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Linksextreme Aktivisten bewerfen Polizisten mit Molotow-Kocktails, als diese eine Demonstration in Istanbul auflösen wollen. Die Türkei ist ein gespaltenes Land.
© AFP

Kurden, IS, Lira: Die Türkei steht am Abgrund

Das Land am Bosporus steckt in der Krise. Im Inneren greifen Extremisten an, von außen der IS, die Lira stürzt ab, der Präsident spaltet, statt zu einen. Was ist los in der Türkei?

Mehr als 30 Tote bei Gefechten an nur einem Tag, Rufe nach der Verhängung des Kriegsrechts, eine politische Krise und eine Währung, die ins Bodenlose stürzt: In der Türkei verbreitet sich das Gefühl, das Land rase auf einen Abgrund zu. Präsident Recep Tayyip Erdogan, der als Staatschef eigentlich die Rolle als Versöhner spielen sollte, tut alles, um die Spannungen noch weiter anzuheizen. Ihm geht es um die anstehenden vorgezogenen Neuwahlen, doch einige Beobachter attestieren dem Präsidenten einen zunehmenden Realitätsverlust: Erdogan sei „kein rationeller Akteur“ mehr, meint der Politologe Behlül Özkan.

Welche Gruppen kämpfen in der Türkei?
Vor einem Monat, am 20. Juli, sprengte sich ein Anhänger der Dschihadisten-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) in der Stadt Suruc an der syrischen Grenze in die Luft und tötete mehr als 30 Menschen. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gab Ankara eine Mitschuld an dem Terrorakt und begann mit Mordanschlägen auf türkische Polizisten und Soldaten. Die türkische Regierung antwortete mit massiven Luftangriffen auf PKK-Stellungen im Nordirak und Südostanatolien.
Seitdem eskalieren die Gefechte immer weiter. Allein am Mittwoch starben nach Regierungsangaben acht Soldaten und 24 PKK-Kämpfer. Die PKK hat im Südosten mehrere Gebiete für „autonom“ erklärt, errichtet Straßensperren und tötet Soldaten mit Sprengfallen im Straßengraben. Die Armee setzt Flugzeuge, Kampfhubschrauber und gepanzerte Fahrzeuge ein – der Waffenstillstand von 2013, der zwei Jahre lang hielt und dem Kurdengebiet Hoffnung auf Frieden gab, liegt in Trümmern.
Unterdessen droht der IS mit Anschlägen in der Türkei und ruft zum Sturz des „Teufels Erdogan“ auf. Die Türkei errichtet eine Mauer an der Grenze zu Syrien, um IS-Mitglieder am Übertritt zu hindern, doch laut Presseberichten verfügen die die Extremisten längst über Sprengstoff und Schläferzellen in der Türkei.
Auch die linksextreme Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) meldet sich verstärkt mit Gewalttaten zurück. Mitglieder der Gruppe beschossen vergangene Woche das US-Konsulat in Istanbul und griffen am Mittwoch die Ehrenwache am Dombabahce-Palast im Zentrum der Metropole an.

