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Die Weite Berlins – auch eine Weite des gedanklichen Horizonts?
© imago images / Panthermedia

Intelligenz der Stadt: Die Probleme der Welt werden in den Metropolen gelöst

Progressive Bürgermeister erschaffen weltweit Zukunftsvisionen und beweisen mit vielen Initiativen: Urbane Politik wird vor allem lokal gemacht. Ein Essay.

Weltweit leben bald 80 Prozent der Bevölkerung in Ballungsgebieten. Die Metropolregionen können bereits heute politisch und wirtschaftlich mit einer Vielzahl von Nationalstaaten konkurrieren. So verfügt die Stadt New York mit mehr als 80 Milliarden Dollar über ein jährliches Budget, das über dem von 160 Ländern liegt.

Die Bevölkerungszahlen von Megastädten wie Seoul und Tokio sind höher als die einiger Nationalstaaten. Die Einwohner der Städte identifizieren sich mehr mit ihnen oder ihrer Community als mit ihrer nationalen Herkunft. Die Großstädte müssen die zentralen Probleme unserer Zeit lösen: Klima, Mobilität, Integration, Sicherheit und die Bedrohung von Demokratie und gesellschaftlichem Zusammenhalt durch den neuen Rechtspopulismus. Die Bürgermeister werden zu den Akteuren der Zukunft. In den USA haben Bürgermeister für ihre Städte neue CO2-Ziele gesetzt – gegen Trumps Klimapolitik. In Polen sind sie ein Bollwerk gegen die rechtspopulistische PiS. In Istanbul leistet ein Bürgermeister Widerstand gegen Erdogan.

Vor vier Jahren tagte zum ersten Mal das „Global Parliament of Mayors“, das heute mehr als 200 Millionen Menschen repräsentiert und vom 2017 verstorbenen amerikanischen Professor für Zivilgesellschaft, Benjamin R. Barber, initiiert wurde. Die Bürgermeister haben sich weltweit vernetzt und zusammengeschlossen. Mit seinem Bestseller „If Mayors Ruled the World“ startete Barber einen neuen globalen Diskurs über die Zukunft der Demokratie.

Städte sind motivierter, globale Probleme zu lösen

Zentraler Auslöser des globalen Parlaments der Bürgermeister war die gemeinsame Erkenntnis: Stadtpolitik ist effektiver und zukunftsorientierter als nationale Politik. Barber stellt in seinem Buch angesichts der Herausforderungen und Probleme einer globalisierten Welt die Funktionalität des Nationalstaates als politische Einheit infrage: Da sich Staaten durch ihre Grenzen definieren, sind sie nicht in der Lage, die globalen Probleme zu lösen, die keine Grenzen kennen. Städte haben im Unterschied zu Staaten einen anderen Begriff von Souveränität, in dem das Bestehen und Verstehen von wechselseitigen Abhängigkeiten im Mittelpunkt steht.

Die Zukunft der Demokratie ist lokal und urban. Die glokalen Städte und Bürgermeister formen die soziale und ökologische Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Die Weltbürgermeister sind die neuen Glokalisten. „Wir brauchen radikale Ansätze, die sich aus Demokratie, Gerechtigkeit, Wertewandel und Nachhaltigkeit speisen“, schreibt der Bürgermeister des sächsischen Augustusburg, Dirk Neubauer, in seinem Buch „Das Problem sind wir“.

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Städte sind motivierter, globale Probleme zu lösen, weil sie schneller ihr Opfer werden können. Beispiel ist der Klimawandel. 80 Prozent der CO2-Emissionen kommen aus den Städten. 90 Prozent der Städte weltweit liegen am Meer, einem See oder Fluss. Während die Klimapolitik auf nationaler Ebene meist ein Thema unter vielen ist, spielt sie sich in den Städten vor der eigenen Haustür ab. So ist dem Ausstieg der USA unter Donald Trump aus dem globalen Klimaabkommen keine US-Stadt gefolgt. Die meisten bekennen sich weiterhin zu den Klimazielen von Paris.

Viele Städte sind sich international bei Umwelt-, Wohnungs- und sozialen Fragen ähnlicher als die Städte in ihren Nationalstaaten. So haben sich die Bürgermeister von London, Paris, Los Angeles, Kopenhagen, Barcelona, Mexiko-Stadt und Mailand dazu verpflichtet, ab 2025 nur noch Elektrobusse zu kaufen. Bis 2030 wollen sie weitgehend emissionsfrei sein.

„Die Luft in London ist ein Killer“

Donald Trumps Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen begründete der US-Präsident mit den Worten, er repräsentiere „Pittsburgh und nicht Paris“. Die Reaktion kam von Bill Peduto, dem Bürgermeister von Pittsburgh: „Pittsburgh steht an der Seite der Welt und wird die Kriterien des Pariser Abkommens einhalten.“ Seitdem gilt Peduto als prominenter Vertreter des lokalen Widerstands gegen Trumps Ausstieg aus dem Abkommen. Kurz nach Trumps Verkündigung auf Twitter rief er die Städte dazu auf, die Führung beim Klimaschutz zu übernehmen.

