Berlin und die Gentrifizierung: Die letzten Alten von Prenzlauer Berg
Nur noch junge Leute um sie herum, die immerzu in Cafés sitzen und trotzdem Geld haben – wie geht das bloß? Alteingesessene Rentner wie Herr Förster oder Christa S. verstehen die Gegend, die mal die ihre war, nicht mehr.
Als Herr Förster die Straße hochgelaufen kommt, wirkt er wie eine Theaterfigur, die sich in der Kulisse geirrt hat. Um seine Schultern hängt ein blauer, verwaschener Kittel, sein Haar ist licht und grau. Auf dünnen Beinen, die er marionettenhaft bewegt, zieht er einen Leiterwagen hinter sich her – vorbei an Cafétischen, auf denen Cappuccinotassen stehen und Apple-Laptops leuchten, vorbei an modisch gekleideten Menschen um die dreißig, hier und da eine Kollision mit Kleinkindern auf Holzlaufrädern vermeidend.
Herr Förster ist alt. Das sollte ihn in einem vergreisenden Land nicht sonderlich exotisch erscheinen lassen. Doch er wohnt in der Hufelandstraße in Berlin-Prenzlauer Berg, wo sich der demografische Wandel in die entgegengesetzte Richtung vollzieht. Hier fällt er auf, zumal er, gemessen an seiner Umgebung, recht ärmlich wirkt. Wie lebt es sich alt und mit schmaler Rente in dem von Geld und Jugend dominierten Bezirk? Zeit, dem Leiterwagen zu folgen.
Er hält zwischen einem Goldschmiedegeschäft und einer Naturheilpraxis. Herr Förster schließt auf, zieht. Doch der Wagen, auf dem sich die Einzelteile eines neu gekauften Tisches befinden, will nicht über die Schwelle.
Das Angebot, ihm beim Tragen der Tischteile zu helfen, nimmt er verlegen an. Ein paar Tage später lädt er zu sich nach Hause. Der blaue Kittel hängt jetzt an einem Haken im Keller, in dem er häufig und gerne kaputte Dinge repariert. Heute aber wird nicht repariert, heute trägt er ein gebügeltes Hemd und einen Herrenduft.
Die Welt vor seinem Fenster - er kennt sie noch als Trümmerlandschaft
Aus seinem Wohnzimmerfenster schaut er auf die dottergelbe Markise eines Cafés. Die Welt, die sich unter ihm ausbreitet wie eine Spielzeuglandschaft, er kennt sie noch als Trümmerhaufen. „Nach dem Krieg hat mein Vater sich einen Kahn gekauft, so einen Saftkahn“, sagt er mit einer leisen, heiseren Stimme. „Mit dem Kahn sind wir von Berlin nach Körzin und haben Schutt weggebracht, und von Körzin sind wir nach Königs Wusterhausen, wo wir Kohle gebunkert hatten, und die Kohle haben wir zurück nach Berlin gebracht. In Berlin haben wir wieder Schutt eingeladen und sind wieder nach Körzin und immer so hin und her.“
Weil der Frachter „ostregistiert“ war, zogen sie 1949 aus dem bürgerlichen Charlottenburg nach Prenzlauer Berg, wo sie eine Arbeiterfamilie unter vielen waren. Seither lebt Herr Förster hier, über ein halbes Jahrhundert schon. Und doch ist sie ihm heute fremd, die Stadt vor seinem Fenster.
Steifbeinig setzt er sich auf seine schwarze Kunstledercouch, auf der sich ein paar Plüschelche lümmeln, und resümiert: „Berlin, das kann man so sagen, das hat sich nach und nach verändert.“
Seit fast 50 Jahren dieselbe Wohnung, die Miete einstmals: 40 Mark
Er sagt das wie ein Ingenieur, der ein Messergebnis durchgibt. Bitter wirkt Herr Förster nicht, hat er doch seine Erinnerungen, die die fremde Umgebung jederzeit in eine vertraute verwandeln können: „Früher standen hier überall Linden. Wenn die geblüht haben, war hier ein Duft in der Straße, das war so was von herrlich!“
Doch wenn er Hilfe braucht, vermögen auch die besten Erinnerungen nichts auszurichten. Seitdem vor zwei Jahren seine Frau starb, gibt es niemanden mehr, den er in einem Fall wie dem Hochtragen des neu gekauften Tisches um Hilfe bitten mag. „Mein Sohn – weiß nicht, wo der sich rumtreibt. Ich habe keinerlei Verbindungen. Meine Nichte kommt ab und zu her, aber das ist es. Hier wohnt keiner mehr. Das ist alles weggebrochen.“
Die einzige Vertraute, die ihm geblieben ist, ist seine Wohnung; er hegt sie wie eine Braut. Akkurat geputzt und aufgeräumt ist sie, kein Kratzer im Türlack, ein sorgfältig rosa ausgestrichenes Schlafzimmer. Verlassen möchte er sie „nur mit den Füßen zuerst“.
