Integrationsministerin Petra Köpping: Die Seelsorgerin der Sachsen
Als sie ihr Amt antrat, entstand in Dresden Pegida. Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping merkte: Die eigene Bevölkerung fühlt sich ausgegrenzt.
Gleich nebenan war sie mal Bürgermeisterin, ein Jahr lang, vom Mai 1989 bis Mai 1990, als sich die Geschichte überschlug. Geschieht das jetzt wieder? Dies hier ist Knautkleeberg im Süden von Leipzig, fast dreißig Jahre später, und Petra Köpping muss gleich eine Rede halten.
„Liebe Demokratinnen und Demokraten“, wird sie beginnen. So betont man nur das nicht mehr Selbstverständliche, das nicht mehr für alle Selbstverständliche. Sie wird ihrem Publikum zurufen: „Mit mir sind Sie Teil der Regierung!“ oder „Sie stehen wie ein Fels in der Brandung des Kontrafaktischen!“ Es ist ein Treffen sächsischer Initiativen gegen den Rechtsextremismus, doch die vermeintlichen Felsen in der Brandung des Kontrafaktischen schauen eher wie defensiv gestimmte Kieselsteine.
Nein, die Felsmetapher stimmt nicht. Ein Fels blickt ruhig hinunter auf den Aufstand der Wellen unter ihm, lässt sie gelassen an sich abprallen und die Gischt sprühen. Davon kann keine Rede mehr sein. Gibt es eine kontrafaktische Brandung? Und wie moderiert man die Gischt?
Fast alle berichten das Gleiche. Ein Dresdner findet das richtige Wort dafür. „Ich komme aus einer fragmentierten Stadt“, sagt er. Die Risse gehen durch Familien, durch Freundeskreise. Sie fallen einfach auseinander, und die Teilstücke werden stumm gegeneinander. Da ist kein Reden mehr von Welle zu Welle. Es ist eine Art von stehendem Sturm.
Wenn man ihr das gesagt hätte vor fast vier Jahren! Am 11. November 2014 kam der Anruf, ob sie nicht Ministerin für Gleichstellung und Integration werden wolle. So was gab es noch nie in Sachsen. Eine Ministerin ohne Ministerium, aber immerhin. Auch wollte man eine SPD-Frau, und so viele SPD-Mitglieder hat das frühere SPD-Kernland Sachsen nicht.
Petra Köpping überprüfte ihre Lage. Dass die einstige CDU-Familienministerin Angela Merkel vermutet hatte, dass auch viele Ostfrauen wieder an ihre Kochtöpfe zurückkehren werden, hat sie nie vergessen. Und das Schicksal der zu DDR-Zeiten geschiedenen, vom Einigungsvertrag vergessenen Frauen, hat sie immer beschäftigt. Und die 12.000 Flüchtlinge, die pro Jahr nach Sachsen kommen, die würde sie auch irgendwie unterbringen. Also sagte sie ja. Am Montag nach ihrem „Ja“ ging sie zum ersten Mal zu Pegida. Man wies sie mit sanftem Tadel darauf hin, dass dies für eine Ministerin doch recht unpassend sei. Bisher wurde der Freistaat wie ein Königtum regiert. Man empfing das Volk oder lud es vor, aber man besuchte es doch nicht.
Die Ostdeutschen sind wieder da
Es war das dritte Mal Pegida, das gleiche schlechte Wetter wie im November 1989. Wieder redeten die Leute nicht viel, standen da mit ihren Kerzen, und doch war es so ganz anders als im Herbst ’89. „Ich habe die Atmosphäre als bedrückend empfunden“, wird Petra Köpping später in einem Berliner Café sagen.
Die sind so schnell wieder weg, wie sie gekommen sind, erklärten ihr die, die nicht da waren. Das glaube ich nicht, antwortete Petra Köpping, zog von nun an jeden Montag ihre Pegida-Schlechtwetter-Uniform an und sprach mit den Leuten. Sie ist so, war sie schon immer. Sie kann gar nicht anders. Am 12. Januar 2015 waren 25 000 Menschen in Dresden auf der Straße. Und dann kamen die Flüchtlinge, nicht die 12 000, mit denen sie gerechnet hatte.
Da wusste sie noch nicht, dass ihr größtes Integrationsprojekt nicht die Ausländer, sondern die Sachsen betreffen würde. Und Gleichstellung nicht die Frauen, sondern Menschen, die ihr sagten: Ich möchte mit denen gleichgestellt werden, die in meinem Beruf arbeiten! Petra Köpping hat eine Streitschrift geschrieben, eine „Streitschrift für den Osten“. Sie heißt „Integriert doch erst mal uns!“ Petra Köpping, die Leuchtturmwärterin. Sie will, dass man ihr Leuchtfeuer endlich auch in Berlin sieht.
Ein Podium in Berlin-Mitte. „Wer ist denn überhaupt ,uns’?“, fragt ein älterer graulockiger Herr, Typus geläuterter Revoluzzer, mit vibrierendem Misstrauen.