Anne Hidalgo ist seit 2014 als erste Frau Bürgermeisterin von Paris. Eine Sozialistin mit spanischer Herkunft. Sie verfolgt eine ökologische Agenda für die Hauptstadt Frankreichs. Paris soll sauberer und grüner werden – durch eine urbane Landwirtschaft und weniger Verkehr. Seit ihrem Amtsantritt wurden 20.000 neue Bäume und 40 Hektar zusätzliche Parks und Grünflächen gebaut. Mehr Grün, weniger Abgase und mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer.

Auf einer Website können sich die Pariser stündlich über Stickstoffdioxid-, Ozon- und Feinstaub-Werte informieren. Ihr Kurs gilt auch der Neuverteilung des öffentlichen Raums. Geplant ist der Umbau der Ringautobahn zu einem Stadt-Boulevard in nur sechs Jahren. Autos mit Verbrennungsmotoren sollen nur noch eine Spur in der Metropole bekommen.

Mit drastischen Worten beschreibt der Bürgermeister von London, Sadiq Khan, das Klima in der größten Stadt Europas: „Die Luft in London ist ein Killer.“ Die schlechte Luftqualität sei heute das größte Umwelt- und Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung. Sein Ziel ist die allmähliche Verbannung des Autos aus der Innenstadt. Mehr als zwei Millionen Besitzer älterer Autos müssen pro Tag fast 14 Euro „Eintrittsgeld“ zahlen, wenn sie in die Innenstadt wollen – zusätzlich zur Innenstadt-Maut von rund 13 Euro. Dafür wird der Schienen- und Radverkehr massiv ausgebaut.

Goslars Bürgermeister sieht die neue Zuwanderung positiv

Kopenhagen gilt seit Jahren als „Fahrradhauptstadt“ und macht vor, wie neue Mobilität in den Ballungsgebieten gelingen kann. Klaus Bondam, früherer Bürgermeister für Technik und Umwelt und jetziger Direktor der dänischen Radfahrer-Föderation, hat diese verkehrspolitische Wende bereits im Jahr 2006 eingeleitet. Die dänische Hauptstadt hat seitdem mehr als 50 Millionen Euro in die Infrastruktur für Fahrräder investiert und den Autoverkehr in den letzten Jahren weitgehend reduziert. Mehr als die Hälfte der Stadtbewohner nutzt heute täglich ihr Fahrrad.

Deutlich wird die neue Rolle der Städte neben der Klimafrage auch bei den Zukunftsthemen Integration und Sicherheit. Vor dem Beginn der Flüchtlingskrise forderte der Bürgermeister der Stadt Goslar, Oliver Junk, in einer Rede Ende 2014, die Großstädte bei der Aufnahme der neuen Flüchtlinge zu entlasten, und nahm selbst mehr Flüchtlinge auf, als die Mittelstadt in Niedersachsen aufnehmen sollte. Junk sieht die neue Zuwanderung positiv, auch aus demografischen Gründen. Vor allem der ländliche Raum und viele Regionen sind darauf angewiesen. „Erfolgreiche Flüchtlingsarbeit ist nicht abhängig vom Standort, sondern von der Haltung“, begründet der CDU-Oberbürgermeister seine Politik.

2017 wurde Bart Somers zum „besten Bürgermeister der Welt“ gewählt. Ein Jahr zuvor wurde die von ihm regierte Stadt Mechelen in die Top Ten „Europas Städte der Zukunft“ aufgenommen. Zu Recht: Der liberale Somers hat in der belgischen Stadt mit 86.000 Einwohnern aus mehr als 130 Nationen geschafft, was den meisten Städten mit sozialen Brennpunkten nur selten gelingt. Mit einem Mix aus einer Null-Toleranz-Politik und unorthodoxen Integrationsideen hat er Mechelen zu einer der sichersten und saubersten Städte in Belgien gemacht.

Seine Erfolgsformel beschreibt er in seinem neuen Buch: „Ohne Sicherheit kein bürgerschaftliches Engagement!“ Mechelen wendet heute pro Kopf mehr als andere Städte für Sicherheit auf. Somers kritisiert die ideologische Kurzsichtigkeit linker und rechter Politiker, die in Migranten nur Arme und Opfer sehen oder eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Diese führe zu einer Sozialpolitik, die Armut zementiere und zu einer gescheiterten Sicherheitspolitik. Nirgendwo in Belgien findet die Integrationspolitik so viel Zustimmung wie in Mechelen. Die Bürger sind wieder stolz auf ihre Stadt.

Barcelona baut auf Infrastruktur und lokale Tech-Unternehmen

Seit 2015 kämpft Thikra Alwash, Bürgermeisterin von Bagdad, die erste Bürgermeisterin im Irak und die erste überhaupt in der arabischen Welt, gegen die verbreitete Korruption und für mehr Vertrauen in Politik und Verwaltung. Seitdem rücken mehr Frauen in Führungsämter auf.

