Wenn Freiheit neidisch macht: Die Rückkehr zur Normalität wird alles andere als einfach
Beim Impfgipfel ging es um mehr Rechte für Geimpfte. Die werden Missgunst hervorrufen. Die Ungleichheit muss daher schnell überwunden werden. Ein Kommentar.
Freiheitsrechte sind Grundrechte. Sie stehen jedem Menschen zu. Wer sie einschränkt, braucht gute Gründe. Wenn diese Gründe entfallen, müssen die Freiheitsrechte wieder gewährt werden. So einfach ist das. Ist es so einfach? Am Montag kamen die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten zum „Impfgipfel“ zusammen. Sie berieten darüber, ob vollständig Geimpfte und Genesene Freiheiten zurückerhalten sollen. Beschlüsse gab es nach einer recht kurzen Sitzung keine.
Angela Merkel sicherte lediglich zu, dass die Impfreihenfolge bis zum Juni aufgehoben werde und dann auch Betriebsärzte einbezogen würden. Und die Grundrechte? Schon die Debatte im Vorfeld zeigte: So einfach ist es nicht.
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Im Kampf gegen Covid-19 greifen Regierungen in aller Welt massiv in die Grundrechte ihrer Bürger ein. Abgesehen von deren Gesetzestreue sind sie aber auch angewiesen auf Einsicht und Solidarität. Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt der Volksmund. Das hat in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen – von Raver-Partys über „Querdenker“-Demos bis zu Schauspielervideos – gut funktioniert. Den Reifetest im Umgang mit der Pandemie haben die Deutschen bestanden.
Auch andere müssen wieder atmen können
Doch wer geglaubt hatte, einfacher zu steuern werde die Rückkehr in die Normalität, könnte sich getäuscht haben. Sollen vollständig Geimpfte und Genesene künftig Zugang zu Geschäften haben, auf Reisen gehen dürfen, von der Pflicht zur Quarantäne entbunden sein?
Beim Blick auf den Einzelnen und seine Rechte kann die spontane Antwort nur „Ja“ lauten. Jeder, der in die Normalität zurückkehrt, trägt dazu bei, dass auch andere wieder atmen können: Geschäftsinhaber, Hoteliers, Reiseveranstalter, Kinobetreiber. Und keinem geht es schlechter, nur weil es anderen langsam besser geht.
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Zumindest in der Theorie. David ist 17 Jahre alt, hat auf Partys verzichtet, kaum Freunde getroffen, sein Sportverein musste schließen. Jetzt erlebt er, dass vor allem die Älteren geimpft werden. Sie können sich womöglich bald zum Skatabend verabreden, während er immer weiter zwischen Präsenz- und Online-Unterricht pendelt. Das mag man für unabänderlich halten und Davids Schicksal Schicksal nennen. Aber wem ist Neid schon fremd?
Wichtig ist der Faktor Zeit
Gleichheit und Gerechtigkeit liegen eng beieinander. Eine Gesellschaft, die sich in wenige freie und viele unfreie Menschen spaltet, erzeugt Missgunst. Die Bilder aus Israel, Großbritannien und den USA, wo dank schneller Impferfolge weitreichende Lockerungen möglich geworden sind, haben hierzulande den Groll auf das Impfstoffbeschaffungsversagen der EU noch einmal verstärkt. Erst an zweiter Stelle kam die Gratulation an jene, die ihr altes Leben wiederhaben.
Vollständig Geimpfte und Genesene müssen ihre Freiheitsrechte zurückbekommen. Dieses Gebot zieht allerdings die Pflicht nach sich, die Impfanstrengungen zu verstärken. Wichtig ist der Faktor Zeit. Je schneller Ungleichheit überwunden wird, desto eher wird sie erduldet.
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Dazu gehört auch, die Impfreihenfolge möglichst bald aufzuheben und die Verantwortung der Haus- und Betriebsärzte zu vergrößern. An Impfstoff soll es, so versichert die Bundesregierung, demnächst nicht mangeln. Und die Impfstoffe selbst lassen sich offenbar kombinieren. Das sind gute Nachrichten.
Missgunst und Verwerfungen vermeiden
Bleibt der digitale Impfausweis. Seit langer Zeit ist klar, dass er gebraucht wird. Seine Entwicklung indes zieht sich hin. Wieder einmal verzögern datenschutzrechtliche Bedenkenträger die Einführung eines praktischen Instruments. Denn was nützen all die Debatten, wenn an der Museums- oder Kinokasse kein zuverlässiger Nachweis über Impfung und Genesung geführt werden kann? Die rasche Aufeinanderfolge von Notbremse und Freiheitsverheißung strapaziert die Gefühle. Sie markiert den Übergang vom Primat solidarischer Lockdown-Erduldung zum Primat zeitlich befristeter Ungleichheits-Erduldung. Aus der Sorge um die Mortalität entsteht Hoffnung für mehr Mobilität.
Mehr als jeder fünfte Deutsche wurde einmal geimpft. Nur wenn sie alle auch den jungen David im Blick behalten – und keine resistente Mutation dazwischenfunkt –, könnte es der Gesellschaft gelingen, Missgunst und Verwerfungen zu vermeiden.