Die Ruhe vor dem Sturm: Jetzt können die Ukrainer wieder kämpfen wie zu Kriegsbeginn
Die Fronten sind weitgehend eingefroren. Beide Seiten legen den Grundstein für die nächsten Wochen. Kiew setzt offenbar auf einen erneuten Strategiewechsel.
Im Juli hatte es Russland schließlich geschafft: Nach wochenlangen schweren Kämpfen eroberten die russischen Truppen mit der Großstadt Lyssytschansk die gesamte ukrainische Region Luhansk. Das nächste Ziel sollte die westlich angrenzende Region Donezk sein. Doch dann stockte die Großoffensive, die deutlicher länger dauerte als geplant. Bis heute.
Die hohen Verluste in den Schlachten im Donbass führten dazu, dass Russland nicht die Kampfkraft hatte, die defensiven Stellungen um Slowjansk zu gefährden. Slowjansk ist neben Kramatorsk eine der beiden letzten unter ukrainischer Kontrolle stehenden Großstädte im Donbass. Die ukrainischen Stellungen halten dort nun schon seit Ende Februar.
Live auf Ihr Handy Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App. Hier für IOS und Android herunterladen.
Mehr noch: Dann kündigte die Ukraine auch noch eine Gegenoffensive in den besetzten Gebieten im Süden des Landes an. Eine Offensive, die noch gar nicht richtig gestartet ist und dennoch schon ihre Wirkung entfaltet. Die Ankündigung sorgt dafür, dass die Fronten seit Wochen nahezu eingefroren sind und stattdessen Taktik und Strategie in den Vordergrund rücken.
Die Ukrainer sind bis auf 30 Kilometer an die von Russland besetzte Stadt Cherson herangerückt. Eine Rückeroberung wäre nicht nur ein operativer, sondern ein großer symbolischer Erfolg. Denn dann hätte die ukrainische Armee die Großstadt, die Russland als erste im Krieg einnehmen konnte, befreit.
Die Ukrainer profitieren bei ihrem Vorstoß auf Cherson seit Anfang Juli davon, dass viele russische Truppen im Donbass eingesetzt sind. Die ukrainischen Truppen konnten die Invasoren vor der Stadt Cherson deshalb mehrere Kilometer zurückdrängen. Russland wiederum machte im Donbass nur kleine Fortschritte südlich der Stadt Bachmut.
Die Hinweise, dass die Ukrainer die große Gegenoffensive schon bald starten könnten, verdichten sich. Flugblätter der ukrainischen Regierung in der Region Cherson informieren die Bürger, wie sie sich mit Vorräten für die Zeit der Kämpfe eindecken.
Offenbar Tote bei russischen Angriffen auf Flüchtende
Auch die Zahl der Flüchtenden aus der Stadt Cherson scheint sich zu erhöhen. Videos in den sozialen Netzwerken zeigen lange Autoschlangen auf den Straßen, die aus der Stadt herausführen. Es soll Medienberichten zufolge auch russische Angriffe auf die fliehenden Menschen gegeben haben, bei denen mehrere gestorben sind.
Unklar ist noch, wie die Ukrainer vorgehen wollen. Die Stadt Cherson scheint als ein Ziel ausgemacht, allerdings ist auch ein ambitionierteres Vorhaben denkbar. Von Saporischschja in Richtung der Krim könnte das Ziel sein, die gesamte Südukraine in einem Zug zurückzuerobern.
Newsblog zum Krieg in der Ukraine Alle aktuellen Entwicklungen auf einen Blick
Russland hat die Gefahr, das besetzte Gebiet im Süden der Ukraine zumindest teilweise wieder an die Verteidiger zu verlieren, mittlerweile erkannt. Bereits in der vergangenen Woche kündigte der Chef des ukrainischen Sicherheitsrates, Oleksiy Danilov, im Fernsehen an, dass Russland „die maximal mögliche Zahl“ an Streitkräften in die Südukraine verlegen werde.
Erste Truppen sollen die Region Cherson dem US-Thinktank „Institute for the Study of War“ (ISW) zufolge bereits erreicht haben. Zusätzliche Truppen werden offenbar auch auf die besetzte Halbinsel Krim und in die Region Saporischschja, nördlich von Cherson, verlegt. Saporischschja hat Russland dem ISW zufolge als eigenen Schwachpunkt ausgemacht.
Die Offensive auf Slowjansk im Donbass solle währenddessen pausieren, berichtet das ISW. Ein gefährlicher Plan: Denn der Abzug von Truppen aus der Region Donezk könnte den Ukrainern die Möglichkeit geben, auch dort eine Gegenoffensive zu starten. Beispielsweise in Richtung der Stadt Isjum im Norden des Donbass, die Russland seit März besetzt.
Ein zerbombtes Gebäude in Slowjansk. © Imago/Zuma Wire
Gründe für die russischen Probleme in der Region Cherson sind unter anderem die Zerstörung einer wichtigen Brücke über den Fluss Dnjepr und Angriffe auf die Autobahn T2207. Auch weitere Übergänge über den Fluss sollen stark beschädigt sein. Stattdessen werden von den Russen nun Fähren eingesetzt. Die Folge: Die russische Armee ist auf dem Landweg von den anderen besetzten Gebieten weitgehend abgeschnitten. In Cherson harren der „New York Times“ zufolge noch mehrere tausend Soldaten aus.
