Perspektivlos in Frankreich: Die verlorene Jugend
„Desillusioniert“, „geopfert“ – mit diesen Wörtern beschreiben junge Franzosen ihr Lebensgefühl. Ein Viertel von ihnen ist arbeitslos, das Land biete ihnen keine Perspektiven, sagen viele. Deshalb wächst die Zahl derer, die im Ausland ihr Glück suchen. Etwa in Deutschland.
Sie nennen sich Miss Zoé, Juju und Colette. Sie bezeichnen sich selbst als französische verlorene Mädchen, als „Die Frenchies – French lost girls“. Auf dem gleichnamigen Blog schreiben sie über ihre Gedanken und Gefühle, über das Weggehen von zu Hause und das Ankommen. Über die Suche nach sich selbst und dem perfekten Typen. Die Idee zu den Frenchies kam der 26-jährigen Julie Kemtchuiang vor anderthalb Jahren. Da war sie oft in Berlin bei ihrem Ex-Freund. „Zu der Zeit hatte ich keinen Job. Es war diese merkwürdige Phase nach dem Studium. Du hast die totale Freiheit, zu tun, was du willst. Aber keiner gibt dir ’nen Arschtritt und sagt: Hey Kleine, jetzt hör auf, dir irgendwelche TV-Serien reinzuziehen und leg los!“
Nun ist sie wieder in Paris. Sie trägt ein enges graues Steppkleid, taillierte Lederjacke und einen schwarzen Bubikopf. Im Szenecafé „Aux folies de Belleville“ rührt sie in einem Cappuccino. Vor ihr liegt eine Schachtel Zigaretten, und weil in den unergründlichen Tiefen ihrer Handtasche partout kein Feuerzeug zu finden ist, muss der Nachbartisch aushelfen.
Viele junge Franzosen stimme der Blick in die Zukunft traurig, sagt Julie Kemtchuiang. „Ich habe Frankreich nicht verlassen, weil ich mein Land nicht lieben würde. Im Gegenteil. Aber alle beschweren sich die ganze Zeit. Es gibt eine permanente Aggressivität, fast eine gewalttätige Stimmung.“ Das Klima habe sich in den letzten Jahren weiter verschlechtert: Junge Leute fühlten sich vergessen, verraten, geopfert. Sie hätten doch alles getan, was die Gesellschaft von ihnen erwarte. Nur gebraucht würden sie heute nicht mehr, da draußen sei keiner, der auf sie warte. „Ein Studienabschluss zählt inzwischen nichts mehr.“ In Deutschland und England bekomme man eher Chancen, sich zu integrieren, findet Julie. In Frankreich hingegen sei man „nie gut genug“.
Sie klammerte sich ans Bloggen
Sie erzählt, wie sie ihren ehemaligen Freund während eines Erasmus-Aufenthaltes in England kennengelernt hat: „Der war ein typischer Berliner, er studierte noch mit Mitte 20 und machte ständig Party. Das ging mir manchmal ziemlich auf die Nerven.“ Um nicht selbst dem Lotterleben zu verfallen, nahm sie Deutschunterricht und klammerte sich an das Bloggen. In einem Eintrag mit dem Titel „Die Krise mit 25“ rät sie ihren Lesern: „Ruft euch bloß nicht eure Jugend ins Gedächtnis, um nicht an all die Orte zu denken, die ihr nicht gesehen habt, nicht an die Roadtrips, die ihr nicht gemacht habt, an die Ziele, die ihr nicht erreicht habt, die Liebesgeschichten, die ihr nicht erlebt habt, oder an die Typen, mit denen ihr nicht gevögelt habt. Das ist zu traurig.“
Nachdem ihre Beziehung in die Brüche gegangen war, kehrte Julie nach Paris zurück, studierte trotz ihres Jura-Masters erneut, diesmal Unternehmenskommunikation. Mit zwei anderen Französinnen schreibt sie weiter „Die Frenchies“. Jetzt sucht sie nach einem Job. Allerdings nicht in Frankreich, sondern im Ausland, vielleicht in England oder wieder in Berlin. Ihre Landsleute trauerten einem verfaulten, überkommenen System nach. Sie wünschten sich eine Vaterfigur an der Staatsspitze. Einen Mann mit dem Format von de Gaulle oder Mitterrand. „Aber die Zeiten sind vorbei, in denen man sich vormachen kann, der Staat könne uns alle retten.“ Julie will nicht eines Tages melancholisch auf verpasste Gelegenheiten zurückschauen müssen, nicht verharren im „pessimisme français“.
