Zusammensetzung des nächsten Bundestags: Die Reue nach der Wahl
Die Fraktionen von Grünen, SPD und Union werden wohl weniger Mitte sein als die Spitzenkandidaten: Ein Risiko für das Koalieren und Regieren. Ein Kommentar.
Der Wahltag verspricht dramatisch zu werden. Das wahre Drama beginnt jedoch danach: mit der Koalitionssuche und dem Regieren. Da dürfte sich eine Kluft auftun zwischen den Erwartungen der Wähler bei der Stimmabgabe und dem Ergebnis, das sie erhalten.
In den USA spricht man in solchen Fällen von „Buyers Remorse“. Was der Käufer bekommt, enttäuscht ihn. Er bereut die Entscheidung.
Die Spitzenkandidaten Olaf Scholz, Armin Laschet, Annalena Baerbock, versprechen, was die Deutschen als Lehre aus ihrer turbulenten Geschichte bevorzugen: Mitte, Solidität, Verlässlichkeit, keine Experimente, schon gar keine Revolution. Eine Neuausrichtung nach 16 Jahren Angela Merkel ist nötig, soll die Bürger aber nicht überfordern.
Aber werden ihre Fraktionen im Bundestag den moderaten Kurs mittragen? Und wie lange hält eine Koalition, wenn der Richtungsstreit zwischen Regierung und Teilen der Parlamentarier, auf die sich stützt, offen aufbricht?
Doppelt so viele Sitze für die Grünen, die Neuen sind progressiv
Die genaue Zusammensetzung der Fraktionen lässt sich wegen der Vielzahl der Variablen kaum vorhersagen. Wer erringt ein Direktmandat, wer zieht über die Liste samt Ausgleichsmandaten in den Bundestag ein? Grunderkenntnisse über die Ausrichtung der Fraktionen gibt es aber schon.
Die Grünen werden die Zahl ihrer Sitze verdoppeln. Die Neuen sind zumeist progressiver als das Spitzenduo Baerbock/Habeck und haben wenig Erfahrung mit parlamentarischen Zwängen zum Kompromiss und zur Fraktionsdisziplin. Falls CDU/CSU in Bayern und anderswo weit mehr Direktmandate erzielen, als es ihrem Prozentanteil entspricht, kommen über Ausgleichsmandate viele weitere unerfahrene Grüne ins Parlament.
Ein Gutteil der SPD steht links von Scholz, viele wollen Rot-Rot-Grün
Auch in der SPD-Fraktion ist ein Großteil links von Olaf Scholz zu verorten. Im Wahlkampf halten sie sich zurück, um seinen Sieg nicht zu gefährden. Aber wenn nach der Wahl die Option Rot-Rot-Grün möglich ist, werden sie darauf drängen, unterstützt von Befürwortern bei den Grünen.
Das heißt nicht, dass es so kommt. Je strahlender Scholz abschneidet, verstärkt durch SPD-Siege in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, desto leichter kann er die Koalition mit den Linken, die nur ein Fünftel der Deutschen befürwortet, ablehnen.
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Und falls die SPD nun mehr Direktmandate als erwartet erringt, stärkt auch das die Moderaten. Rot-Rot-Grün ist aber mehr als ein Hirngespinst der Union auf der Suche nach einem Wahlkampfhit wie einst die „Roten Socken“, als das es Scholz abtut.
Eine Ampel mit der FDP ist preiswert zu haben, könnte sich aber rächen
Bildet er stattdessen eine Ampel mit FDP und Grünen, wird er bei einigen Abgeordneten Ärger und Rachegelüste auslösen, die sich im Regierungsalltag bei passender Gelegenheit entladen.
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Die FDP bietet sich als Garant der Mitte und der ökonomischen Solidität an. Ihre Fraktion wird weniger ideologisches Konfliktpotenzial mit der Führung haben. Aber Lindner wird preiswert zu haben sein, auch wenn er behauptet, er werde erneut keine Koalition zu falschen Bedingungen eingehen. Es ist die letzte Regierungschance für seine Generation.
Für die Union gilt zwar auch: Die Fraktion tickt weniger mittig als die Spitze. Ein Risiko für Koalitionssuche und Regieren wird daraus in ihrem Fall aber nicht. Rettet sie sich ins Mitregieren, wird sie zahm sein.
Eine starke Oppositionsrolle muss warten, bis sie nach einer Niederlage ihre Identität wiedergefunden hat. Noch ein Grund, warum nach der Wahl „Buyers Remorse“ wachsen könnte.