Was tut die Politik?
Die Gewaltwelle im Land ist ein Faktor im beginnenden Wahlkampf für die Parlamentsneuwahl, die laut Wahlamt schon am 1. November stattfinden könnte. Die Nationalistenpartei MHP fordert die Verhängung des Ausnahmezustandes über Teile Ostanatoliens. Erdogans Regierungspartei AKP versucht, die legale Kurdenpartei HDP in die Nähe der PKK zu rücken, um auf diese Weise Wähler zurückzugewinnen, die sie bei der Wahl im Juni verloren hatte.
In der aufgeheizten Stimmung schlägt auch der Streit zwischen Regierung und Opposition in Gewalt um. Unbekannte eröffneten in Istanbul das Feuer auf den Wagen von Murat Sancak, den Chef der regierungsnahen Mediengruppe Star. Sancak blieb unverletzt. AKP-Anhänger machten die HDP für den Anschlag mitverantwortlich.
Nachdem die AKP im Juni ihre absolute Mehrheit im Parlament einbüßte, führte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, Erdogans Statthalter als AKP-Chef, wochenlange Gespräche zur Bildung einer Koalition, scheiterte aber. Die meisten Beobachter sind sich einig, dass dieses Scheitern von Erdogan gewollt war: Der Präsident ist sicher, bei Neuwahlen die absolute Sitzmehrheit der AKP zurückgewinnen zu können. Erdogans Fernziel bleibt die Errichtung eines Präsidialsystems mit ihm selbst an der Spitze.
Allerdings sagen die Umfragen voraus, dass die HDP auch bei einer Neuwahl mehr als zehn Prozent der Stimmen erhalten und damit im Parlament bleiben wird. Mehrere Institute halten es sogar für möglich, dass die HDP ihren Wähleranteil noch über die im Juni erreichten 13 Prozent hinaus ausbauen kann. Das würde es der AKP sehr schwer machen, die absolute Mehrheit von 276 Mandaten zu erreichen. Ohne absolute Mehrheit für eine Partei wird nach der Neuwahl die Suche nach einer Koalition von vorne losgehen.
Bis zur Wahl wird in Ankara voraussichtlich eine Übergangsregierung gebildet, der laut Verfassung alle Parteien angehören sollen. Da CHP und MHP dabei nicht mitmachen wollen, bleiben AKP und HDP: Es wäre das erste Mal in der Geschichte der Türkei, dass eine Kurdenpartei in der Regierung sitzt. Laut Medienberichten soll die HDP die Ministerien für Landwirtschaft, Tourismus und Fortwirtschaft erhalten.

Präsident Erdogan setzt auf Neuwahlen

Wie reagiert die Wirtschaft?
Nach der Wahl vom Juni wünschte sich die türkische Wirtschaft die Bildung einer Großen Koalition aus AKP und CHP, wurde aber enttäuscht. Die politischen Unwägbarkeiten, verbunden mit der eskalierenden Gewalt, machen den Investoren Sorgen. Ohnehin gehört die Türkei zu jenen Schwellenländern, die wegen der bevorstehenden Zinsanhebung in den USA mit einem starken Abfluss von ausländischem Kapital zu rechnen haben. Gleichzeitig steigt stetig die Arbeitslosigkeit.
Die Aussicht auf einen neuen Wahlkampf mit anschließender, möglicherweise erneut schwieriger Regierungsbildung macht die Lage nicht besser. Die Türkische Lira rutschte in den vergangenen Tagen so stark ab, dass jetzt erstmals mehr als drei Lira für einen US-Dollar gezahlt werden müssen. Seit Jahresbeginn hat die türkische Währung ein Viertel ihres Wertes verloren.
Das kann der Türkei teuer zu stehen kommen, denn das Land ist von Energie-Importen abhängig, die in Dollar bezahlt werden müssen. Energieminister Yildiz beziffert allein die Mehrkosten für Erdgas-Einfuhren seit Anfang des Jahres auf umgerechnet 3,4 Milliarden Euro.
Verluste stehen auch beim Tourismus ins Haus. Die Fremdenverkehrsbranche meldet Stornierungen von Urlaubern, denen die Türkei nicht mehr sicher erscheint. Viele russischen Feriengäste bleiben wegen der westlichen Ukraine-Sanktionen in dieser Saison ohnehin weg. Der Wirtschaftsjournalist Ugur Gürses sieht wegen der desolaten Lage von Politik und Wirtschaft eine baldige Abstufung der Türkei durch die internationalen Rating-Agenturen voraus.

