Mehr als 1000 Neuinfektionen: Die süße Vergessenheit des Sommers könnte dieses Jahr teuer werden
In die Spätsommermelancholie mischt sich eine ungewöhnliche Schärfe: Das Ende der Sommerferien fällt zusammen mit einem Anstieg der Fallzahlen. Ein Kommentar.
Es ist diese Zeit, in der sich jedes Jahr eine gewisse Melancholie in die Sommerleichtigkeit mischt. Die Schule fängt wieder an, der Kalender füllt sich mit Herbstterminen, und in den Schaufenstern der Modeläden tragen uns die Menschenabbilder schon einmal Wollenes vor. Sie blicken stoisch, wir sind es nicht. Noch ist die Luft lau und das Leben schön. Doch die süße Allvergessenheit des Sommers weicht einem Bewusstsein für die Endlichkeit.
In diesem Jahr hat die Spätsommermelancholie eine ungewöhnliche Schärfe, denn „es ist Corona“, wie wir uns angewöhnt haben zu sagen. Das Ende der Sommerferien fällt zusammen mit einem Anstieg der Fallzahlen, so wie der Beginn der Sommertage zusammenfiel mit niedrigen Fallzahlen. Der Rhythmus des Jahres wird überlagert und verstärkt vom Rhythmus der Pandemie.
So zieht auch der Ton der Lageberichte des Robert Koch-Instituts seit vielen Tagen an. „Sehr beunruhigend“ sind die Zahlen mittlerweile nach Ansicht der Wissenschaftler. Zum ersten Mal seit dem Frühjahr wurden über 1000 Deutsche positiv auf das Coronavirus getestet.
Zur Erinnerung: Als sich Angela Merkel am 18. März mit einer eindringlichen Fernsehansprache an die Nation wandte, lag die Zahl der täglich gemeldeten Fälle bei etwas über 3000, auf dem bisherigen Höhepunkt der Krise Anfang April bei rund 6800 Fällen. Die Zahlen heute sind zwar nicht unmittelbar vergleichbar mit jenen aus dem Frühjahr.
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Es wird heute mehr als vier mal so viel getestet wie Mitte März, als sich die Ministerpräsidenten auf harte Einschnitt im öffentlichen Leben einigten, also werden auch mehr Fälle entdeckt. Dennoch: Der Trend ist eindeutig: Die Fallzahlen steigen rasant, der Wert vom Donnerstag ist der höchste seit Mai (als auch schon sehr viel getestet wurde), die Zahl der von lokalen Ausbrüchen betroffenen Landkreise steigt ebenfalls, das Coronanetz wird also dichter.
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Die süße Vergessenheit des Sommers, in normalen Jahren war sie kostenlos. In diesem Jahr, so schwant uns jetzt, könnte sie teuer werden. Und so hat nun auch Gesundheitsminister Jens Spahn (der, wie Instagram verrät, im Sommer in der Sächsischen Schweiz coronakonform wandern war), den kantigen Anzug wieder herausgeholt und maßvoll dringliche Worte in die Kameras gesprochen.
Die Deutschen müssten wieder „im Alltag aufeinander aufpassen“, sagte er und mahnte, weniger darüber zu philosophieren, ob das nun als „zweite Welle“ zu bezeichnen sei, sondern gemeinsam dafür zu sorgen, dass der Anstieg der Neuinfektionen gebremst wird.
Wir wissen heute mehr über das Coronavirus als im März und sind besser vorbereitet
Der Ton war gut gewählt. Denn einerseits gibt es gute Gründe anzunehmen, dass der September nicht der März wird: Erstens, wir sind wissender. Bei allen Forschungsfragen, die bleiben, haben wir in den vergangenen Monaten viel über das Virus gelernt. Wir wissen zum Beispiel, dass es vor allem über Aerosole übertragen wird und können uns daher wirksamer schützen.
Nicht alles aber, was wir gelernt haben, ist beruhigend. So gibt es etwa Zweifel an einer dauerhaften Immunisierung nach einer Infektion und Hinweise auf gravierende Spätfolgen. Und doch: Wissen hilft. Zweitens sind wir besser vorbereitet. Anders als im Frühjahr ist es wesentlich einfacher, sich testen zu lassen, auch Berlin hat mehrere Teststellen eingerichtet. Die Laborkapazitäten wurden ausgeweitet, es gibt mehr Intensivbetten und die allermeisten Menschen besitzen Alltagsmasken. Die Home-Offices sind verdrahtet, und die Entwicklung eines Impfstoffs ist weit gediehen.
Eine neue Endzeitstimmung wäre übertrieben - eine neue Ernsthaftigkeit braucht es schon
Drittens wissen wir eigentlich sehr gut, was zu tun ist: Je weniger Kontakt wir mit anderen Menschen haben und je besser wir uns an die Hygieneregeln halten, desto besser ist das für alle. Wir müssen das jetzt nur wieder tun. Die Spätsommermelancholie muss nicht umschlagen in das Märzgefühl, dieses Gefühl, aus der Normalität abrupt in einen Endzeitfilm katapultiert worden zu sein. Aber eine neue Ernsthaftigkeit braucht es.
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