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Roland Jahn im Interview: „Die Stasiakten müssen offen bleiben“

Roland Jahn ist seit Anfang 2011 der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen. Im Interview sprach er nun über die Zukunft seiner Behörde, den Unterschied zwischen NSA und Stasi - und über den aktuellen Wert der Akten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel soll in einem Telefonat mit US-Präsident Barack Obama die Schnüffelei der NSA mit der Stasi verglichen haben. Hat sie Recht?

Soweit ich weiß, lehnt die Bundeskanzlerin nach wie vor einen Vergleich ab. Eine Gleichsetzung von NSA und Stasi finde ich absurd, das vernebelt den Blick. Es hilft nicht bei der Aufklärung von Geheimdienstskandalen in der Gegenwart und verharmlost das Wirken der Stasi. Die Geheimpolizei in einer Diktatur wie in der DDR war dazu da, die Macht einer Partei zu sichern und zu stützen. Dazu sammelte sie nicht nur Nachrichten, sondern sperrte zugleich Menschen ein, die sich kritisch zu diesem Staat äußerten. Die NSA-Debatte hat aber gezeigt, wie wichtig es ist, Stopp zu sagen, wenn Grundrechte von Menschen verletzt werden.

Irgendwann sollte es ja auch für Ihre Behörde ein Stoppsignal geben. 2019 sollen die Stasiakten eigentlich ins Bundesarchiv überführt werden.

Eine Expertenkommission wird beraten, wie in Zukunft die Aufgaben der Behörde erledigt werden, so hat es sich die neue Regierung vorgenommen. Es geht dabei nicht allein um die Zukunft dieser Behörde, sondern um die Zukunft der Aufarbeitung von SED-Unrecht und um Aufklärung über Diktatur. Der Leitgedanke unserer Arbeit ist: Diktatur begreifen, Demokratie gestalten.

Da darf es keinen Schlussstrich geben. Diese Akten müssen für immer offen sein – weil sie uns Antworten geben, auch für die Generation, die nach dem Ende der DDR geboren wurde. Diese jungen Menschen haben viele Fragen, auch wegen der NSA, auch wegen des Umgangs mit Daten im Internet, wo ist der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur?

Durch Recherchen in Stasiakten kam heraus, dass der Investor an der East Side Gallery ein Doppelagent war und früher bei der Stasi Leute verraten hat. Soll Maik Uwe Hinkel an diesem Ort ein 16-stöckiges Hochhaus bauen und sich damit ein eigenes Denkmal setzen dürfen?

Meine Aufgabe ist es nicht, moralische Urteile zu fällen. Wichtig ist, dass eine offene Diskussion darüber stattfindet. Eigentlich geht es bei der East Side Gallery doch um ganz andere Dinge: um Fehlplanungen und einen höchst fahrlässigen Umgang mit Geschichte. Das Gelände des Todesstreifens ist ein Sinnbild für Diktatur und deren Überwindung. Politik und Verwaltung hätten viel sensibler damit umgehen müssen.

Müsste es uns heute überhaupt noch stören, wenn ein bekannter Investor in dieser Stadt eine Stasivergangenheit hätte?

Man kann niemanden wegen seiner Stasivergangenheit auf ewig verdammen. Diese Menschen haben ein Recht darauf, sich in diese Gesellschaft zu integrieren. Wichtig ist aber, dass die Täter von damals dazu beitragen, die Vergangenheit aufzuklären. Mir geht es um ein Bekenntnis zur Biografie, um das Eingeständnis, in einer bestimmten Funktion in einem System des Unrechts mitgewirkt zu haben.

Das wird ja schon lange auch als Voraussetzung für Versöhnung bezeichnet. Aber sind wir damit in einem Vierteljahrhundert weitergekommen?

Es entwickelt sich, aber der großen Mehrheit der ehemaligen Stasileute fällt das sichtlich schwer. Es gibt da so eine Art Korpsgeist. Wer da ausbricht, hat es schwer. Was mir ehemalige Stasioffiziere aber auch erzählen: Zu Hause werden die Diskussionen geführt, weil die Enkel fragen. Da sind die einstigen Täter herausgefordert, eine Antwort zu finden, mit der sie weiter der liebe Opa sein können und außerdem sich ehrlich machen.

Warum funktioniert die Versöhnung nicht in Ihrer Behörde?

Wenn Sie die ehemaligen Stasimitarbeiter meinen, die noch in der Behörde arbeiten, so ist der Weg klar beschrieben. Sie werden in andere Behörden versetzt. Es ist ein Problem, das es anzupacken galt, weil es die Opfer der Stasi, die in dieser Behörde ein- und ausgehen, unerträglich finden, hier ehemaligen hauptamtlichen Stasimitarbeitern zu begegnen.