Schwerwiegende Zukunftskrise
Die Signale für den schlechten Gemütszustand junger Franzosen sind alarmierend. Sie finden sich etwa in der groß angelegten Studie „Génération quoi?“ (Generation warum?). France Télévision und das Meinungsforschungsinstitut INSEE befragten in den letzten Monaten über 210 000 Jugendliche im Alter von 18 bis 25 Jahren. Das Ergebnis ist erschreckend: Die häufigsten Zustandsbeschreibungen für ihre Generation lauten: „verloren“, „geopfert“, „desillusioniert“. 70 Prozent der Befragten haben das Gefühl, dass die französische Gesellschaft ihnen nicht ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu zeigen.
Wie sich diese Unzufriedenheit auswirken kann, wurde jüngst bei den Europawahlen sichtbar: Bei den unter 35-Jährigen war die Stimmenthaltung mit 73 Prozent überdurchschnittlich hoch. 30 Prozent von ihnen stimmten für den rechtsextremen Front National. Das Votum zeigt die wachsende Frustration gegenüber den etablierten Parteien und der gesellschaftlichen Elite.
Anfang Juni warnte der französische Soziologe Louis Chauvel, Professor an der Universität Luxemburg, in der linksliberalen Tageszeitung „Le Monde“ vor einer schwerwiegenden Zukunftskrise. Frankreich opfere seine Jugend, da diese ganz im Gegensatz zu den skandinavischen Ländern oder auch Deutschland nicht mehr vom Wirtschaftswachstum und dem existierenden Wohlstand profitiere. Im Gegenteil: In Südeuropa seien die Einkommen junger Arbeitnehmer teilweise bis zu 30 Prozent geringer als die ihrer Vorgängergeneration. Nirgendwo anders hat sich die Kluft zwischen Jungen und Alten so sehr vergrößert wie bei unseren Nachbarn: „Seit 1984 ist das Lebensniveau der 30-Jährigen im Vergleich zu den 60-Jährigen um 17 Prozent gesunken“, errechnete Chauvel.
Jeder vierte Franzose unter 25 Jahren ist derzeit ohne Job
Ganz zu schweigen von der dramatisch hohen Jugendarbeitslosigkeit in Ländern wie Griechenland, Spanien und eben Frankreich. Jeder vierte Franzose unter 25 Jahren ist derzeit ohne Job. „Die französische, ebenso wie andere mediterrane Gesellschaften rettet der Komfort der Älteren, was aber gleichzeitig Schwierigkeiten bei der Integration junger Menschen bereitet.“ Die verlorenen Ressourcen könnten im Erwachsenenalter auch nicht mehr aufgeholt werden, so Chauvels Analyse. „Das wachsende Niveau der Universitätsabschlüsse hat eine Generation hervorgebracht, die eigentlich der oberen Mittelschicht angehört, doch deren Einkünfte unter jene der unteren Mittelschicht der Elterngeneration gesunken sind.“ Die Berechnungen von Chauvel spiegeln sich deutlich in der Wahrnehmung der Betroffenen wider. 60 Prozent der Befragten von „Génération quoi?“ glauben, sie würden nicht entsprechend ihrer Qualifikation bezahlt. Einer von zwei unter 25-Jährigen sieht die Schuld für ihre schwierige Lage bei den Vorgängergenerationen. Es überwiegt der Eindruck, die Sparanstrengungen der Regierung, ob bei der Rentenreform oder bei Investitionskürzungen, gingen auf ihre Kosten.
Dabei versucht Frankreichs Präsident François Hollande vehement für mehr Investitionen in Europas Jugend zu werben. Er fordert eine „Agenda für Wachstum und Wechsel“ und wird dafür die Brüsseler Defizitvorgaben erneut missachten müssen. Die besonders von Deutschland geforderte Sparpolitik zur Senkung der Staatsschulden bremse das Wirtschaftswachstum in den Südländern. Das „deutsche Spardiktat“ sei eine Last, die einzelnen Staaten und die EU müssten in Forschung, Innovation, Energie, Gesundheit und Ausbildung investieren, kurz in die Jugend.