Gelungen waren den Ukrainern die Fortschritte vor allem aufgrund der US-Mehrfachraketenwerfer Himars. Die Angriffe mit diesen zeigen, dass sich die Ukrainer mit den westlichen Waffenlieferungen die Freiheiten erkämpfen, ihre Strategie vom Beginn des Kriegs wieder umzusetzen.
Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Angriff auf einen russischen Zug, der am Dienstag auf der Nachschubroute von der Krim nach Cherson mit Himars getroffen wurde. Angaben des britischen Verteidigungsministeriums zufolge bräuchten die russischen Streitkräfte wahrscheinlich einige Tage, um die wichtige Verbindung zu reparieren.
Externer InhaltDatenschutzerklärung
Die Strecke werde danach eine Schwachstelle für das russische Militär und seine logistische Nachschubroute von der Krim nach Cherson bleiben. Zudem werde angesichts der anhaltenden Kämpfe und des Mangels an Lebensmitteln die Zahl der Zivilisten, die versuchten, aus Cherson und den umliegenden Gebieten zu fliehen, wohl zunehmen.
Dass die Himars ihre Wirkung entfalten, zeigen auch unbelegte Behauptungen des russischen Verteidigungsministeriums, Mehrfachraketenwerfer zerstört zu haben. Der ukrainische Generalstab teilte am Dienstag mit, dass alle 16 gelieferten Himars weiter einsatzbereit seien. Auch das US-Verteidigungsministerium dementierte. „Wir sind uns dieser jüngsten Behauptungen bewusst, sie sind komplett falsch“, sagte ein Sprecher.
US-amerikanische Himars einsatzbereit in Saporischschja. © Imago/Cover-Images
Dass es der Ukraine gelinge, Russland immer wieder zur Anpassung der strategischen Ziele zu zwingen, sei ein Erfolgsrezept, schreibt der ehemalige australische General Mick Ryan auf Twitter. Zuallererst, weil Russland seine politischen Ziele in der Ukraine herunterschrauben musste nach den Misserfolgen rund um die Hauptstadt Kiew im Februar und März.
Der Grund dafür: Russland kann sich wiederum nur schwer auf ukrainische Strategiewechsel einstellen. Das droht für die Russen nun auch bei der Gegenoffensive in Cherson zum Problem zu werden. Philipps O’Brien, Professor für Strategic Studies an der Universität im schottischen St. Andrews, findet es „interessant zu sehen, dass sie erst Wochen, nachdem die Ukraine die Gegenoffensive ankündigte, reagieren“.
Das tägliche Update zum Krieg in der Ukraine Jeden Abend per Newsletter Nachrichten, Hintergründe und Analysen
Ex-General Ryan ist sich sicher, dass die andauernden russischen Misserfolge damit zu tun haben, dass es der Ukraine gelungen ist, die russischen Kampffähigkeiten physisch, moralisch und konzeptuell zu zersetzen. Diese Zersetzung sei der Ukraine dadurch gelungen, dass die Ukrainer die Russen genau dort getroffen hätten, wo diese schwach seien.
Tatsächlich startete die Ukraine in den vergangenen Wochen wiederholt Angriffe auf russische Nachschubwege – einer der verwundbarsten Punkte der Kriegsführung. Zudem nennt Ryan auch die Kommandoposten als Schwachpunkte. Ein US-Regierungsoffizieller berichtete zuletzt, dass die Befehlskette weiterhin teilweise unterbrochen sei, weil zahlreiche russische Befehlshaber getötet oder verletzt wurden.
Schlacht im Donbass war eine Ausnahme
Die Schlacht im Donbass stellte eine Ausnahme dar, allerdings auch aufgrund der Voraussetzungen: Russland hatte dort eine Truppen- und Artillerie-Übermacht. Nun verlegt Russland zwar massiv Truppen nach Cherson – doch war der Kampf im Donbass so verlustreich, dass fraglich ist, ob Russland dort zu einer weiteren Offensive fähig ist.
Mehr zum Thema auf Tagesspiegel Plus:
Taktisches Ringen um die Südukraine „Der Kampf um Cherson könnte zum Wendepunkt im Ukraine-Krieg werden“
Raketen, leere Regale, Razzien Vier Ukrainer erzählen von ihrem Alltag im Krieg
Monate vor der Invasion der Ukraine Als Russland seine Propaganda in den Kriegsmodus schaltete
Aufgrund vorheriger Misserfolge zwinge die Ukraine Russland mit der Gegenoffensive zudem dazu, nun mehr Risiko bei seinen Operationen einzugehen, schreibt Ryan. So formen sie Bataillone aus freiwilligen Soldaten, die teilweise nach nur 30 Tagen Training in die Schlacht geschickt werden. Auch setzen die Russen weiterhin Soldaten ohne Pause wieder ein.
O’Brien sieht darin den erneuten Versuch der russischen Streitkräfte, stärker aufzutreten als sie sind. Demnach versuchen die Befehlshaber die Soldaten davon zu überzeugen, dass sie Fähigkeiten haben, weitreichende Operationen auszuüben. „Bis die Realität sie trifft“, erklärt O’Brien. Er vermutet, dass die Moral der russischen Soldaten schnell sinken wird, sobald sie „erkennen, dass die Strategie nicht funktioniert – und sie daran zweifeln“.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität