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Europaweite Solidarität: Teilnehmer:innen einer Friedenskundgebung in Madrid protestieren gegen den Krieg.
© Imago

Kleiner Schritt, große Wirkung: Die Ukraine sollte Mitglied im EU-Wirtschaftsraum werden

Die Vollmitgliedschaft in der EU ist in weiter Ferne. Aber es gibt anderes, das für die Ukraine getan werden sollte. Ein Gastbeitrag.

Auf dem Gipfel in Versailles hielt sich die EU wieder vornehm zurück. Die Ukraine erhielt die Beteuerung, dass sie zur „europäischen Familie“ gehöre, aber keine Beitrittsperspektive. Dennoch, und trotz der Bomben, die gerade auf ukrainische Städte fallen, ist der Beitrittsantrag, den Kiew wie auch die Republik Moldau und Georgien in der vergangenen Woche stellten, ein politisch bedeutender Akt. Eine Beitrittsperspektive darf jetzt keine leere Geste bleiben. Dafür müsste die Europäische Union bereit sein, die überkommenen Pfade ihrer bisherigen EU-Erweiterungspolitik zu verlassen.

Wir sollten uns nicht in die Tasche lügen: Ein EU-Kandidatenstatus hat so gut wie keine praktische Bedeutung. Und vielleicht wird er über Jahre oder sogar Jahrzehnte auch keine erlangen. Das ist die Erfahrung der Länder des Westbalkans, die seit vielen Jahren Anwärter auf die EU-Mitgliedschaft sind. Der Grund dafür ist der mühsame und überbürokratisierte Verhandlungsprozess. Es sind hohe Reformanforderungen, die aus gutem Grunde formuliert wurde, die aber in der Praxis von erweiterungskritischen Ländern in der EU instrumentalisiert werden können. Gerade die in wichtigen Mitgliedstaaten tiefsitzende Erweiterungsskepsis wird trotz aller Sympathien für die Ukraine nicht schnell verfliegen.

[Piotr Buras ist Leiter des Warschauer Büros des Think Tank European Council on Foreign Relations. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.]

Der EU-Beitrittsprozess, dessen Anfang stets gehobene Reden und symbolkräftige Gesten markieren, stand daher in den letzten Jahren eher für Stagnation als für Zuversicht, die die Osteuropäer ja so bitter benötigen. Also muss – Kandidatenstatus hin oder her – die EU die Politik gegenüber ihren europäischen Nachbarn grundsätzlich verändern.

Volle Teilnahme am Binnenmarkt ohne politische Eingliederung

Was heißt das konkret für die Ukraine? Zunächst bräuchte die Ukraine, so sie den Krieg als souveräner Staat übersteht, natürlich einen Erneuerungs- und Wiederaufbauplan. Ohne funktionierende staatlich-administrative Strukturen oder ohne intakte Infrastrukturen hätte die EU keinen echten Partner, mit dem sie überhaupt verhandeln kann. Außerdem benötigt das Land ein realistisches und attraktives Ziel, das den Weg in Richtung EU konkretisiert. Denn selbst wenn die Ukraine formeller Beitrittskandidat wäre, steht außer Frage, dass eine Vollmitgliedschaft in der EU in weiter Ferne läge. Es würde auch für die geschundene Ukraine kein beschleunigtes Verfahren geben, keine Rabatte in Sachen Rechtsstaatlichkeit oder bei der Umsetzung von Beitrittsbedingungen. Die EU braucht darum eine neue Strategie, um eine „immer engere Partnerschaft“ mit Ländern in der östlichen Nachbarschaft zu entwickeln.

Kern eines neuen realistischen Angebots könnte die baldige Integration in den Gemeinsamen Markt in Form eines Beitritts der Ukraine zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sein. Die Mitgliedschaft im EWR unterscheidet sich von der in der EU insbesondere dadurch, dass er eine volle Teilnahme am Binnenmarkt ermöglicht, ohne dass damit die politische Eingliederung in die Entscheidungsstrukturen der EU vollzogen wird. Das ist die maximale Integration mit der EU ohne formale Mitgliedschaft. Für die Ukraine sowie die Republik Moldau und Georgien (das gilt aber auch für die Westbalkanstaaten) ergäbe sich so eine intensivere Anbindung an die EU als dies mit den jetzigen Assoziierungsabkommen möglich ist.

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Natürlich erfordert auch ein EWR-Beitritt viele Vorbereitungen und Anpassungen, aber ohne die Aussicht, etwa die Ukraine in die Institutionensysteme der EU aufnehmen zu müssen, fällt ein wichtiges Argument gegen ihre Einbindung in einen Kernbereich der europäischen Integration weg. Der Unterschied zum stark politisierten EU-Erweiterungsprozess, bei dem die Gemütslage und die Partialinteressen von Mitgliedstaaten immer wieder Blockaden hervorrufen, wäre also gewaltig.

Die Perspektive eines Beitritts zum EWR müsste gleichwohl auf klaren Kriterien und einer festen Verpflichtung der Europäischen Union basieren. Damit wäre ein konkretes und greifbares Zwischenziel definiert, das Anreize für Reformanstrengungen liefert, ohne damit das Ziel der Vollmitgliedschaft aufzugeben. Im Gegenteil: Die politischen Vorbehalte gegen die Aufnahme eines Landes wären deutlich geringer, wenn diese für die EU-Mitgliedschaft sowieso notwendige Zwischenetappe erfolgreich absolviert würde.

Es klingt illusorisch, doch die EU kann nicht einfach verharren

Dass es im Fall der durch den Krieg wirtschaftlich geschwächten Ukraine zeitlich befristete, asymmetrische Schutzmaßnahmen für den dortigen Markt geben müsste, steht außer Frage. Auch sollte die Europäische Union darüber nachdenken, nach einem eventuellen EWR-Beitritt in gewissem Umfang eine Teilinklusion in die Gemeinsame Agrarpolitik für Teilnehmerländer anzubieten.

Da dieses Ziel weit in der Zukunft liegt, ist es umso wichtiger, bestehende Formen der Zusammenarbeit zwischen der EU und integrationswilligen Ländern jenseits ihrer Ostgrenzen in den kommenden Jahren zu vertiefen und neue zu etablieren. Vor allem in der Energie- und Klimapolitik. Die EU strebt heute nicht nur Klimaneutralität für 2050, sondern auch eine Revision ihrer Energiesicherheitspolitik an. Die Ukraine und andere Nachbarländer, die der EU beitreten wollen, müssen von Anfang an als Teil dieser Transformation mitgedacht werden.

Daher könnte auch eine integrierte „Europäische Klima- und Energiepartnerschaft“ mit diesen Ländern entwickelt werden. Im Austausch für einen nachhaltigkeitsorientierten Umbau, der durch einen Grünen Fonds für Osteuropa unterstützt werden könnte, würden die Partner zum Beispiel vom geplanten CO2-Grenzausgleich CBAM ausgenommen werden. Auch könnte das Prinzip der Energiesolidarität auf sie ausgedehnt wird. Dass die EU sich bereit erklären sollte, ihre Anstrengungen für bessere energiewirtschaftliche Resilienz von Nachbarländern auszubauen, zeigt jüngst unter anderem das Beispiel Moldau. Gewiss ließen sich in einen solchen Kooperationsrahmen auch die Länder des Westbalkans einbauen.

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Das alles klingt in Tagen des Kriegs abstrakt, ja illusorisch. Und dennoch kann die EU nicht einfach verharren. Wenn sie jetzt aktiv wird, hat sie die Chance, einmal den Geschehnissen ein paar Schritte voraus zu sein und nicht nur hinterherzulaufen. Es ist offensichtlich, dass Deutschland und Polen dafür prädestiniert sind, eine Rolle als Schrittmacher, als Initiativen-Starter zu spielen. Sie sollten sich grundsätzlich dafür einsetzen, dass die Ukraine den Kandidatenstatus erhält. Angesichts bestehender Differenzen in dieser Frage sollten sie sich aber nicht in Grundsatzdiskussionen verstricken, sondern gemeinsam auf ambitionierte, aber realistische Ziele konzentrieren. Zusammen mit anderen Ländern, insbesondere aus Mittel- und Nordeuropa, sollten Deutschland und Polen eine informelle Koalition von Mitgliedstaaten anstoßen, die Projekte wie den Beitritt zum Gemeinsamen Markt oder eine neue Klima- und Energiepartnerschaft voranbringen. Gerade Deutschland und Polen sind jetzt gefordert, in europäischer Verantwortung gemeinsam Zeichen der Hoffnung zu setzen.

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