Digitalisierung 2.0: Die Technologie kann uns in eine goldene Zukunft führen
Die Chancen, die Welt durch die Digitalisierung voranzubringen, standen nie besser als heute. Jetzt müssen wir die Möglichkeiten nutzen. Ein Essay.
Kürzlich stellte Technologie-Visionär Elon Musk, Chef von Tesla und Space X, die Frage: „Was, wenn die Welt eine Computersimulation wäre?“ Ja, dann wäre es so etwas wie ein Spiel, in dem man lernen muss, kreativ auf das nächste Level zu kommen, um zu gewinnen. Aber was sind dann die Spielregeln?
Die Herausforderungen des Spiels sollten uns eigentlich allen bekannt sein. Vor mehr als 40 Jahren befand die „Club of Rome“-Studie „Grenzen des Wachstums“, dass die Welt angesichts begrenzter materieller Ressourcen unweigerlich in einen Wirtschafts- und Bevölkerungskollaps hineinlaufen würde. Milliarden von Menschen würden sterben. Seitdem versucht man, so viel Ressourcen wie möglich unter Kontrolle zu bringen. Wir haben uns entschieden, „Monopoly“ zu spielen. Und es begann eine Ära, die von Globalisierung und Kriegen geprägt war.
Auf dem G-20-Gipfel in Hamburg wurde weiter nach diesen Spielregeln gespielt – und so blieb man auf dem alten Level. Mühsam rangen die Regierungschefs der 20 größten Volkswirtschaften um eine dürre Erklärung zum Klimaschutz und einigten sich am Ende darauf, dass es wichtig sei, den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren. So weit, so bekannt. Wir müssen radikaler denken: Neue digitale Technologien, demokratisch gesteuert und eingesetzt in einem völlig neuen Wirtschafts- und Finanzsystem, könnten unsere Ressourcenprobleme lösen. Künstliche Intelligenz kann uns viele Arbeiten abnehmen und uns Spielraum geben für ökologisch-soziales Engagement und das Entwickeln neuer Problemlösungen. Offenbar dachte keiner daran, dass man die Art und Weise, wie Wirtschaft und Gesellschaft organisiert sind, auch ändern könnte. Dabei wäre es gar nicht so schwer gewesen. Wir hätten unseren Ressourcenverbrauch jährlich nur um drei Prozent reduzieren müssen.
Aber das gefiel den Industrievertretern nicht. Die Bürger sollten weiter konsumieren. Die Devise war „Brot und Spiele“ für das Volk, Ablenkung vom bevorstehenden Weltuntergang. Politik und Industrie versprachen, sich um alles zu kümmern. Wir müssten sie nur machen lassen. Und wir vertrauten ihnen – wir ließen sie machen.
Das Credo war: „Wenn die Probleme nur groß genug werden, dann gibt es genügend Anreize für Ingenieure, eine technische Lösung zu erfinden, die man dann global hochskalieren kann.“ Probleme existenzieller Art könnten so niemals entstehen. Vor allem dürfe man die Industrie in ihrem Handeln nicht beschränken. Der Neoliberalismus nahm seinen Lauf.
Neue Methoden der Energie- und Nahrungsmittelproduktion wurden entwickelt und verbreitet, etwa Atomenergie und genetisch modifizierte Nahrungsmittel. Gleichzeitig vervielfachte sich das Bruttosozialprodukt, der Energieverbrauch verdoppelte sich, und die Weltbevölkerung wuchs mit der Verbreitung der Erdölwirtschaft um zwei bis drei Milliarden Menschen, obwohl Erdölunternehmen bereits in den sechziger Jahren die klimaschädliche Wirkung ihres Produktes kannten. Politische Maßnahmen wurden jedoch mit wissenschaftlichen und öffentlichen Kontroversen noch ein halbes Jahrhundert hinausgezögert.
Am Ende kam dennoch das Pariser Klimaabkommen, und man musste zugeben, dass die Bemühungen der Großindustrie nicht genügt hatten, die existenziellen Weltprobleme zu lösen. Es steht nichts anderes als ein Totalumbau der Wirtschaft bevor. Die Alternative wäre eine drastische Bevölkerungsreduktion in der Welt.
Unsere Möglichkeiten übersteigen Orwell und Huxley
Vertreter der Digitalisierung 1.0 sahen das Potenzial der Digitalisierung für eine nachhaltigere Wirtschaft vor allem im datengestützten „Nudging“. Die Weltprobleme seien eine Konsequenz des unvernünftigen Verhaltens egoistischer Bürger. Sie würden mit ihrer Konsumorientierung die Umwelt zerstören. Daher müsse man ihr Verhalten steuern. Neben der Beeinflussung durch personalisierte Informationen („Big Nudging“) könne man auch personalisierte Preise und den „Citizen Score“ zur Verhaltenssteuerung einsetzen. Bei Letzterem handelt es sich um ein Punktekonto für jeden Bürger, das entscheidet, welche Produkte und Services man bekommt, welche Jobs, welche Kreditkonditionen, und welche Rechte einem zustehen. Alles, was man tut oder lässt, gibt dabei Plus- oder Minuspunkte. Ein solches System wird nicht nur in China getestet, sondern auch in Großbritannien wurde ein analoges „Karma Police“-Programm des britischen Geheimdienstes bekannt.