Auf Bürgerbeteiligung, Digitalisierung und lokale Wirtschaft setzt die linke Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colau, die im Juni 2019 wiedergewählt wurde. 40.000 Bürger haben sich an der Erstellung des Regierungsprogramms beteiligt. Drei Viertel des Programms stammt von den Bürgerinnen und Bürgern. Die Stadt zeigt, wie die technische Revolution einer Smart City die Demokratie revolutionieren kann.

Barcelona baut auf Infrastruktur und lokale Tech-Unternehmen. Die Daten gehören den Stadtbewohnern und sollen ausschließlich für soziale Zwecke genutzt werden. Entstanden sind in den letzten Jahren autofreie Stadtgebiete, neue Buslinien und ein städtisches Unternehmen für Solarenergie. 20.000 Häuser und alle öffentlichen Gebäude bekommen von dort ihre Energie. Im Tech-Bereich fördert Barcelona kleine und mittlere Unternehmen, um neue digitale Dienstleistungen und Lösungen zu entwickeln. Ganze Stadtbezirke sind heute für den Autoverkehr fast gesperrt. Feste, Märkte und Veranstaltungen haben mehr Platz, die ökonomische Aktivität ist in den Bezirken gestiegen, Luftverschmutzung und Lärm sind dagegen gesunken.

Ein Bündnis namens „Fearless Cities“

Während die Demokratie auf nationaler und supranationaler Ebene in der Krise steckt, gewinnt sie auf kommunaler und städtischer Ebene eine neue Vitalität. So trafen sich 2017 in Barcelona Bürgermeister und Stadträte aus Spanien, Griechenland, Chile, Indien, Brasilien und den USA, um „in Zeiten von Hass und autoritärer Regime für Menschenrechte, Demokratie und Gemeinwohl einzutreten“.

Das Bündnis nennt sich „Fearless Cities“. Sie beschreiben ihre Ziele folgendermaßen: „Weltweit stehen Städte und Gemeinden auf, um Menschenrechte, Demokratie und das Gemeinwohl zu verteidigen. Der Gipfel der ,Furchtlosen Städte‘ wird es den kommunalen Bewegungen ermöglichen, globale Netzwerke der Solidarität und der Hoffnung im Angesicht von Hass, Mauern und Grenzen aufzubauen.“

Furchtlos ist auch Robert Biedron, von 2014 bis 2018 Bürgermeister der polnischen Stadt Slupsk und Vorsitzender der von ihm im Februar 2019 gegründeten Partei Wiosna („Frühling“). Bei der Europawahl im Mai erreichte die Partei sechs Prozent. Biedron wurde direkt in das Europaparlament gewählt. Er ist der bekannteste offen homosexuell lebende Politiker in Polen, will das Monopol der rechtspopulistischen Regierungspartei PIS brechen und das Erbe des Anfang 2019 ermordeten Danziger Bürgermeisters Pawel Adamowicz erfüllen. Das Parteiprogramm von Wiosna basiert auf drei Säulen: dem Menschen, der Gemeinschaft und einem Staat, dem man vertrauen könne.

Ekrem Imamoglu hat in der Türkei in diesem Jahr ein politisches Wunder vollbracht. Der erstmals gewählte Bürgermeister von Istanbul der Republikanischen Volkspartei CHP setzt statt auf Polarisierung auf Versöhnung. Architekt seines Erfolgs ist der Parteistratege Ates Ilyas Bassoy, dessen Wahlkampfkonzept für die Türkei ganz neuartig ist. Bassoy nennt es in seinem Handbuch für den Wahlkampf „radikale Liebe“. In 14 Punkten erläutert Bassoy darin ausführlich, wie die CHP-Wahlkämpfer auftreten sollten. Keine Beleidigungen, keine Unterstellungen, kein erhobener Zeigefinger, keine Besserwisserei, kein Hochmut, kein Sarkasmus, weniger reden, mehr zuhören, immer lächeln und: Vorsicht in den sozialen Medien.

In den Städten wird die Zukunft entschieden

Akteure und Avantgardisten des Neuen und Kreativen sind pragmatische und nicht polarisierende Bürgermeister. Sie verstehen sich als politische Unternehmer, sind volksnah, lassen sich an ihren Taten messen und wirken über die eigene Stadt hinaus. Kreative Bürgermeister sind die Beschleuniger und Agenten einer Revitalisierung der Demokratie durch neue politische Formate und Werkzeuge. Städte, die auf Beteiligung, Lebensqualität und Offenheit nach außen setzen, haben glücklichere Bürger, sind wirtschaftlich erfolgreicher und sozial innovativer.

In den Städten wird die Zukunft entschieden, das Regionale und das Globale verschmilzt zum Glokalen. Die Bürgermeister sind es, die Weltoffenheit und Ökologie machtpolitisch vor dem Neo-Nationalismus retten. Die neue „glokale Demokratie“ hat ihre Wurzeln in der alten antiken Demokratie und setzt wie diese auf Volksnähe und Demokratie von unten. Die neuen Governance-Themen wie Klimaschutz, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Diversität und Migration können nicht allein durch zentralstaatliches Handeln beantwortet werden. In den Kommunen existiert längst eine kollaborative und ko-kreative Praxis. Mit Erfolg.

Daniel Dettling

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