (die paradoxerweise selten den Ukrainern, Belarussen und Polen zuteil wird); mal aus Europaverachtung; mal aus Überforderung.

Die Relativierung ist ein Prinzip der Propaganda, wie sie das russische Fernsehen betreibt, die aber längst über die russischen Grenzen hinaus wirkt. Alles muss denkbar und auch das Offensichtliche nur als eine Variante von vielen erscheinen. Indem viele unterschiedliche, sich widersprechende Versionen gestreut werden (beim Abschuss der MH-17 hieß es, die Passagiere seien schon tot gewesen, von Amerikanern getötet, oder: der Abschuss habe Putin gegolten); indem falsche Fakten so oft wiederholt werden, bis sie richtig erscheinen (zum Beispiel, dass amerikanische Blackwater-Söldner in der Ukraine kämpfen. Bislang ist das Unsinn). Bis nichts mehr wahr ist und alles möglich scheint, wie der Autor Peter Pomerantsev sein Buch über das moderne Russland nannte (Nothing is true and everything is possible, 2014).

Die russischen Staatsmedien machen keine Fehler, sie lügen

Pomerantsev, der viele Jahre als TV-Produzent in Russland gearbeitet hat, beschreibt unter anderem, wie der Kreml sowjetische Kontrolle mit westlicher Unterhaltung synthetisiert und so die Gesellschaft betäubt. "Die Nachrichten sind der Weihrauch, mit denen wir Putins Handlungen preisen, ihn zum Präsidenten machen", zitiert Pomarentsev russische TV-Produzenten. Pomarentsev zeigt, dass TV-Nachrichten in Russland nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, sie sind Unterhaltung. 

Die russischen Staatsmedien machen keine Fehler, sie lügen. Und wenn sie dabei ertappt werden, wie bei der Geschichte von dem Kind, das angeblich von ukrainischen Faschisten gekreuzigt wurde, dann scheren sie sich nicht drum.

Wenn ich auf Leserbriefe wie den von Herrn B. antworte, wenn ich auf seine Argumente eingehe, widerlege, was falsch ist, äußere, was mir richtig erscheint, dann entwickelt sich oft ein interessanter Dialog. Und meistens wird deutlich, dass Misstrauen und Unbehagen die treibenden Kräfte sind: Was für Interessen verfolgen die Amerikaner in der Ukraine? Fühlt Russland sich nicht zu recht bedroht? Haben die Europäer nicht Fehler gemacht?

Über all das kann man reden, über all das muss man schreiben. Aber die Wahrheit, dieses große, so oft missbrauchte Wort, sie liegt nicht immer in der Mitte. Man kommt ihr nicht durch Relativierung auf die Spur. Alles in die Welt zu posaunen, auch den gröbsten Unsinn, jeden zu Wort kommen zu lassen, ohne einzuordnen, wer in welcher Funktion spricht und warum – das ist nicht Pluralität, sondern die Illusion davon.

Dieser Text ist zuerst bei Zeit Online erschienen.

Alice Bota

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