Stress am Arbeitsplatz: Die schleichende Überforderung
Immer mehr Deutsche klagen über Stress am Arbeitsplatz. In vielen Fällen führt das zu psychischen Erkrankungen. Woher kommen die Probleme - und wie muss ihnen begegnet werden?
Auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen kennt die Überforderung im Job, die nach jüngsten Zahlen fast jeder fünfte Arbeitnehmer empfindet: Als sie junge Ärztin war und schon Mutter von zwei Kindern, wurde ihr der Druck zu groß. „Heute würde ich sagen, ich war in einem Zustand psychovegetativer Erschöpfung“, erzählte die Ministerin am Dienstag bei der Vorstellung des „Stressreports 2012“ in Berlin. Die Gründe? „Ich hatte zu viel Verantwortung, Angst im Beruf“, sagt sie. „Darf ich nachts während einer Geburt drei Mal den Chefarzt anrufen?“, habe sie sich gefragt. Schließlich ging es um Menschenleben. Zugleich habe sie die Familie mit dem fordernden Job in Einklang bringen müssen.
Die Zahl der Arbeitsstunden hierzulande, die wegen psychischer Erkrankungen ausfallen, nimmt zu, genau wie die Frühverrentungen. Wegen Krankheiten wie Depression, Angstzuständen oder Burnout gingen 2011 mehr als 73 200 Menschen frühzeitig in Rente, im Jahr 2000 waren es nur gut 51 400. Der Anteil der Frauen liegt dabei deutlich höher als der der Männer.
Der aktuelle Report zeigt: Fast jeder zweite Arbeitnehmer in Deutschland fühlt sich zunehmend gestresst im Job. Die Belastungen in der Arbeitswelt sind zwar in den vergangenen Jahren nicht weiter gestiegen, aber sie sind unverändert hoch. So liegt beispielsweise der Anteil der Erwerbstätigen, deren durchschnittliche Wochenarbeitszeit 48 Stunden pro Woche übersteigt, bei 16 Prozent. „Beschäftigte mit überlangen Arbeitszeiten sind mehrfacher Belastung ausgesetzt“, heißt es in dem Report. Denn mit zunehmender Arbeitszeit stiegen auch Termindruck, Arbeitsunterbrechungen und Multitasking. Es sind dies die Faktoren, die unter den Beschäftigten am meisten für Stress sorgen.
Die Umfrage zeigt auch, dass besonders Führungskräfte von Stress betroffen sind, und zwar umso mehr, je größer die Zahl der Mitarbeiter ist, für die sie verantwortlich sind. Das macht es Chefs schwer, „gesundheitsförderlich zu führen“, heißt es. Zugleich sind aber auch jene Arbeitnehmer besonders belastet, die einfache Tätigkeiten ausführen und dabei wenig Handlungsspielraum oder Entfaltungsmöglichkeiten haben. Während jüngeren Beschäftigten gerade die fehlende Planungssicherheit zu schaffen macht, leiden mittlere Jahrgänge besonders unter hohem Termindruck und empfinden es als Stress, Familie und Beruf zu vereinen. Bei Älteren, so zeigt der Report, ist die Monotonie der Arbeitsabläufe ein Stressfaktor. Die Folgen: Körperliche und psychische Belastungen machten auf Dauer krank, sagt Leyen.
Gewerkschaften beklagen die "Entgrenzung der Arbeit"
Für die Gewerkschaften liegt daher auf der Hand, woher die Zunahme der psychischen Erkrankungen kommt: Sie machen die „Entgrenzung der Arbeit“ verantwortlich, also etwa die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die gesteigerten Anforderungen im Job und die Ausweitung des Niedriglohnsektors. „Psychische und arbeitsbedingte Erkrankungen haben ein unerträgliches Ausmaß erreicht“, kritisierte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Körperliche Erkrankungen, die auf Stress zurückzuführen sind – wie Herzinfarkte –, gingen dabei noch nicht einmal in die Statistik ein. „Wir brauchen eine Renaissance der Humanisierung der Arbeit“, sagte Buntenbach. Die Gewerkschafterin appellierte daher an die Politik, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Dazu gehöre ein gesetzlicher Mindestlohn, eine Gleichbehandlung von Leiharbeitern und Stammbelegschaften, eine Begrenzung der Befristung von Verträgen und eine Reform der Minijobs.
Die Arbeitgeber halten dagegen. Der Grund für den Anstieg festgestellter psychischer Erkrankungen liege vor allem in geänderten Diagnosen, sagte Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Es schade der Sache, wenn die Debatte über psychische Gesundheit mit falschen Zahlen, verzerrenden Darstellungen und unberechtigten Vorwürfen geführt werde. Das Thema der psychischen Erkrankungen müsse „endgültig aus der Tabu-Ecke herauskommen“, sagte Hundt. Die Betriebe seien an der psychischen Gesundheit ihrer Mitarbeiter interessiert. Es offenbarten sich aber nur 16 Prozent derer, die Hilfe benötigen, ihren Vorgesetzten. Auch Leyen forderte einen offeneren Umgang mit psychischen Krankheiten. Noch immer sei es leichter, über den hohen Blutdruck als über Angstzustände zu reden, sagte die Ministerin. „Schlaflose Nächte oder der Knoten im Magen sollten aber genauso ernst genommen werden wie ein Klingeln im Ohr oder ein taubes Handgelenk.“
Experten sehen aber bereits eine große Veränderung. „Es kommen mehr Patienten in Behandlung“, sagt Frank Schneider, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Aachen. Die Stigmatisierung habe abgenommen, auch durch die öffentliche Debatte, die etwa der Selbstmord des Bundesliga-Torwartes Robert Enke ausgelöst habe. Generell gebe es viele Ursachen für psychische Erkrankungen. „Die Veränderung der Arbeitswelt hat aber durchaus einen Einfluss“, sagt Schneider. So nehme zum Beispiel die Unsicherheit zu. „Viele Studien zeigen, dass die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes direkt hinter der Angst vor dem Verlust des Partners steht.“ Das wichtigste für eine gesunde Arbeitswelt seien Stabilität, klare Verantwortlichkeiten, Handlungsspielraum und die Akzeptanz am Arbeitsplatz, sagt der Psychologe.
Trotz allem Stress: Arbeit zu haben ist den Experten der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zufolge ein stabilisierender Faktor. Die Zahlen zeigen, dass die psychische Gesundheit Erwerbstätiger meist besser ist als die von Arbeitslosen.
Jahel Mielke
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