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Vitali Klitschko, ehemaliger Boxweltmeister und heutiger Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew.
© AFP

Interview mit Vitali Klitschko: „Die Schuldigen müssen bestraft werden"

Vitali Klitschko, ehemaliger Boxweltmeister und heutiger Bürgermeister von Kiew, spricht im "Tagesspiegel"-Interview über seine Arbeit, die Erlebnisse auf dem Maidan und seine Ambitionen, Präsident zu werden.

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko residiert im 9. Stock des Rathauses. Das kolossale Gebäude im Stil des sozialistischen Klassizismus, Nummer 36 auf dem Kiewer Prachtboulevard Kreschtschatyk, trägt im Parterre noch die Narben der gewaltsamen Revolution. Die drei Eingangsportale sind verschlossen. Der Euromaidan ist nur ein paar hundert Meter entfernt.

Das längliche Amtsbüro wirkt schlicht. Schreib- und Konferenztisch aus hellem Holz. Rot bezogene Metallstühle, ockerfarbene Wände, verziert mit dem Erzengel Michael, dem Schutzpatron Kiews, im blauen Stadtwappen. In der Ecke hinter Klitschkos Arbeitsplatz stecken die Fahnen der Ukraine und Kiews. Auf einer Ablage fällt ein Morgenstern auf, eine mittelalterliche Schlagwaffe der Krim-Tataren.

Es ist schwierig, ein fortlaufendes Interview zu führen. Ständig kommen wichtige Leute zu kurzen Gesprächen, Boten und Sekretärinnen, die ihm Dokumente zur Unterschrift vorlegen. „Als Boxweltmeister habe ich nicht so viele Unterschriften gegeben wie als Bürgermeister“, entschuldigt sich Klitschko (43) für die Unterbrechungen. Seine hünenhaften zwei Meter stecken in einem maßgeschneiderten blau-grauen Anzug. Keine Krawatte.

Im Dezember vor einem Jahr waren Sie die Galionsfigur der Massenproteste auf dem Maidan. Aus dem Oppositionsführer wurde der Revolutionsführer gegen das kleptokratische Regime Viktor Janukowitschs, dessen Weigerung, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben, hunderttausende Demonstranten in Kiew auf die Straße trieb. Es gab dieses eindrucksvolle Bild, wie Sie – immer noch offiziell Boxchampion – mit Fellmütze und einem Megafon in eisiger Kälte und dichtem Schneetreiben allein einer martialisch ausgerüsteten Phalanx der Berkut gegenüberstehen. Wissen Sie noch, was Sie der Spezialeinheit zugerufen haben?
Ja. „Das ist eine friedliche Demonstration. Wir haben keine Waffen. Wenn ihr gewaltsam gegen die Demonstranten vorgeht, werdet ihr zur Rechenschaft gezogen.“

Die Gewalt eskalierte dennoch. Es gab hundert Tote. Russland annektierte die Krim. In der Ostukraine herrscht Krieg. Sie verzichteten überraschend darauf, für das Amt des Präsidenten zu kandidieren. Petro Poroschenko wurde Staatsoberhaupt. Sie sind jetzt seit einem halben Jahr gewählter Bürgermeister von Kiew. Ist nach all dem Kampf dieses Amt die Erfüllung Ihrer politischen Ambitionen?
Im Interesse der Ukraine muss man seine persönlichen Ziele zur Seite schieben können. Petro Poroschenko, der neben mir auf den Barrikaden des Maidan stand, und ich sind ein Team mit denselben Zielen und Visionen: Die Ukraine soll ein demokratisches europäisches Land werden wie Belgien und Holland, mit europäischen Lebensstandards und Werten. Ich habe Poroschenko bei seiner Wahl unterstützt. Meine Partei Udar ist nicht als eigenständige Kraft im Parlament vertreten, sondern in einem Wahlbündnis als stärkste Gruppe im Block Petro Poroschenko. Er ist als ehemaliger Außen- und Wirtschaftsminister ein international erfahrener Politiker. Um meine Vision zu realisieren, einmal Staatspräsident der Ukraine zu werden, muss ich erst den politischen Status erlangen. Mit meiner vor der Revolution angekündigten Kandidatur wollte ich die Ära Janukowitsch beenden. Jetzt gilt meine ganze Kraft dem Ziel, aus Kiew eine blühende Stadt zu machen. Kiew hat dazu das Potenzial.