Gefragt sei ein daten-ermächtigter „wohlwollender Diktator“. Angesichts der diversen Krisen und Herausforderungen dieser Welt heilige der Zweck die Mittel. Damit droht ein neofeudalistisches System und die digitale Machtergreifung durch eine kleine Elite, gerechtfertigt durch die Weltprobleme, die man selber mit verursacht hat.
Was durch Kombination von Big Data und Künstlicher Intelligenz, durch Smartphones, das Internet der Dinge und Quantencomputer jetzt technisch möglich ist – da sind sich die Technologie-Experten einig – übersteigt George Orwells „1984“ und Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“ bei Weitem. Daher forderte uns SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz kürzlich auf, gegen den technologischen Totalitarismus zu kämpfen.
Um innovativer zu sein und die Weltprobleme zu lösen, werden wir mehr ökonomische und politische Freiheiten benötigen als heute, nicht weniger. Statt die Menschen bei ihren Konsumentscheidungen zu manipulieren, ohne dass sie es merken, müssen sich umwelt- und sozialverträgliches Verhalten lohnen – dank eines neuen Finanzsystems. Eine Sharing Economy – bei der Gegenstände von vielen geteilt werden, die sich digital koordinieren – und eine Kreislaufwirtschaft würden es erlauben, mehr Menschen eine hohe Lebensqualität mit weniger Ressourcen zu bieten.
Es braucht eine Kreislaufwirtschaft statt linearer Produktionsketten
Wir müssen lernen, dass unsere Realität auf Ko-Kreation und Ko-Evolution beruht. Es muss ein kollektives Bewusstsein dafür entstehen, dass unser Wohlergehen von dem der Umwelt und unserer Mitmenschen abhängt, und dass es uns am besten geht, wenn wir kooperieren. Digitale Technologien können dabei helfen, all das auf den Weg zu bringen. Wenn wir sie richtig nutzen, dann erleben wir ein „goldenes Zeitalter“ – eine neue Ära von Frieden und Prosperität.
Doch wie kommen wir dahin? Im Zentrum steht die digitale Revolution. In einer ersten Phase wurden mit Big Data und Künstlicher Intelligenz zentrale Informations-, Kontroll- und Steuerungssysteme geschaffen. Aber die technokratischen Visionen von automatisierten Smart Citys und Smart Nations – Städten und Ländern, in denen Ressourcen, Informationen, der Verkehr, Finanzströme, digital und viel effizienter als heute gemanagt werden – haben sich nicht bewährt. Mehr Wohlstand für alle ist ausgeblieben.
Damit treten wir in die zweite Phase der Digitalisierung ein, die Digitalisierung 2.0. Sie wird geprägt sein durch Prinzipien wie Ko-Kreation, Ko-Evolution, kollektive Intelligenz, Selbstorganisation und Selbstregulierung. Es geht um den Bau einer großen, „echten“ Sharing Economy, an der sich alle mit ihren Ideen, Produkten und Dienstleistungen beteiligen können. Datenportabilität und Interoperabilität, Reputation und Reziprozität sind dabei wichtige Funktionsprinzipien. Sie ermöglichen kombinatorische Innovation, also eine Explosion kreativer und ökonomischer Möglichkeiten.
Man wird erkennen, dass die digitale Wirtschaft völlig anders funktioniert als die materielle. Letztere ist durch den ständigen Wettkampf um begrenzte Ressourcen gekennzeichnet. Die digitale Welt hingegen profitiert vom Teilen nichtmaterieller Ressourcen, die vom Prinzip her unbegrenzt sind.
Es gilt nun, dieses neue Spiel zu lernen. Es ist ein kooperatives Spiel, nicht das „Monopoly“ der alten, materiellen Ökonomie. An die Stelle von Besitzen tritt das Prinzip des Nutzens und des Teilens. Und so wird es plötzlich möglich, dass auch die begrenzten Ressourcen der materiellen Welt für alle reichen. Wir müssen nur lernen, Ressourcen zu recyceln und zu „sharen“. Es braucht eine Kreislaufwirtschaft statt linearer Produktionsketten, bei denen frische Ressourcen verbraucht werden, um Konsumartikel herzustellen, die man am Ende wegwirft. Doch wie kommen wir dahin?
