Neue SPD-Spitze: Die Solidarität bröckelt schon auf dem Parteitag
Viel von Solidarität ist die Rede auf dem Parteitag. Die Bewerbungsreden der Neuen laufen noch – im Saal wird schon gestritten.
Alle aus der alten Führung umarmen Saskia Esken, nur Olaf Scholz gibt ihr nüchtern die Hand. Er versucht zu lächeln, es ist bemerkenswert, wie er diese schwerste Niederlage seiner politischen Karriere erträgt.
Dabei ist das Duell noch nicht zu Ende. Esken hat dem Vizekanzler zu verstehen gegeben, auch er habe sich nun der neuen Parteilinie, ihrer Linie, zu fügen. Um 14.53 Uhr sind sie und Norbert Walter-Borjans die SPD-Vorsitzenden Nummer 16 und 17 in der Geschichte der Bundesrepublik.
Rhythmisches Klatschen beim Parteitag in der Messe Berlin, aber keine Begeisterung. Es ist eine seltsam emotionsarme Veranstaltung. Das Wahlergebnis ist eine Warnung an die resolute Esken. Sie bekommt 75,9 Prozent, der frühere nordrhein-westfälische Finanzminister Walter-Borjans 89,2 – einige Genossen sagen, „Nowabo“, bekannt geworden durch die Milliarden, die er von Steuersündern zurückgeholt hat, sei der Aufpasser an Eskens Seite.
„In die neue Zeit“, prangt auf der Parteitagsbühne als Slogan, daneben eine große rote Rose. Sie steht für ein Bekenntnis zu internationaler Solidarität und Frieden. Das Wort „Solidarität“ war zuletzt zur Phrase verkommen. Wer soll einer Partei vertrauen, die die eigenen Werte immer wieder selbst mit Füßen tritt?
Auf dem Podium wird kein Gedanke so oft bemüht wie die Mahnung zu innerparteilicher Solidarität. Doch die Delegierten, die Mandatsträger und Mitarbeiter im Saal leben lustvoll die wahre Streitkultur der Sozialdemokraten aus, an der sich auch jetzt nichts geändert hat. Während Esken noch ihre Bewerbungsrede hält, ziehen Bundestagsabgeordnete in ihrer internen Chatgruppe über sie her. „Kreisklasseniveau“ sei das, was die Baden-Württembergerin biete, spottet einer, ihre Rede sei „unterirdisch“.
Kühnert wirft sich in die Bresche
Es ist besonders Juso-Chef Kevin Kühnert, der sich später für Esken in die Bresche wirft, um nicht gleich mit einem Debakel ins Amt zu starten. Er fordert eine Zustimmung zu ihrem Leitantrag, der – unter Bedingungen – für eine Fortsetzung der großen Koalition ist.
„Ich vertraue den beiden, dass sie sehr genau wissen, mit welcher Botschaft sie (...) ins Amt gewählt wurden. Die war: kein weiter so.“ Was auch schon fast wie eine Drohung wirkt. Wenn sie von Kanzlerin Angela Merkel und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer nicht substantielle Nachbesserungen beim Klimapaket oder beim Mindestlohn erreichen, kommt der Konflikt um die Koalition auf Wiedervorlage, die rote Linie ist das „Weiter so“. Am Ende wird dem Koalitions-Antrag bei ganz wenigen Gegenstimmen stattgegeben.
Aber es bleibt unklar, was jetzt anders werden soll. Erstmal gibt es nur neue Köpfe, wie so oft bei der SPD. Und der starke Mann heißt nun Kühnert, der die Klaviatur des Populismus beherrscht. Als er im dunkelgrünen Hemd, mit einem Jutebeutel über der Schulter, am Morgen den Saal betreten hat, bildet sich sofort ein Pulk, Journalisten, Fotografen und Kameraleute folgen ihm.
Wenn er rausgeht, dann vor allem zum Rauchen. Für den 30-Jährigen geht an diesem Parteitag ein Plan auf – er regiert die Partei nun mit, es ist quasi eine Troika an der Spitze. Nicht nur übernehmen zwei Kandidaten von Kühnerts Gnaden den Vorsitz. Auch der Juso-Chef steigt als Parteivize in den Vorstand auf.
Die Konfrontation wird abgeblasen
Ihm den Weg zu versperren, etwa mit einer Kampfkandidatur, dazu war Arbeitsminister Hubertus Heil bereit. Doch die Konfrontation wird abgeblasen – zu ermattet von dem ewigen Gezerre zwischen den Flügeln ist die Partei. Anstatt, wie ursprünglich geplant, nur noch drei Vizes zu wählen, gibt es plötzlich fünf Vizeposten. Mit Kühnert und Heil.