Haben Sie für die Blüte Kiews eine Karriere in der großen Politik zurückgestellt?
Ich habe nach den Neuwahlen im Oktober mein Spitzenmandat im Parlament zurückgegeben. Ebenso habe ich vor kurzem das Angebot Poroschenkos abgelehnt, sein Vizepräsident zu werden. Ich wollte nicht als Bürgermeister von Kiew zurücktreten. Die Bürger von Kiew haben mir vertraut, dass ich mich für ihre Interessen einsetze. Ich werde Kiew nicht im Stich lassen. Im Übrigen ist die Arbeit im Rathaus tausendmal spannender als vor einem Jahr das Abgeordnetendasein in der Werchowa Rada.

Als Abgeordneter auf dem Maidan aber erlebten Sie dramatische, ja traumatische Szenen.
Es waren so viele, so furchtbare, dass ich darüber ein dickes Buch schreiben könnte. Das Bergen der Leichen war entsetzlich. Die Schuldigen müssen bestraft werden. Wir kennen die Namen all derer, die den Befehl gaben, auf Menschen zu schießen. Aber sie haben sich alle in Russland versteckt und finanzieren nun den Krieg im Osten mit dem Geld, das sie der Ukraine gestohlen haben.

Gibt es ein ganz spezielles Ereignis auf dem Maidan, das Ihnen auch nach einem Jahr nicht aus dem Kopf geht?
An einen ganz besonderen Moment muss ich immer wieder denken. Als Abgeordneter konnte ich zu den festgenommenen Demonstranten ins Gefängnis gehen. Sie waren blutverschmiert, hatten Schwellungen, blaue Flecken im Gesicht. Gebrochene Nasen. Unter den Gefangenen war auch ein übel zugerichteter alter Mann von über achtzig Jahren. Er war verhaftet worden, weil er Steine auf Polizisten geworfen haben soll. „Ich stand nur zufällig da“, beteuerte er. „Ich kann gar keine Steine werfen, weil ich meine Arme nicht mehr heben kann.“ Er zeigte seine Behinderung.

"Ich trage nun einmal die Verantwortung"

In einem Interview mit Radio Vesti haben Sie unlängst davon gesprochen, die Propaganda und die Restriktionen Russlands näherten sich den Praktiken Nordkoreas an und Putins Haltung werde zu weiterer Eskalation führen. Sind Sie ein Putin-Verächter?
Putin ist krank. Putin hat es tatsächlich mit seiner Taktik geschafft, was ich nie für möglich gehalten hatte: dass jemand unsere beiden Brudervölker gegeneinander aufwiegeln kann. Ich weiß, wovon ich rede. Meine Mutter ist Russin. Putin will eine neue Sowjetunion aufbauen und für dieses riesige Imperium braucht er die Ukraine. Ich weiß nicht, ob man das noch als Witz bezeichnen kann, den man sich in Kiew erzählt. Ein Russlanddeutscher schreibt einen Brief an den Kreml: „Lieber Herr Putin. In Deutschland leben fünf Millionen russischsprachige Menschen. Wir werden gezwungen, überall nur Deutsch zu sprechen. Unsere Kinder werden in der Schule gezwungen, nur Deutsch zu sprechen. Schicken Sie Ihre Armee.“

Nach den dramatischen Maidan-Monaten kümmern Sie sich nun um vergleichsweise kleine Probleme, etwa darum, dass in allen Haushalten warmes Wasser fließt, dass ein E-Ticketing-System für die Metro eingeführt wird, dass illegale Werbeflächen abmontiert werden, dass der Belag auf 14 Straßen in Kiew bis zum Jahresende erneuert wird, dass für den Winter genügend Schneepflüge bereitstehen. Ist das so spannend?
Ich trage nun einmal dafür die Verantwortung, genauso wie für die ausländischen Investitionen. Kiew hat inzwischen Investoren für sechs Projekte gewonnen. Wenn sich die Menschen in Briefen oder bei Veranstaltungen dafür bei mir bedanken, für die Veränderungen, für mehr Sauberkeit und Ordnung, für die intensiven kommunalen Aktivitäten, dann spüre ich ein Erfolgserlebnis. Das sind zwar keine K.-o.-Siege, aber ich sammle Punkte.

Werden die Toten vom Maidan in einer Gedenkstätte gewürdigt? Auf einem Hotel-Stadtplan ist bereits neben der Marmorsäule des Erzengels Michael auf dem Maidan ein „Hundreds of Heaven Memorial“ eingezeichnet.
Diese Gedenkstätte für die „Helden im Himmel“ ist erst als Architektenwettbewerb ausgeschrieben. Sie existiert noch nicht. Die Gestaltung soll einfach und dezent sein. Jeder soll die Symbolik verstehen. Es ist unsere Pflicht, das Gedenken an die Toten, an die Menschen, die für die Zukunft der Ukraine gestorben sind, für alle Ewigkeit zu bewahren. Aber Kiew tut bereits etwas für die Angehörigen. Sie werden bei der Verteilung von Bauland und Sozialwohnungen bevorzugt.