Für Augenblicke wirkt die blonde Frau vorn ein wenig ratlos. „Uns“, überlegt Petra Köpping, sind natürlich wir, „alle, die die Wiedervereinigung im Osten erlebt haben. Und deren Kinder. Und deren Kindeskinder, die dritte Generation der Ostdeutschen“. Die jetzt immer lauter fragt, wie es wirklich war. Wirklich?
Die Ostdeutschen sind wieder da, diese soziologisch auffällige, tief beargwöhnte Gruppe, die es den Fachleuten zufolge so gar nicht mehr geben dürfte. Doch nicht nach fast dreißig Jahren. Petra Köpping wirft leicht ihre halblangen blonden Haare nach hinten, in einem ganz kleinen Schüttler, früher hätte man ihre Frisur „adrett“ genannt. Die ganze Erscheinung hat etwas „adrettes“, am nächsten Tag wird sie zudem ein Pepita-Kostüm tragen, dazu Lidstrich und die Mascara vielleicht eine Spur zu sichtbar. Aber der Fünfziger-Jahre-Anklang täuscht, diese Frau tänzelt nicht irgendwelche unsicheren Zickzackwege auf zu hohen Pfennigabsätzen, im Gegenteil. Sie weiß genau, was sie will: Gerechtigkeit. Ihre Forderung lautet: „Die Nachwendezeit muss wieder auf den Tisch!“, gesamtgesellschaftlich, in Ost und West. Eben weil sie bis ins Heute reicht.
Zeitrechnung der Seele
O Mann, hört man ihren Ministerpräsidenten bis nach Berlin stöhnen. Zur Wendezeit ging Michael Kretschmer noch nicht mal in die zehnte Klasse. Was da wieder auf den Tisch soll, ist also die Steinzeit.
In dem kleinen sächsischen Ort Großdubrau holte die AfD bei den Bundestagswahlen vor einem Jahr 42,4 Prozent.
Vor der Wende beschäftigte die Großdubrauer Margarethenhütte 800 Menschen und lieferte 80 Prozent ihrer Keramik-Isolatoren in die ganze Welt. Wir sind viel zu gut und viel zu beschäftigt, um geschlossen zu werden, dachten die Großdubrauer. Das war falsch. Die völlig unerwartete Nachricht vom Aus kam über Nacht. Über Nacht wurden die besten Maschinen abgebaut, verschwanden die wichtigsten Betriebsunterlagen, die Porzellan-Rezepturen, die letzten Mitarbeiterlöhne mitsamt Tresor. Das war vor fast 30 Jahren. Oder war es gestern?
Die Architekten der Deutschen Einheit wussten wenig von der Zeitrechnung der Seele. Sie hat überhaupt kein Talent, Kränkungen zu vergessen. 42,4 Prozent für die AfD in Großdubrau. Und es gibt viele Großdubraus im Osten.
Der sächsische Ministerpräsident sagt, Köpping verbreite nur Ärger und schlechte Laune. Wahrscheinlich hat Kretschmer seine Ministerin noch nie reden hören. Ihr Rest-Sächsisch blanchiert auf irgendeiner hinteren Verflüchtigungsstufe. Die Stimmung in dem überfüllten Raum ließe sich als gelöst bis heiter beschreiben. Menschen reagieren freudig, wenn sie das Gefühl haben, etwas zu verstehen. Das liegt auch an Köppings Tonfall, frei von jeglicher Anklage, von jeder Selbstgerechtigkeit, von aller Demagogie. Denn eins weiß die Autorin der „Streitschrift“ zu gut: Der Osten hat es genauso gewollt, er wollte den ganz schnellen Weg.
An dieser Stelle kann Petra Köpping zum ersten Mal nicht „wir“ sagen. An dieser Stelle passt die sächsische Ministerin für Gleichstellung und Integration in überhaupt kein „Wir“. Sie gehörte weder zu den ersten Demonstranten in Leipzig noch zu den letzten. „Ich war überhaupt nicht da“, erklärt Petra Köpping am nächsten Tag in einem anderen Berliner Café, diesmal ohne Auditorium. „Ich saß in meiner Amtsstube und dachte bloß: Wie soll das weitergehen?“ Es war keine Euphorie in dieser Selbsterkundigung. Eigentlich war es Angst.
Sie war 30 Jahre alt, hatte drei kleine Kinder, unlängst ihr Fernstudium der Staats- und Rechtswissenschaften beendet und war, weil sie ja sonst nichts zu tun hatte, Bürgermeisterin von Großpösna geworden.
Als die Bürgermeister des Kreises Leipzig im Herbst 1989 aufgerufen waren, ihre Feuerwehren zur Abwehr der Montagsdemonstrationen in die Stadt zu schicken, stand sie mit einem „Das mach’ ich nicht! Die brauch’ ich selber!“ auf und verließ den Raum. Trotzdem kandidierte Petra Köpping nicht wieder.
