Europaparlament: Die rote Grüne
Jung, ehrgeizig und links: Ska Keller hat gute Chancen, neue Fraktionschefin der europäischen Grünen zu werden.
Wenn man Ska Keller fragt, wie sie die Rolle der Grünen im Europaparlament sieht, dann bekommt man eine zweigeteilte Antwort. „Wir sind die pro-europäische Kraft“, sagt die 34-Jährige. Und dann fügt sie hinzu: „Man kann nicht nur pro-europäisch sein. Wir müssen auch sagen, was wir verändern wollen.“ Solche kämpferischen Ansagen werden die Europaabgeordneten vermutlich noch öfter zu hören bekommen. Denn Keller schickt sich an, den Ko-Fraktionsvorsitz bei den Grünen von Rebecca Harms (59) zu übernehmen.
Wenn nun voraussichtlich bei der turnusgemäßen Wahl der neuen Grünen- Fraktionsführung am 13. Dezember eine deutsche Abgeordnete eine andere deutsche Parlamentarierin im Zuge eines Generationswechsels ersetzt, so ist das kein besonderer Vorgang, möchte man meinen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn die Grünen wären nicht die Grünen, wenn mit dem Wechsel an der Spitze in Brüssel nicht auch eine Richtungsdebatte verbunden wäre. Denn anders als Rebecca Harms gehört Ska Keller zum linken Flügel in der Partei.
Die langjährige Frontfrau Harms haderte mit Fraktionskollegen
Als Harms im Oktober nach sechs Jahren ihren Rückzug von der Fraktionsspitze bekannt gab, da wollte sie nicht verbergen, dass sich bei ihr schon länger Frust über einige Parteikollegen in der Straßburger Versammlung angestaut hatte. Es gebe eine „zu starke Ja-aber-Haltung“, beklagte sich Harms über jene Grünen, die die EU als ein „Opfer des Neoliberalismus“ darstellten. Verbreitet sei in der Fraktion der Öko-Partei eine Haltung nach dem Motto „Wir sind für Europa, aber nicht für dieses“, monierte die langjährige Frontfrau. Für kritikwürdig befand sie unter anderem die Auffassung von etlichen Abgeordneten, dass die Verhandlungsführer beim EU-Freihandelsabkommen mit Kanada (Ceta) „Europa undemokratischer machen wollten“.
Von dieser Kritik durfte sich auch Ska Keller, die nun den Fraktionsvorsitz übernehmen will, durchaus angesprochen fühlen. Die in Brandenburg geborene Abgeordnete, die fünf Sprachen spricht und als 27-Jährige 2009 ins EU-Parlament einzog, sieht allerdings keinen Dissens zwischen ihr selbst und der scheidenden Fraktionsvorsitzenden. Es gebe nur „minimale Unterscheidungen“ zur Linie von Harms, beteuert sie. Schließlich sei auch die Niedersächsin Harms, die zu den ersten Aktivisten der Anti-Atombewegung gehörte, nicht mit der EU-Energiepolitik einverstanden.
Keller will stärkere Nutzung von Europäischen Bürgerinitiativen
Dennoch ist unbestritten, dass Ska Keller schon eher zur Fundamentalkritik in EU-Angelegenheiten neigt als die bisherige Amtsinhaberin auf dem Posten der Ko-Fraktionschefin. Als etwa die Briten im Juni für den Ausstieg aus der EU stimmten, twitterte Keller, man müsse die Europäische Union „demokratischer machen“ und dafür sorgen, „dass sie für die Leute arbeitet“. Darauf angesprochen, meint sie: „Es ist nicht so, dass die EU undemokratisch ist.“ Und setzt hinzu: „Nichtsdestotrotz müssen wir die Demokratie verbessern.“ Ein „Kernproblem“ bestehe nämlich darin, dass der Rat der EU-Mitgliedstaaten unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagt. Zudem müsse das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative gestärkt werden. Keller erinnert daran, dass die EU-Kommission in Brüssel die Europäische Bürgerinitiative gegen Ceta und das geplante Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) nicht zuließ, obwohl dabei mehr als drei Millionen Menschen unterschrieben hatten.
Bislang ist kein Gegenkandidat in Sicht
Noch ist nicht sicher, ob Keller und der auch bisher schon als Ko-Fraktionsvorsitzender amtierende Belgier Philippe Lamberts tatsächlich bei der fraktionsinternen Wahl Anfang Dezember das Rennen machen. Am 4. Dezember läuft die Bewerbungsfrist ab, und ob noch jemand zusätzlich antrete, wisse man bei den Grünen ja nie, meint Keller. Für die ehrgeizige Europaabgeordnete wäre die Wahl der vorläufige Höhepunkt einer steilen Karriere, bei der es schon einmal zu mehreren Duellen mit Rebecca Harms gekommen war. Als es vor der Europawahl 2014 darum ging, wer für die Grünen als EU-weite Spitzenkandidatin antritt, musste sich die langjährige Fraktionschefin bei einer Online-Wahl der Nachwuchspolitikerin geschlagen geben. Kritiker merkten allerdings damals an, dass das Ergebnis der Internet-Abstimmung wegen der schwachen Beteiligung wenig aussagekräftig gewesen sei. Gerade einmal 22 656 Personen gaben bei der europaweiten Vorwahl damals ihre Stimme ab, 11 791 entfielen auf Keller.
Auch als linke Herausforderin der Reala Katrin Göring-Eckardt wurde sie schon gehandelt
Eine Woche nach der umstrittenen Online-Wahl war es dann vor zweieinhalb Jahren Harms, die sich bei einem Nominierungsparteitag gegen die jüngere Herausforderin durchsetzte – diesmal bei einer Kampfabstimmung für die deutsche Spitzenkandidatur für die letzte Europawahl. Der Karriere von Keller tat das keinen Abbruch. Zwischenzeitlich wurde sie auch in der Bundespolitik als mögliche linke Herausforderin der zum Realo- Flügel zählenden Bundestags-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt bei der laufenden Urwahl für das Grünen-Spitzenduo gehandelt, das zur Bundestagswahl 2017 antreten soll. Doch die Europaabgeordnete winkte vor zwei Monaten mit den Worten ab: „Ich sehe meine Aufgabe in der Europafraktion.“
Dass sie dort nach aller Voraussicht ganz an die Spitze rückt, hat vor allem damit zu tun, dass sie sich auf dem Feld der Migrationspolitik einen Namen gemacht hat. Als die EU beispielsweise im vergangenen März eine Flüchtlingsvereinbarung mit der Türkei schloss, da verurteilte sie das Abkommen mit scharfen Worten. Der Deal sei „in der Praxis kaum umsetzbar und tritt Menschenrechte mit Füßen“, sagte sie damals. Und als in der Flüchtlingskrise die Aufstockung der EU-Grenzschutzagentur Frontex (Keller: „Das ist wirklich nicht unser Lieblingsprojekt“) beschlossen wurde, da setzte sie sich für einen besseren Schutz der Menschenrechte an den Außengrenzen der EU ein.
Auch wenn möglicherweise nicht alle Realos bei den Grünen ihren Kurs schätzen, so sieht sich Keller in jedem Fall als Pro-Europäerin. Egal ob es um Themen wie die Energiewende oder die Flüchtlingspolitik gehe, so bleibe ihr Credo doch stets dasselbe: „Wir wollen das Ganze auf der europäischen Ebene regeln.“
Der Text erschien in "Agenda" vom 22. November 2016, einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.