Zu betrachten ist eine schwer verunsicherte Partei. Am Vorabend des Parteitags hatte die Parteizeitung „Vorwärts“ zu einem Empfang im Tipi-Zelt am Kanzleramt geladen. Olaf Scholz fährt mit seiner Limousine vor, Leibwächter steigen aus, der geschwächte Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland geht ins gut gewärmte Innere.
Sein Plan wiederum ist nicht aufgegangen: mit Klara Geywitz das Mitgliedervotum gewinnen, als Vorsitzende der großen Koalition mehr Stabilität verleihen und sie geordnet zu Ende bringen, um dann als Kanzlerkandidat in die Bundestagswahl zu gehen. Die SPD-Mehrheit wollte etwas anderes.
Scholz wird von einem Genossen dazu beglückwünscht, dass er im neuem ARD-Deutschlandtrend erstmals der beliebteste Politiker Deutschlands ist, zusammen mit Merkel. Er lächelt gequält.
Seine Leute, die schon die Stimmung in der Partei so falsch eingeschätzt haben, glauben immer noch an die Kanzlerkandidatur – dann, wenn Walter-Borjans und Esken scheitern sollten. Kaum einer aus dem Scholz-Lager setzt darauf, dass der Spagat zwischen der Hoffnung auf einen stärkeren Linkskurs und Nachbesserungen in der Koalition gut gehen kann.
Der Knall wird kommen, da sind sich viele sicher. Ein Strippenzieher sieht die SPD schon auf dem Weg zum Schafott. Zwölf Euro Mindestlohn, eine Kindergrundsicherung, eine Aufweichung von Hartz IV mit einem längeren Bezug des Arbeitslosengeldes I – das sind einige der Ideen für die „neue Zeit“. Doch schon bisher ließ sich die Verengung auf eine Dominanz der Sozialpolitik mit immer neuen Milliardenprogrammen nicht in Wahlerfolge ummünzen.
Sigmar Gabriel hatte 2009 mit einer fulminanten Rede den Vorsitz gewonnen, die SPD aufgerufen, wieder dorthin zu gehen, „wo es brodelt; da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt“. Die Kluft zwischen der SPD und den Bürgern ist seither nicht kleiner geworden. Und all die innere Zerrissenheit hat sich in der Wahl der neuen Vorsitzenden und der Klatsche für Olaf Scholz gezeigt.
In fast allen Reden wird die Einigkeit der Partei beschworen. Doch viele Abgeordnete aus der Bundestagsfraktion sehen die neuen Vorsitzenden skeptisch. Das Ausmaß der Krise seiner Partei seit Beginn dieser dritten großen Koalition unter Merkel bringt Generalsekretär Lars Klingbeil auf den Punkt.
Mit einer unscheinbaren Tatsachenbeschreibung: „Ich danke den sechs Vorsitzenden, mit denen ich in zwei Jahren zusammenarbeiten durfte“, sagt er. Zur Erinnerung, gemeint sind: Martin Schulz, Andrea Nahles und die kommissarischen Parteichefs Olaf Scholz, Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel. Er fordert mehr Teamgeist, die SPD brauche weniger Leute, „die breitbeinig durch Berlin laufen und alles wissen“.
Nahles kommentiert das aktuelle Geschehen dagegen nicht, sie verbringt viel Zeit mit ihrer Tochter in der Eifel. Auch sie ist gestürzt über Machtkämpfe und Durchstechereien. Zu Beginn sagt Malu Dreyer in ihrer letzten Rede als kommissarische Chefin an Nahles gerichtet: „Irgendwie wird sie es hören.“
Mit größtem Respekt „danke ich dir für alles, was du in 30 Jahren für die SPD und das Land geleistet hast“, sagt Dreyer. „Du bist und bleibst eine von uns. Die Türen sind offen und bleiben offen.“ In der Berliner Messehalle ist auch Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange, die 2018 gegen Nahles verloren hatte und seit jeher gegen die große Koalition ist, deren Eingehen auch viele Befürworter heute angesichts der Verwerfungen in der Partei für falsch halten. Lange meint: „Andrea Nahles ist zu Hause, Olaf Scholz ist fast zu Hause, da haben wir ordentlich durchgekegelt.“ Es hört sich sehr zufrieden an. Doch Scholz ist noch da.