„Ich brauchte eine Zeit der Selbstprüfung und Klärung“, sagt sie, also genau das, was das Leben für junge Mütter mit drei Kindern niemals bereithält. Die Staats- und Rechtswissenschaftlerin und Ex-Bürgermeisterin besah halb furchtsam, halb herausfordernd das Nichts, vor dem sie nun stand. Als sie sich als Außendienstmitarbeiterin einer Krankenkasse bewarb, teilte ihr die DAK mit, eine dreifache Mutter nicht einstellen zu können. Daraufhin teilte sie der DAK mit, dass man sie einstellen müsse, eben weil sie eine dreifache Mutter sei, und sie wette mit dem Chef, dass sie am Jahresende die geringeren Fehlzeiten habe. „Die Wette habe ich gewonnen“, sagt Petra Köpping. Nicht jeder hatte diese Chuzpe.
Niemals waren die Ostdeutschen so auf Selbstbeteiligung und Mitwirkung gestimmt wie 1990. Und ist nicht eben das Demokratie? Aber sie störten fortan eher im Osten. Noch heute ist in Ostdeutschland nicht einmal ein Viertel der leitenden Stellen in allen Bereichen mit Ostdeutschen besetzt. Petra Köpping glaubt noch immer an ihre Sachsen. Waren sie nicht immer die offensten unter den ostdeutschen Temperamenten, zur Feindseligkeit im Grunde vollkommen unbegabt?
Hunderttausende fielen im Raum Leipzig aus der Wendeeuphorie direkt in die Arbeitslosigkeit. Mehr als die Hälfte der Sachsen hält sich im Alter für armutsgefährdet, weiß sie. Mit ihrer SPD-Parteifreundin Gesine Schwan hat die Ministerin soeben eine „Gerechtigkeitskomission“ gegründet. Vor allem die Treuhand müsse aufgearbeitet werden, und zwar öffentlich. Bis vor Kurzem lagen deren Akten als dem gesellschaftlichen Frieden nicht förderlich unter Verschluss. Erst 2020 werden sie ganz zugänglich sein. Dass dieses Material ohne Ausschreibung, wie es geboten gewesen wäre, still dem konservativen Institut für Zeitgeschichte in München übergeben wurde, hält Petra Köpping für nicht hinnehmbar. Der eigentliche Nachfolger der SED, so haben es viele empfunden, war nicht die Demokratie, sondern die Treuhand: Sie operierte wie der Arm Gottes, demokratisch nicht kontrolliert und für nichts haftbar.
Neues Heimatbewusstsein
Als die Treuhand mit ihrer Arbeit fertig war, war der Osten enteignet. Petra Köpping wiederholt es nicht ohne Nachdruck: 80 Prozent des Produktionsvermögens fielen an westdeutsche Unternehmen, 14 Prozent an ausländische Investoren und nur 6 Prozent an Ostdeutsche. Überall in den Ländern des Ostblocks hatten Belegschaften ein Vorzugsrecht, ihren Betrieb zu erwerben, nur in der früheren DDR war dies nicht vorgesehen und scheiterte gewöhnlich. Die bald schön sanierten Häusermeere in ihren großen Städten gehörten ihnen nicht mehr. Fortan lebten viele wieder mit dem Rücken zur Gesellschaft, so wie sie es schon aus der DDR gewohnt waren. Keine gute Voraussetzung für künftige Belastungsproben. Ist es zu spät? An die Sachsen-Wahl im nächsten Jahr mag Petra Köpping gar nicht denken. 1, 4 Millionen Ostdeutsche verließen nach 1990 ihre Heimat, die Geburtenrate lag knapp über der des Vatikanstaats, es war die größte Wanderungsbewegung in Europa seit 1945. Und das ist der Punkt, sagt die sächsische Ministerin. Sie waren Heimatvertriebene eines neuen Typus, und die dablieben, kamen sich vor wie Flüchtlinge im eigenen Land: provisorische Existenzen. Fast jede Familie hat diese Biografie.
Heimatlos im eigenen Land, nennt sie das. Als stationärer Migrant, ahnt Petra Köpping, ist jeder Ostler per se Experte für Flüchtlingsfragen. Was, wenn es den Syrern, Irakern und Afghanen genauso geht wie den meisten Ostdeutschen, die erst nach dem Ende der DDR merkten, dass sie DDR-Bürger waren? Und die aus eigener Erfahrung wissen, dass die integrativen Talente dieser Gesellschaft sehr begrenzt sind.
Die Sachsen haben heute ein Heimatbewusstsein, das es früher so nicht gab, sagt Petra Köpping. Das ist wohl auch eine Reaktion auf die vielen Kreisgebietsreformen, auf den fortwährenden Rückzug der gesellschaftlichen Strukturen vom Land. Petra Köpping weiß, wovon sie spricht, denn 1994 war sie wieder Bürgermeisterin in Großpösna. Und das lag am Abwasser.
Als die Großpösnaer ans Abwassernetz angeschlossen werden sollten, erfasste Verzweiflung die Gemeinde. Da wurden je nach Größe der Grundstücke schnell über 10 000 DM fällig, aber auf welche Zukunft hin sollten die Großpösnaer einen derart hohen Kredit aufnehmen? Es muss einen anderen Weg geben, dachte die Staats- und Rechtswissenschaftlerin. Sie war schon immer gut im Auffinden von Wegen, die auf keiner Karte eingezeichnet waren. Und sie fand auch diesmal einen.