Versprechen: milliardenschwere Investitionen
Während die Politiker einen Aufschwung und milliardenschwere Investitionen versprechen, sucht jeder vierte junge Franzose Tag für Tag nach einer Chance auf dem Arbeitsmarkt. Einer von ihnen ist Fabrice. Im Nordosten von Paris, nahe dem berühmten Friedhof Père Lachaise, lebt er allein auf 32 Quadratmetern. In der Hauptstadt geradezu ein Luxus, für den er monatlich 800 Euro aufbringen muss. Die kleine Küchenzeile im Wohnzimmer ist vollgestellt. Fabrice hat Frühstücksteller auf den flachen Couchtisch gestellt und erzählt vom Gespräch mit seiner Freundin am Vorabend. „Es ging natürlich um Geld. Ich will mit ihr in den Sommerurlaub fahren, aber dann müsste ich mich ziemlich einschränken in den kommenden Wochen. Kann ja auch sein, ich bekomme eine Stelle und kann erst mal gar nicht verreisen.“ Seit vier Monaten ist Fabrice arbeitslos. Für den 31-Jährigen ist es nicht das erste Mal.
Schon mit Mitte 20 suchte er fast anderthalb Jahre nach einem Job. Nach dem Studienabschluss im Fach Kommunikation/Marketing und einem Erasmus-Jahr in Spanien, besuchte er zwei Jahre lang die Journalistenschule in Marseille. „Mir war schon klar, dass es nicht einfach werden würde. Aber so schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt“, gibt er zu. Den Journalistenberuf schrieb er dann schnell als zu unsicher ab. Er jobbte als Aufseher an einer Schule, landete später als „Berater“ bei einer Rentenkasse, wo er hauptsächlich Adressen und Bankverbindungen im Computersystem änderte. Mit 27 begann er erneut eine Weiterbildung zum Projektmanager für die Konzeption von Webseiten in einer namenhaften Pariser Agentur. „In dem Alter fühlst du dich als totaler Loser, wenn du wieder Auszubildender bist, während andere schon mitten im Leben stehen.“
Eine der teuersten Städte Europas
Innerhalb eines Jahres sah Fabrice mehr als ein Dutzend Angestellte kommen und gehen. Ein Posten wurde in dieser Zeit gleich vier Mal neu besetzt. „Für den Chef lief es prima. Die Neuankömmlinge haben immer 200 Prozent gegeben. Mich hat es total verwundert, warum ihm lieber ist, dass die Leute schnell wieder verschwinden.“ Fabrice beschreibt Szenen der Erniedrigung, mangelnde Solidarität unter den Mitarbeitern, Konkurrenzkämpfe und die ständige Angst vor Kündigungen. Auf seiner nächsten Stelle blieb er immerhin zwei Jahre. Als seine Firma mit einer anderen fusionierte, wurde er überflüssig. Wieder zurück auf null, wieder ganz neu anfangen müssen. Momentan bekommt er 70 Prozent seines letzten Gehaltes, 1400 Euro netto. Nach Abzug der Fixkosten bleiben im Monat 400 Euro in einer der teuersten Städte Europas. Gerade hat Fabrice wieder eine Absage auf eine Bewerbung erhalten. „Dabei lief das Gespräch total gut.“
Anders als Julie hofft Fabrice noch immer auf eine Chance im eigenen Land. „Ich glaube nicht, dass ich so bald eine Familie gründen und ein geregeltes Leben führen kann.“ Die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg, vor Abhängigkeit von der Unterstützung der Eltern wächst. Dabei steht für Frankreich viel auf dem Spiel, wenn seine Jugend nicht mehr an eine bessere Zukunft glaubt und ihr Glück zunehmend im Ausland sucht. „Wir ,Lost french girls’“, sagt Julie Kemptchuiang, „sind eigentlich zuallererst ,Lost in France’.“
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.
Romy Strassenburg