Was ist Erdogans Rolle?
Als Staatsoberhaupt steht Erdogan laut Verfassung über den Parteien, doch der 61-jährige verhält sich so, als wäre er immer noch der AKP-Chef, der gegen die politischen Gegner zu Felde zieht. Fast jeden Tag attackiert Erdogan seine Kritiker und verschärft seinen Ton immer weiter. Zuletzt bezeichnete er kritische Journalisten und „so genannte Intellektuelle“ als „niedriger als Vieh“. Damit bezog sich Erdogan auf die „Höhen“-Sure des Koran, in denen von Menschen die Rede ist, die Herzen haben, aber nicht verstehen, Augen haben, aber nicht sehen, Ohren haben, aber nicht hören. In der Türkei müsse sich nun jeder entscheiden, sagte Erdogan: für den Staat oder für den Terror. Will heißen: für Erdogan oder gegen ihn.
Diese Polarisierung der Wählerschaft ist eine der Lieblingsmethoden Erdogans, der damit in vielen Wahlkämpfen die Anhänger der AKP mobilisieren konnte. Bei der Juni-Wahl versagte das Rezept allerdings. Auch jetzt gibt es Zweifel an der Strategie. Einer der Gründe ist, dass Erdogans Plan zur Errichtung eines Präsidialsystems bei den Wählern nicht recht ankommt. Dennoch bleibt er bei seinem Ziel: Kürzlich erklärte er, faktisch existiere in der Türkei bereits ein Präsidialsystem, nur müsse die Verfassung daran noch angepasst worden. Die Opposition kommentierte, Erdogan wolle nicht der Verfassung gehorchen, sondern erwarte, dass die Verfassung ihm gehorche.
Selbst in der AKP gibt es Bedenken wegen Erdogans Kurs. Der große Chef verliere jeden Tag mehr die Kontrolle über die Partei, ließ sich ein AKP-Vertreter von der Nachrichtenagentur Reuters zitieren. Der Journalist Yavuz Baydar schrieb in der regierungskritischen Zeitung „Today’s Zaman“, die frühere Reformpartei AKP handele unter Erdogans Druck gegen ihre eigenen Ziele. Baydar sieht eine „ideologischen Implosion“ der AKP als „selbstzerstörerische Folge“ des von Erdogan verordneten Kurses.

Gibt es Licht am Ende des Tunnels?
Derzeit sind keine Entwicklungen oder Akteure in Sicht, die das Land schnell wieder beruhigen könnten. Vereinzelt wird über eine Rückkehr des allseits respektierten Ex-Präsidenten Abdullah Gül in die aktive Politik spekuliert, doch da Gül ein politischer Konkurrent für Erdogan wäre, ist seine Rückkehr in die Regierung eher unwahrscheinlich.
Eine endlose Eskalation der Gewalt mit einer weiter wachsenden Zahl von Todesopfern unter den Sicherheitskräften ist so kurz vor der angepeilten Neuwahl allerdings nicht im Interesse der AKP. Vereinzelt gibt es regierungsfeindliche Demonstrationen am Rande der Beisetzung gefallener Soldaten. Möglicherweise wird die Regierung deshalb die Aktionen gegen die PKK abmildern, auch wenn Erdogan angekündigt hat, der Kampf gegen die Kurdenrebellen werde entschlossen fortgesetzt.
Eine andere Möglichkeit wäre die Zulassung von neuen Besuchen beim inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan, der seit April niemanden mehr auf der Gefängnisinsel Imrali bei Istanbul empfangen darf. In den vergangenen Jahren hatte Öcalan der PKK mehrfach eine Waffenruhe befohlen – solch ein Appell könnte erneut die Lage entspannen.
Mittelfristig liegt die Hoffnung auf Stabilisierung in der raschen Bildung einer mehrheitsfähigen Regierung nach der Neuwahl. Eine neue Regierung könnte auch die unterbrochenen Friedensgespräche mit Öcalan wieder aufnehmen. Doch bis dahin wird noch einige Zeit vergehen: Ein neues Kabinett kann je nach Wahlausgang erst im neuen Jahr die Arbeit aufnehmen.

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