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Das Ausland als Vorbild? In den USA werden auch Teenager schon längst geimpft.
© Damian Dovarganes/AP/dpa

Streit um Stiko und Corona-Impfungen für Jugendliche: Die Politik schaufelt sich ihr eigenes Rechtfertigungsgrab

In ihren Zuständigkeitsbereichen hat die Politik nicht geliefert, aber jetzt einen Kompetenzkampf mit der Stiko gestartet. Die Verwirrung wächst. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Wenn es so kommt, wie es eine Beschlussvorlage vorsieht, wird es an diesem Montag eine Impfempfehlung für über 12-Jährige geben und für eine Drittimpfung von Senioren. Absender: die Gesundheitsministerkonferenz, ein Gremium, das sich aus 16 Landesgesundheitsministern und einem Bundesgesundheitsminister zusammensetzt. Lauter Politiker und Politikerinnen also, unter denen sich, das am Rande, mehr Juristen als medizinisch Vorgebildete finden.

Eigentlich werden Impfempfehlungen von der Stiko, der Ständigen Impfkommission ausgesprochen. Die ist mit Fachleuten aus der Allgemeinmedizin, der Infektiologie, der Epidemiologie, der Mikrobiologie besetzt – ohne dass sie das nun über den jeden Zweifel erheben würde. Dieses Gremium hat den Impfnutzen für das Individuum im Fokus und bisher mit dem Argument, es fehlten belastbare Studien zu Impffolgen für Teenager, eine generelle Empfehlung für 12- bis 17-Jährige explizit nicht ausgesprochen, sondern allein für jene, die gesundheitlich vorbelastet sind.

Aus der Politik war die Stiko für diese Haltung mehrfach angegangen worden, zumal Länder wie Israel, Kanada oder die USA längst auch Teenager impfen. Auf deren Daten will die Stiko warten. CSU-Chef Markus Söder bespöttelte das Gremium dafür als nur „ehrenamtlich“, Grünen-Chef Robert Habeck forderte, auch nicht sonderlich respektvoll, sie solle mal „in die Gänge kommen“. Man kann das durchaus so sehen. Denn mindestens behäbig wirkt das Stiko-Warten schon. Ihr aber vorzugreifen, ist etwas anderes.

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Die Sorgen der Politik sind epidemiologisch begründet. Sie gelten der Ausbreitung der Delta-Variante und speziell dem Ferienende. An diesem Montag gehen in den ersten Bundesländern wieder Kinder und Jugendliche zur Schule, so dass das Infektionsgeschehen wieder befeuert werden könnte. Diese Sorgen lassen sich gut begründen – die Reaktion aber nicht.

Bund und Länder hatten genug Zeit, in ihren eigenen Zuständigkeits- und Kompetenzbereichen Maßnahmen zu organisieren, die geeignet wären, Infektionszunahmen zu begrenzen. Lüftungsgeräte für Klassenzimmer, um nur eines der Stichworte zu nennen, die bei vielen vergeblichen Dauermahnern inzwischen zu Wutanfällen führen dürften. Rechtfertigen ließe sich das politische Phlegma nur, wenn man gerade das Infektionsgeschehen an Schulen für nicht allzu dramatisch hielte. Stattdessen erklärt die Politik nun die nahende Gefahr für so groß, dass am Expertengremium vorbei Impfangebote für Schülerinnen und Schüler gemacht werden sollen.

Die Politik hätte sich ihr Rechtfertigungsgrab geschaufelt

Wenn diese Dringlichkeit wirklich geboten ist, dann bestätigt die Politik damit das Ausmaß ihrer Unterlassungen selbst. Sie hätte sich damit ihr Rechtfertigungsgrab geschaufelt. Und als wäre das nicht genug, wird sich zur Abhilfe und Ablenkung in eine abenteuerliche Kompetenzüberschreitung geflüchtet. Es ist das alte Ernie-und-Bert-Prinzip, nie das zu erledigen, was aufgetragen war, und stattdessen – wenn es kritisch wird – mit Tamtam auf eine andere Baustelle zu wechseln.

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Mag sein, das manche Eltern oder auch besorgte Senioren diesen Weg erleichtert mitgehen, weil sie einfach nur wollten, dass irgendjemand die Impfungen empfiehlt, egal wer. Aber ob das viele sind? Kaum. Bereits jeder fünfte Jugendliche zwischen zwölf und 17 Jahren hat den ersten Piks schließlich bereits hinter sich.

Größer könnte die Gruppe derjenigen sein, die in dieser neuen Idee der politisch Verantwortlichen wieder mal nur Verantwortungslosigkeit, Dilettantismus und Anklänge von Größenwahn erkennen können. Ihnen dürfte das Hü und Hott um die weitere Impfstrategie wie eine Extraportion Öl in ihr Feuerchen aus Staats- und Politikverdrossenheit vorkommen. Und alle anderen können stirnrunzelnd feststellen, wie die Verwirrung im Laufe der Pandemie beständig zu- statt abnimmt – und dass es nicht sonderlich überzeugend wirkt, wenn Politik und Stiko wie Kontrahenten agieren.

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