„Diese Partei ist dem Untergang geweiht“
Während er seine Bereitschaft zur Unterstützung der Sieger erklärt, sind viele seiner Anhänger nicht bereit, ihre Enttäuschung im Zaum zu halten. „Diese Partei ist dem Untergang geweiht“, sagt ein Staatssekretär kopfschüttelnd, ein anderer nennt die neue Spitze ein „Kabinett des Grauens“.
Dabei gelingt es Esken und Walter-Borjans in ihren Bewerbungsreden zu überzeugen. Esken wärmt das sozialdemokratische Herz mit ihrer Aufsteigergeschichte. Sie habe schon „hinter der Theke gearbeitet, als Paketbotin und Chauffeurin“, bevor sie eine Ausbildung als Informatikerin gemacht habe.
„Die SPD muss der Betriebsrat der digitalen Gesellschaft sein“, fordert sie. Sie hatte angekündigt, dem Parteitag den Ausstieg aus der großen Koalition zu empfehlen, wenn die Union nicht zu Nachverhandlungen bereit ist. Doch Merkel und Kramp-Karrenbauer stehen selbst unter Druck ihrer CDU.
Schon die Grundrenten-Einigung war hart an der Schmerzgrenze. Es dürfte spannend sein, was die neuen SPD-Vorsitzenden machen, wenn es kein „Update“ des Koalitionsvertrags gibt, wie der Bruch erfolgen soll. „Ich war und bin skeptisch, was die Zukunft dieser großen Koalition angeht“, sagt Esken.
Mit der „alten“ SPD rechnet sie ab. „Viel zu sehr war die SPD in den letzten Jahren schon große Koalition in der Denke statt eigenständige politische Kraft.“ Sie und Walter-Borjans hätten bewiesen, „wir haben keine Angst. Nicht vor Rechtsradikalen, nicht vor organisierten Interessen, nicht vor hohen Tieren.“
Breitseite gegen die Schwarze Null
Bei Walter-Borjans gibt es eine Breitseite gegen die schwarze Null von Olaf Scholz. Die müsse weg, um mit gewaltigen Milliardensummen Deutschland zu modernisieren. Der frühere NRW-Finanzminister will nicht nur die Politik ohne neue Schulden des amtierenden Bundesfinanzministers beenden, er will notfalls auch die Schuldenbremse von Bund und Ländern aufgeben, wenn dies der Zukunft der nächsten Generation im Weg stehe. Das wird kaum umzusetzen sein. Der außen- und sicherheitspolitische Teil seiner Rede klingt etwas nach den 70er oder 80er Jahren.
Von der Herausforderung durch China ist gar nicht die Rede, stattdessen werden Willy Brandt und Johannes Rau, dessen Sprecher Walter-Borjans mal war, als Vorbilder beschworen. Dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato für Rüstungsausgaben erteilt er eine Abfuhr: „Das ist kein Beitrag zur Friedenssicherung. Deshalb werden wir das auch nicht tun. Ausrüstung ja, aber Aufrüstung nein.“ Konfliktpotenzial mit der CDU-Chefin und Verteidigungsministerin AKK.
Walter-Borjans will stärker ran an die großen Vermögen. „Wer Umverteilung für Teufelszeug hält, der sollte wenigstens anerkennen, dass es Umverteilung in diesem Land schon lange gibt, nur nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben“, schleudert er den Delegierten entgegen, die ihn für solche Bekenntnisse bejubeln. Die SPD, sie müsse „wieder die Partei der Verteilungsgerechtigkeit werden in diesem Land“.
Der 69-Jährige, der selten aufgeregt wirkt, kann auch Machtpolitik. Jedenfalls macht er gegenüber den Bundestagsabgeordneten, die ihm seit seiner Wahl die Grenzen seiner künftigen Macht aufgezeigt hatten, von der Bühne herunter eine klare Ansage, so wie Esken an Scholz. Natürlich werde es „keine Alleingänge“ geben, sagt er. „Aber es darf auch keine Festlegung der Parteimeinung aus der Koalition heraus geben.“ Die Botschaft: Ihr, die regierungswilligen Abgeordneten, seid nicht das Machtzentrum der SPD, nur mit uns wird entschieden.
Manuela Schwesig, die wie Scholz und Dreyer als Vizechefin abtritt, wünscht den Neuen „von Herzen Solidarität“. Die Solidarität in der SPD, sie könnte noch auf eine schwere Probe gestellt werden. Und zwar recht schnell.
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