Politik: „Die Mädchen sprengen ihre Fesseln“
Die Zukunft ist weiblich, meint der Jugendforscher Hurrelmann – auch Migrantinnen werden es schaffen
Die Politik entdeckt gerade, dass sie sich mehr um die Einwanderer kümmern muss. Was sagt die Shell-Jugendstudie dazu?
Die Studie zeigt, dass Migranten gar nicht so viele spezifische Probleme haben. Das Merkmal „Migrant“ wird durch das Merkmal „sozialer Status“ weitgehend überlagert.
Und das Sprachproblem?
Das haben auch unterprivilegierte Deutsche, vielleicht nicht ganz so ausgeprägt.
Was ist mit der Religion? Sie haben unter jungen Migranten, meist Muslime, eine starke religiöse Bindung entdeckt.
Das kann man ja nicht als Problem klassifizieren. Zumal wir entdeckt haben, dass die religiöse Bindung kaum etwas darüber aussagt, an welche Werte die jungen Leute glauben. Gerade Werte wie Familie, Fleiß, Ehrgeiz sind erstaunlicherweise bei sehr religiösen wie nicht religiösen Jugendlichen gleich stark ausgeprägt. Was die Gesellschaft zusammenhält, hat für die allermeisten Jugendlichen nichts mit Religion zu tun.
Für junge Mädchen mit Kopftuch kann Religion schon zum Berufshindernis werden.
Da braucht es endlich mehr Toleranz von der Mehrheitsgesellschaft, damit junge Musliminnen nicht in eine Zerreißprobe zwischen Bekenntnis und Beruf geraten. Ich weiß nicht, warum eine Frau im Staatsdienst kein Kopftuch tragen soll.
Nun werden diese Mädchen meist zuallererst von ihren Familien behindert, dürfen nicht zum Schwimmen, auf Klassenfahrten und oft nicht auf höhere Schulen.
Ja, und betroffen sind meist gerade weit überdurchschnittlich begabte, leistungsbereite Mädchen mit Migrationshintergrund. Aber ich bin ziemlich sicher: Sie werden in den nächsten Jahren ihre Fesseln sprengen. Da sitzt eine gewaltige Kraft. Sie werden das aber nicht auf Kosten ihrer Familien machen. Sie sind zäh und warten auf ihre Chance.
Auch das scheint ja typisch für alle jungen Frauen: Sie sind in Schule, Ausbildung und Studium ehrgeiziger und besser als Jungen. Ist unsere Schule jungenfeindlich?
Aggressionen von Jungen werden zumindest nicht kanalisiert. Härte, Stärke, der aktive Macher, das sind die männlichen Stereotype. In der Schule gibt es oft kein Feld, wo sie ihre Körperlichkeit lassen können. Ein Theaterpädagoge sagte mir kürzlich, er lasse die Schüler „ihre Gewalt aus dem Körper“ spielen. Solche Ventile muss es geben und die Erfahrung: Ich kann meine körperliche Kraft loswerden, ohne andere zu schwächen oder mich selbst zu zerstören. Wir brauchen eine richtig konsequente Jungenförderung, auch im Leistungsbereich.
Nach der Ausbildung ist alles anders. Auf Entscheidungsposten sitzen vor allem Männer. Was fehlt Frauen im Beruf?
Sie müssen konkurrenzorientierter werden. Davon haben die Männer eher zu viel. Junge Frauen müssen ihr Selbstwertgefühl stärken, das ist kollektiv gesehen noch sehr niedrig. Frauen zweifeln zu viel an sich selbst, Männer neigen zur Überschätzung – was auf Dauer auch nicht funktioniert, sondern in Überforderung mündet.
Ist das weibliche Prinzip von Leistung, zähem Ehrgeiz und Netzwerken also langfristig stärker, wenn es eine Chance bekommt?
Meine Prognose ist, dass sich das weibliche Prinzip von Netzwerkbildung und Führen durch Coaching durchsetzen wird. Wie lange das noch dauert, wissen wir nicht. Frauen sind daran gewöhnt, sich in einer Welt durchzusetzen, die ihnen nicht den Brotkorb reicht. Die jungen Männer müssen das lernen.
Und haben dann doch keine Garantie für eine sichere Zukunft, heißt es in Ihrer Studie. Was setzen die Jungen dem entgegen?
Sie rebellieren nicht. Das liegt auch an unserem dualen Ausbildungssystem. Berufsschulen oder Weiterbildung puffern den Fall ins Bodenlose ab. Diese Generation ist stark und will mitmachen. Sie tankt Kraft in ihren Herkunftsfamilien und strengt sich umso mehr an. Fleiß und Ordnung stehen ganz oben, allerdings immer gemischt mit postmateriellen Werten wie Lebensgenuss und Spaß. Gesellschaft und Politik könnten sich eigentlich nichts Besseres wünschen.
Wirklich? Wo bleibt das Innovative einer Generation, die sich nur einpassen will?
Das kann man fragen. Ja, die Jungen gehen in Deckung. Das ist der Kreativität nicht unbedingt förderlich.
Ist dieser Generation zu helfen?
Das Signal an die Politik heißt: Da ist eine Generation, die will. Nun gebt ihnen, was sie brauchen. Meine Prognose ist aber: In fünf Jahren sieht die demografische Lage wieder ganz anders aus. Dann wird sich zeigen, welche Unternehmen weit genug gedacht und junge Menschen aufgebaut haben.
Mit Klaus Hurrelmann sprachen
Jeannette Krauth und Andrea Dernbach.
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