Warum die Stasi-Akten ein Kulturgut der Erinnerung sind

Ihr Projekt, die 48 Mitarbeiter in andere Behörden umzusetzen, kommt kaum voran.

Der Rechtsstaat braucht seine Zeit. Erst werden alternative Arbeitsplätze in anderen Bundesverwaltungen organisiert, dann werden die Umsetzungsverfahren eingeleitet, dann gibt es ein Mitbestimmungsrecht der Personalräte. All das zu beachten, rechtsstaatlich korrekt, ist mir wichtig.

Wie viele der 48 ehemaligen Stasileute sind denn schon ausgeschieden?

Es sind noch 37 hier. Fünf sind umgesetzt worden, fünf sind aus Altersgründen ausgeschieden, einer ist verstorben. Alle anderen Umsetzungen sind auf dem Weg. Viele Mitarbeiter sagen aber: Ich denke nicht dran, zu wechseln. Das verzögert die Angelegenheit.

Ist es nicht seltsam, plötzlich Leute aus der Behörde zu drängen, die 21 Jahre für die Stasi und danach 23 Jahre für Ihr Haus und damit auch für die Bundesrepublik gearbeitet haben?

Natürlich ist das schwer zu vermitteln. Viele fragen: Wieso jetzt erst? Ich sage dann: Die Opfer leiden seit über 20 Jahren an dem Problem, also höchste Zeit, ein Signal zu setzen.

Ist das nicht unversöhnlich?

Ganz im Gegenteil. Diese Umsetzungen sind ein Beitrag zur Versöhnung. Denn nur so haben wir die Chance, die Opfer mitzunehmen. Wir zeigen ihnen, dass wir ihre Gefühle ernst nehmen. Jeder, der von sich aus geht, sendet ein positives Signal an die Opfer.

Herr Jahn, vor einem Jahr haben Sie im Tagesspiegel die Idee vorgestellt, in der ehemaligen Stasizentrale in Lichtenberg einen Campus der Demokratie zu entwickeln. Lange nichts mehr davon gehört.

Ja, auch das ist ein zäher Prozess. Das liegt daran, dass viele Häuser und viele Flächen in dem Komplex inzwischen in privatem Besitz sind. Wir wollen in der Magdalenenstraße weiterhin einen Lernort für Demokratie schaffen, aufklären über Diktatur und Widerstand am Dienstsitz von Stasichef Erich Mielke. Es gibt positive Signale: In der Koalitionsvereinbarung wird das Projekt unterstützt. Und die Robert-Havemann-Gesellschaft will ihre große Ausstellung über die friedliche Revolution, die sie auf dem Alexanderplatz präsentiert hat, dorthin verlegen.

Und da soll die Jahn-Behörde dann über ihre Laufzeit 2019 hinaus überleben?

Welches Türschild draußen hängt, ist zweitrangig. Wichtig ist, dass die Stasiakten offen bleiben. Auch im Bundesarchiv gibt es ein Bewusstsein dafür, dass das Archiv der DDR-Geheimpolizei an dem authentischen Ort bleiben sollte, an dem es entstanden ist. Die Stasiakten gehören in den Osten des Landes. Bei allem gesamtdeutschen Bewusstsein sage ich: Geschichtsbewusste Ostdeutsche werden es nicht zulassen, dass die Stasiakten irgendwo nach Koblenz oder Berlin-Lichterfelde gebracht werden. Mutige Bürgerinnen und Bürger haben sich die Öffnung der Akten schließlich selbst erkämpft und sie mit zwei Besetzungen der Stasizentrale gesichert.

Warum dürfen Stasiakten nicht im Bundesarchiv in Lichterfelde lagern?

Wenn man die Akten vom Ort des Wirkens der Stasi entfernt, verlieren sie an Kraft. Die Unterlagen sind ja nicht nur Papiere, in die man hineinschaut. Sie sind ein Monument des Überwachungsstaates, das man hier besichtigen kann. Besucher können bei unseren Archivführungen sinnlich erfahren, wie die Stasi Unterlagen gehortet hat, weil sie in das Leben von Menschen abertausendfach eingegriffen hat. Man kann sehen, dass zum Beispiel schon Zweijährige mit Karteikarten erfasst worden sind – wenn man eben diese Karteikarten tatsächlich zu sehen bekommt.

Verstehen wir Sie richtig: Stasiakten muss man fühlen?

Die Akten sind ein Kulturgut der Erinnerung. Zum ersten Mal auf der ganzen Welt wurden Akten einer Geheimpolizei gesichert und für Bürger, Forschung und Medien zugänglich gemacht. Sie werden heute genutzt zur Aufarbeitung einer Diktatur. Das ist einzigartig, eine wahre Errungenschaft der friedlichen Revolution.

Robert Ide, Matthias Schlegel

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