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Mit der Bahn Richtung Sicherheit. Ein Team von Ärzte ohne Grenzen nutzt in der Region Kramatorsk eigens umgebaute Züge, um Patienten zu versorgen.
© Maurizio Debanne/MSF

Expertin über die Ukraine-Nothilfe: „Die Solidarität der Menschen ist berührend“

Wie kann Ukrainern geholfen werden? Ein Gespräch mit Anja Wolz von Ärzte ohne Grenzen über umgebaute Züge, medizinische Versorgung und Not in Mariupol.

Anja Wolz koordiniert bei Ärzte ohne Grenzen die Nothilfe für die Ukraine. Zuvor war sie unter anderem im Irak und in Libyen im Einsatz.
Frau Wolz, Sie koordinieren für Ärzte ohne Grenzen die Nothilfe in der Ukraine. Welche Herausforderung ist dabei die größte?
Als besonders schwierig erweist sich, dass sich die Lage immer wieder rasch verändert. Vor vier Wochen waren wir noch vor allem in Kiew im Einsatz, als Russland massiv angriff. Jetzt kehrt die Hauptstadt ein wenig zur Normalität zurück und das Kriegsgeschehen hat sich wieder mehr in den Osten des Landes verlagert. Dort sind wir jetzt in erster Linie aktiv. Zum Beispiel in Saporischschja, wo wir gerade Kliniken aufbauen.

Wie sieht der Einsatz Ihrer Organisation konkret aus – und wo herrscht der meiste Bedarf?
Am schwierigsten ist wohl die Lage in der belagerten und weitgehend zerstörten Stadt Mariupol. Da gibt es Tausende Patienten, die nicht rauskommen. Auch in anderen Gebieten ist es kaum möglich, die Menschen in Sicherheit zu bringen. Oft funktionieren die sogenannten humanitären Korridore eben nicht. In diesen Regionen werden vor allem Medikamente und medizinische Betreuung gebraucht. Aber es fehlen Möglichkeiten, dorthin zu gelangen. In anderen Gegenden, zum Beispiel um den Ort Butscha herum, wird wiederum dringend psychologische Hilfe benötigt. Die Menschen sind völlig verängstigt, fürchten, die russischen Truppen könnten zurückkommen.

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Eines Ihrer Teams kümmert sich um den Transport von Verletzten aus der Region Kramatorsk im Donbass. Dafür werden eigens Waggons der ukrainischen Bahn umgebaut. Das klingt nach einem erheblichen technischen und logistischen Aufwand.
Wir haben zwei Züge. Der eine ist für Patienten, die nicht schwer verletzt sind, zum Beispiel chronisch Kranke. Damit versucht Ärzte ohne Grenzen die ukrainischen Krankenhäuser zu entlasten. Der andere wird gerade vorbereitet. Er soll dann, ausgestattet mit Maschinen wie Sauerstoffgeräten, Patienten in kritischem Zustand in Sicherheit bringen. Aber natürlich versuchen wir auch jetzt schon, schwere Fälle mitzunehmen, wenn es möglich ist, da wir über ein vollständiges medizinisches Team im Zug verfügen.

Mariupol wird sein Wochen von russischen Einheiten belagert. Niemand kommt rein oder raus. Die Menschen sind verzweifelt.
Mariupol wird sein Wochen von russischen Einheiten belagert. Niemand kommt rein oder raus. Die Menschen sind verzweifelt.
© Alexander Ermochenko/Reuters

Der Bahnverkehr ist kaum eingeschränkt trotz der massiven russischen Attacken?
Es ist trotz allem gefährlich. Denken Sie an den Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk mit Dutzenden Toten und vielen Verletzten. Aber die ukrainische Bahn hat es trotz aller Widrigkeiten geschafft, Millionen Menschen aus den umkämpften Gebieten herauszubringen. Und bis heute werden per Zug zig Tonnen Hilfsgüter durchs Land transportiert. Doch natürlich riskieren jene, die helfen, ihr Leben. Es ist überhaupt beeindruckend und berührend, wie groß die Solidarität der Ukrainer untereinander und wie weit Eigeninitiative verbreitet ist.

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In Charkiw, der zweitgrößten ukrainischen Stadt, arbeitet Ärzte ohne Grenzen mit mobilen Kliniken in U-Bahnstationen. Ist das die einzige Möglichkeit, Verletzte und Kranke zu versorgen?
Nein. Viele medizinischen Einrichtungen sind weiter in Betrieb. Das ist ebenfalls eine Folge der Solidarität. So kommen viele Ärzte aus anderen Teilen des Landes, um in den umkämpften Gebieten auszuhelfen und die Menschen zu versorgen. Unsere mobilen Kliniken sind ein zusätzliches Angebot.

Anja Wolz koordiniert bei Ärzte ohne Grenzen die Nothilfe für die Ukraine.
Anja Wolz koordiniert bei Ärzte ohne Grenzen die Nothilfe für die Ukraine.
© MSF

Es gibt also noch eine funktionierende Gesundheitsversorgung?
Ja, im Großen und Ganzen schon in den Gebieten, die erreicht werden können. Eben weil die Menschen einander helfen.

Nach Schätzungen sind nicht nur mehr als vier Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, sondern es gibt auch mehr als sieben Millionen, die im Land selbst Schutz suchen. Können sie überhaupt versorgt werden?
Zumindest ansatzweise. Wir verteilen beispielsweise Decken, Kleidung, Schlafsäcke, Zelte und Lebensmittel an zivilgesellschaftliche Organisationen, die Vertriebene versorgen. Es gibt einfach sehr viele ukrainische Freiwillige, die sich rührend um Bedürftige kümmern.

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