Worauf freuen Sie sich, wenn Sie morgens ins Rathaus fahren?
Auf einen positiven Report, den mir alle Ressorts jeden Morgen auf den Schreibtisch legen. Am Vortag gab es 124 Autounfälle. Aber keinen Toten. Fünf Notfälle wie Rohrbruch oder Gasexplosion weniger als am Tag davor. Kriminalität nicht gestiegen. So fängt ein Arbeitstag gut an. Im Übrigen sitze ich nicht nur den ganzen Tag in meinem Amtsbüro, sondern bin viel in der Stadt bei den Menschen. Auch pflege ich Kontakte zu Kollegen anderer Hauptstädte – und nicht nur bei der Konferenz „Eurocities 2014“ Anfang November in München. Vor allem die Kooperation mit Berlin und die Beziehung zur deutschen Hauptstadt sind mir wichtig.

Die reichen offenbar bis ins Kanzleramt.
Die Udar ist die kleine Schwesterpartei der CDU und wird von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt. Ich war beim CDU-Parteitag in Köln. Bei ihrem Besuch im August in Kiew hat mir Kanzlerin Angela Merkel gesagt, „Vitali“, sagte sie, „Sie haben gute Kontakte in Deutschland. Jeder kennt Sie. Nutzen Sie das. Und natürlich werde auch ich Sie unterstützen.“ In meiner zweiten Heimat Hamburg habe ich letzte Woche mit Bürgermeister Olaf Scholz und Wirtschaftssenator Frank Horch über wirtschaftliche Zusammenarbeit gesprochen. Anschließend war ich in London bei Bürgermeister Boris Johnson, um eine Partnerschaft zwischen unseren Städten zu vereinbaren. Auch in Tel Aviv bin ich schon bei einem Business-Forum gewesen, um für Investitionen zu werben. Wir tun viel.

Wie lange dauert für Sie so ein Arbeitstag in Kiew?
Ich versuche, um neun Uhr im Büro zu sein, wenn erforderlich, dann früher. Abends Ende offen. Dafür halte ich mich fit. Wenn ich sechs Stunden geschlafen habe, gehe ich für anderthalb bis zwei Stunden morgens kurz nach sechs Uhr ins Fitness-Studio. Seilspringen, Schattenboxen, Sandsack. Ein Freund, ein Kollege aus alten gemeinsamen Zeiten im olympischen Boxstützpunkt, macht mit. Zu zweit trainieren macht mehr Spaß. Wenn ich weniger als sechs Stunden geschlafen habe, macht das frühe Training im Gym keinen Sinn. Ohne diese Trainingsbelastung aber fühle ich mich krank. Ansonsten fühle ich mich wie 25 und kann all den Stress bewältigen.

Eine hypothetische Frage: Wenn Sie sich eine Auszeit von acht Wochen nähmen und sich intensiv vorbereiteten, würden Sie sich einen Kampf und einen Sieg gegen Ihren Nachfolger als WBC-Weltmeister, den Kanadier Bermane Stiverne, zutrauen? Immerhin führt Sie der World Boxing Council in seiner aktuellen Weltrangliste vom November 2014 als „Emeritus Champion“. Dieser Status bedeutet: Sie könnten sofort wieder um den Weltmeistertitel kämpfen.
Sicherlich würde ich trotz meiner dann 44 Jahre in Form kommen. Allein mir fehlt die Motivation, das zu tun. Dabei ist die Arbeit eines Bürgermeisters viel, viel schwerer als die eines Boxweltmeisters. Der Kampf gegen Korruption, gegen das alte System und für Reformen geht weit über zwölf Runden hinaus. Mein Ring ist jetzt ein anderer, die Gegner sind jetzt viel stärker. Aber ich bin derselbe geblieben. Mein Motto gilt nach wie vor: Ohne Kampf kein Sieg.

Zur Person: Der 1971 in Bischkek, Kirgistan, geborene Vitali Klitschko hat als Profiboxer 87,23 Prozent seiner Gegner k. o. geschlagen. Er war Boxweltmeister beider großer Box-Organisationen. Als Kämpfer trat er auch vor einem Jahr in Erscheinung, als er die Proteste auf dem Maidan in Kiew anführte und per Megafon die Massen anfeuerte.

Während der Unruhen auf dem Maidan verbündete sich Klitschko vorübergehend unter anderem mit der rechtsextremen Partei Swoboda, was ihm heftige Kritik einbrachte. Im Mai wurde er mit absoluter Mehrheit zum Bürgermeister von Kiew gewählt, ein Amt, das er bereits in den Jahren zuvor vergeblich angestrebt hatte.

Hartmut Scherzer

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