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Klassisch schön? Dustin Hoffman (hier ein Foto von 2005) weinte, als ihm bei den Dreharbeiten zu "Tootsie" auffiel, wie stereotyp sein Blick auf Frauen ist.
© DPA/DPAWEB

Soziale Gesellschaft: Die Menschen sehen, nicht ihre Rollen

Jeden Tag fahren wir durch die Straßen und U-Bahn-Tunnel unserer Stadt, treffen an Bushaltestellen, Cafés oder im Treppenhaus andere Menschen, aber was sehen wir eigentlich? Eine Kolumne.

Wie sähe eine Welt aus, in der wir erst den Menschen sehen bei einer Begegnung und nicht seine Rollen? Nicht sein Geschlecht, seine Behinderung, seine Hautfarbe, seine Religion oder seinen Beruf und unsere Projektionen darauf, sondern den Menschen.

Es gibt diese eine berühmte Anekdote von dem Schauspieler Dustin Hoffman in Frauenkleidern. Er hatte eine Frau spielen sollen, war dafür eingekleidet und geschminkt worden. Er habe sich selbst als Frau im Spiegel betrachtet und den Stylisten gesagt, er wolle eine „schöne Frau“ sein. Mehr Schönheit, hätten die Stylisten geantwortet, sei aus ihm schlichtweg nicht hervorzuzaubern. Da hätte Hoffman eine Eingebung gehabt. Er sei nach Hause gefahren und habe geweint. Plötzlich habe er begriffen, dass das Schönheitsbild, das er internalisiert hatte, nichts war als eine „Gehirnwäsche“. Was Hoffman zum Weinen brachte, war die Erkenntnis, dass er selbst auf einer Party niemals diese Frau wahrgenommen hätte, in deren Rolle er geschlüpft war und die ihn faszinierte. Er hätte sie nicht wahrgenommen, weil sie nicht den patriarchalen Schönheitsidealen entsprach, mit denen er indoktriniert war und wie sie auch die Filmindustrie perpetuiert. Es dämmerte ihm, wie viele wahre Begegnungen er in seinem Leben verpasst hatte, weil er nicht die Menschen sah, sondern Schablonen eines von außen gesetzten als „weiblich“ gekennzeichneten Ideals. Wie reich wäre unser Leben, wären unsere Begegnungen, unsere Gespräche und Erkenntnisse und folglich unsere Unternehmungen, auch unsere Vorlieben, Träume und Visionen, also all das, was uns als Menschen ausmacht, wenn wir lernten, durch die Schablonen hindurchzusehen, die wir durch unseren Alltag tragen?

Alle haben dasselbe Gesicht, alle dieselbe Stimme

In dem animierten Film „Anomalisa“ von Charlie Kaufman klingen für den traurigen Protagonisten die Stimmen aller Menschen gleich und alle haben sie das gleiche Gesicht: seine Frau, seine Kinder, der Taxifahrer. Alle. Nur einmal ist er in der Lage, die Eigenstimme einer Person zu hören, der er begegnet. Für eine Nacht kann er die Stimme eines anderen Menschen so hören, wie sie klingt, und nicht so wie das, was er daraus in seinem Kopf macht. Für eine Nacht sieht er tatsächlich das Gesicht eines anderen Menschen und nicht das eine Gesicht, die Schablone, auf die er vielleicht schon sein Leben lang blickt. Er verliebt sich, es ist eine Befreiung. Bis ihm die Möglichkeit, den anderen Menschen zu sehen (und eben nicht nur seine eigene Vorstellung davon), wieder abhandenkommt und die Stimme und das Gesicht der Geliebten wieder zur Stimme und zum Gesicht seiner eigenen Gefangenschaft wird.

Jeden Tag fahren wir durch die Straßen und U-Bahn-Tunnel unserer Stadt, treffen an Bushaltestellen, Cafés oder im Treppenhaus andere Menschen, aber was sehen wir eigentlich? Und wie würden wir handeln, nicht nur in der U-Bahn, sondern auch an der Wahlurne, im Bundestag und in Geflüchtetenunterkünften, wenn wir die Menschen sähen und nicht die Klischees, die wir von klein auf gelernt haben? Es sind nicht nur Klischees, sondern Bewertungen, die bestimmte Menschen als „normal“ kennzeichnen - weiß, heterosexuell, ohne Behinderung etc. - und andere als von der Norm abweichend. Aber wir alle verlieren die Möglichkeit, als Menschen zusammenzukommen. Wenn ich darüber nachdenke, in was für einem Land ich leben möchte, was für eine Vision von Deutschland, Europa und der Welt ich haben könnte, finde ich immer zu diesem Ausgangspunkt zurück: Wie können wir einander endlich als Menschen begegnen?

Deniz Utlu

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