Wir können jetzt zu Pionieren der Digitalisierung 2.0 werden
Die Digitalisierung 2.0 wird drei miteinander eng verflochtene Transformationen mit sich bringen: die digitale, die ökologische und die des Finanzsystems. Das Internet der Dinge und die sogenannten „Blockchain-Technologien“ sind dabei die technologischen Treiber. Unter dem Internet der Dinge versteht man die Ausstattung von Alltagsgegenständen mit Mess-Sensoren – gewissermaßen Sinnen – und mit Kommunikation. Eine Blockchain wiederum ist eine dezentrale Datenbank, die ständig durch neue Datensätze erweitert wird, die wie in einer Kette hinzugefügt werden – eine für alle einsehbare Registratur. Darauf basiert zum Beispiel die Internetwährung Bitcoin. Sie ermöglichen das sichere Weitergeben von Daten oder digitalem Geld, ohne dass es einen zentralen Sicherheitsgaranten, etwa den Staat oder eine Bank, braucht.
Das größte Potenzial besteht darin, diese Technologien miteinander zu verbinden und dabei die Wissenschaft komplexer Systeme zu berücksichtigen, die uns sagen kann, welche Anreizsysteme und Interaktionen zu welchen Ergebnissen führen.
Früher oder später wird die digitale Transformation rund 50 Prozent der heutigen Tätigkeiten durch Künstliche-Intelligenz-Systeme und Roboter ersetzen. Das ist zweifellos eine Herausforderung, aber auch eine Chance, denn damit können wir uns endlich mehr auf jene Themen konzentrieren, die bisher vernachlässigt wurden: Umwelt und Soziales.
Wir müssen die halbe Wirtschaft neu erfinden. Die Nachhaltigkeit können wir durch ein neues, differenziertes Anreizsystem erreichen, das „Finanzsystem 4.0“. In diesem Finanzsystem verdienen die Menschen nicht einfach Geld durch ihre Arbeit im engeren Sinne, sondern können auch durch Engagement oder bestimmte Verhaltensweisen digitale Währungen erwerben – und investieren.
Mit dem Internet der Dinge und Smartphones lassen sich jetzt die Auswirkungen unseres Handelns messen: Lärm, CO2-Emissionen, Abfallstoffe usw., aber auch erwünschte Effekte wie neue Jobs, soziale Kooperation, Bildung, Gesundheit und die Wiederverwertung von Ressourcen. Mit neuen „sozialen“ Währungen, die neben das heutige, eindimensionale Geldsystem treten würden, könnte man soziales und ökologisches Engagement belohnen. Dieses Engagement wäre nicht mehr teuer, es würde sich für jeden einzelnen Bürger auszahlen. Wir müssen die Menschen transparent belohnen, statt sie – wie beim „Big Nudging“ – zu manipulieren, ohne dass sie es merken.
Nebenbei könnte man ein solches „Finanzsystem 4.0“ so gestalten, dass automatisch Steuern anfallen, um öffentliche Infrastrukturen zu finanzieren. Durch einen solchen Ansatz würde eine Kreislaufwirtschaft auf der Basis neuer Marktkräfte entstehen statt durch digitale Planwirtschaft. Und es könnten wirklich alle davon profitieren: Bürger, Banken und Unternehmen. Im Sinne von digitaler Demokratie und kollektiver Intelligenz würde das Finanzsystem 4.0 gemeinsam durch Vertreter von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und der breiten Bevölkerung gemanagt.
Warum also packen wir das jetzt nicht einfach an? Den Zug der Digitalisierung 1.0 haben wir verpasst. Werden wir also Weltmeister der Digitalisierung 2.0! Wir könnten jetzt Pioniere darin sein, die Digitale Demokratie, das sozio-ökologische Finanzsystem und den demokratischen Kapitalismus zu bauen. Wenn Roboter für uns in absehbarer Zukunft alle lebensnotwendigen Güter produzieren, können wir die so gewonnene Zeit mit kreativen und sozialen Tätigkeiten, Erkenntnisgewinn und Umweltschutz verbringen. Digitale Assistenten wären uns Helfer in allen Lebenslagen. Persönliche Künstliche Intelligenzsysteme, die in unserem Interesse und Auftrag handeln, würden uns auch dabei helfen, unsere persönlichen Daten zu verwalten und unsere informationelle Selbstbestimmung wahrzunehmen. Mit gesprochenen Anweisungen oder sogar gesteuert durch Gedanken könnten wir neue virtuelle Welten schaffen und erleben.
Doch noch ist es nicht so weit. Erst müssen wir uns von den Fesseln des alten Zeitalters befreien, dann können wir einen neuen Weg einschlagen. Es ist definitiv an der Zeit! Nur welcher soll es sein? Es ist Zeit für eine öffentliche Diskussion, wo wir im Digitalen Zeitalter wirklich hinwollen, und für kluge Investitionen in die Gestaltung unserer Zukunft – statt für die Aufrechterhaltung der Vergangenheit.
Dirk Helbing ist Professor für Computational Social Science am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften der ETH Zürich und gewähltes Mitglied der Akademie der Wissenschaften "Leopoldina"
Dirk Helbing
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