Deutschland und die Flüchtlinge: Die Stimmung ist gereizt
Regierung ohne Konzept, Kommunen ohne Kapazität, Bevölkerung ohne Orientierung - und jetzt auch noch Köln: Im Aushalten von Unsicherheiten sind die Deutschen nicht geübt. Ein Kommentar.
Wenn im Kindergarten jedes Kind ein anderes Instrument bekommt und dann alle aufgefordert werden, munter draufloszuspielen, entsteht das, was man eine Kakofonie nennen könnte. Aus Herzenslust unschön und laut. So ähnlich klingt derzeit die Bundesregierung mit ihrer Flüchtlingspolitik.
Deutschland, Anfang 2016: Die CSU will Obergrenzen, Integrationspflichten und Landesgrenzen schützen. Die CDU will die europäischen Außengrenzen besser bewachen lassen und die Flüchtlingsursachen bekämpfen. Die SPD warnt die Union täglich vor Panikmache, will jedoch die Zahl der Zufluchtsuchenden ebenfalls reduzieren, sagt aber nicht wie.
Norbert Röttgen fordert ein Integrationsministerium, bleibt aber allein damit. Thomas de Maizière verurteilt zwar jeden Generalverdacht gegen Flüchtlinge, will aber straffällige Asylbewerber leichter abschieben. Angela Merkel verteidigt unverdrossen ihr „Wir schaffen das“, schafft es aber selbst immer weniger, den Glauben an diesen Appell mit Leben zu füllen. Ach ja: Alle zusammen plädieren regelmäßig und mit Nachdruck für eine gerechte europäische Lösung, von der sie allerdings wissen, dass sie nicht kommt.
Derweil stirbt das Schengensystem einen schleichenden Tod
Unterlegt wird dieser Chor mit Paukenschlägen derjenigen, die die Nicht-Politik umsetzen müssen. Die Polizisten schlagen Alarm, weil sie überlastet und personell zu schlecht ausgestattet sind. Die Pädagogen schlagen Alarm, weil es viel zu wenig Fachkräfte für die Willkommensklassen gibt. Die Kommunen schlagen Alarm, weil ihre Aufnahmekapazitäten erschöpft sind. Wie lange Sporthallen zweckentfremdet werden müssen, weiß keiner, weil keiner weiß, wie viele Flüchtlinge noch kommen. Derweil stirbt das Schengensystem einen schleichenden Tod.
Fast täglich werden Anschläge auf Asylbewerberheime verübt. Verbrechen wie die von Köln und Hamburg heizen die Atmosphäre zusätzlich an. Wenn die Nerven eines Landes blank liegen könnten, wäre es jetzt so weit. Längst wird auf diversen Online-Portalen die Kommentarfunktion unter Beiträgen zur Flüchtlingsproblematik wegen allzu grober Unflätigkeiten gesperrt.
Als labile Gereiztheit ließe sich die Stimmung beschreiben. Der Weg zurück, in die einigermaßen bequeme Vor-Flüchtlingszeit, ist versperrt, weil die Menschen nun mal da sind und integriert werden müssen. Der Weg nach vorn ist vernebelt, weil es für ein überzeugendes Konzept zu viele unbekannte Größen gibt. Den Wähler zieht es unterdessen in die ebenfalls höchst disparate 35er Opposition aus 10 (Grüne), 10 (Linke), 10 (AfD), 5 (FDP), während die große Koalition bei knapp über 60 Prozent vor sich hin dümpelt (Bundestagswahl 2013: 67,2 Prozent).
Die Sicherheit von Menschen beschränkt sich nicht auf Leib und Leben. Im dauerhaften Aushalten von seelischer Unsicherheit – weder zu wissen, was kommt, noch gesagt zu bekommen, was wird – sind die Deutschen freilich nicht sehr geübt. Sie haben es gerne klar, berechenbar, überschaubar. Barack Obama hat gelehrt, dass gute Absichten nicht automatisch gute Realitäten schaffen. Gute Absichten hat Angela Merkel auch.