Ob ihm das gelingen wird, ist ungewiss. Eingestiegen ist er mit einem Mietvertrag „irgendwas um die vierzig Mar“. Stur und duldsam hat er diesen Vertrag aus Ostzeiten, der inzwischen um eine Null und das Euro-Zeichen erweitert wurde, durch alle Sanierungsphasen hindurch gerettet. Damit zahlt er höchstens die Hälfte von dem, was in seiner Straße bei einer Neuvermietung verlangt würde. Das gibt sein Konto gerade so her, und wenn es dabei bleiben würde, wäre Herr Förster zufrieden. Jetzt aber wurde das Haus in Eigentumswohnungen zerlegt. „Es braucht sich bloß einer für die Wohnung zu interessieren und sagen, da will ich rein, dann hast du keine Chance mehr“, sagt er, und dass er täglich schlechte Nachrichten der Eigentümer erwartet.
Die Stadträtin ist besorgt: Pro Wohnung ein Schulkind - und nicht genug Schulen!
Dabei schaut er sich nervös um, so als könnte der gefürchtete Brief gerade jetzt, in diesem Moment, von der Decke geflattert oder zum Fenster hereingeschwebt kommen. Was dann? Seine alten Bekannten sind schon vor Jahren entweder ins Heim gezogen oder in andere, billigere Regionen des Bezirks.
Eine davon ist der „Mühlenkiez“ mit seinen 3200 Plattenbauwohnungen, der außerhalb des S-Bahn-Rings liegt. Eine Bezirkszeitung bezeichnete diese Gegend kürzlich als „die dunkle Ecke“, Untertitel: „Hier verirrt sich niemand hin, der nicht muss.“
Dass dort hauptsächlich Rentner zuziehen, bestätigt die Stadträtin Lioba Zürn-Kasztantowicz.
Frau Zürn-Kasztantowicz, grauer Kurzhaarschnitt, brombeerfarbenes Shirt, leicht schwäbelnder Einschlag, sieht erschöpft aus. Im routinierten Tonfall der Vielrednerin spricht die Stadträtin von Personaldeckelung, Finanzproblemen und der immer weiter wachsenden Kinderschar im Bezirk.
An diesem Punkt schleicht sich persönliche Betroffenheit in ihre Stimme. Es gebe Nächte, so sagt sie, in denen sie wachliege, weil sie nicht weiß, wo sie all die Schulplätze hernehmen soll. Nächte, in denen sie nachrechnet: „An Ecken, wo man im Hinterkopf hatte, dass da noch Freiflächen sind, entstehen mal kurz innerhalb von zwei Jahren 300, 400 Wohnungen. Auf jede Wohnung kommt mindestens ein Schulkind.“ Sie seufzt. „Und da muss ich aufpassen, dass die Senioren auch ihren gebührenden Platz in meinem Arbeitsfeld behalten.“
Nur sieben Prozent der Anwohner sind älter als 65 Jahre
Wie der aussieht? Es gibt Begegnungsstätten, deren Zukunft ungewiss ist. Und es gibt „Sozialkommissionen“ aus Ehrenamtlichen, die zum 80. Geburtstag einen ersten Besuch anbieten. „Aber auch die Ehrenamtlichen werden immer älter.“ Ausgerechnet da, wo sie den reichlich vorhandenen Nachwuchs brauchen könnte, fehlt er der Stadträtin.
Mittlerweile gibt es Gegenden in Prenzlauer Berg, in denen der Anteil der über 65-Jährigen nur noch sieben Prozent beträgt. Etwa in den Vierteln rund um den Helmholtzplatz oder den Kollwitzplatz.
Wer dieses Bild betrachtet, ist versucht, darin ein Auseinanderdriften von Jungen und Alten zu erkennen. Schaut man genauer hin, wird deutlich, dass sich dahinter eine Trennung von Armen und Reichen verbirgt: Anders als die zuziehenden Gutverdiener kann sich kaum ein Rentner des früheren Arbeiterbezirks die neuen Mieten leisten, geschweige denn, eine Wohnung kaufen. So gesehen sind die Extreme dieses Bezirks nicht zufällig, sondern weisen auf die Verschiebungen in der gesamten Innenstadt hin.
Doch nicht alle der ehemaligen Arbeiter wollen sich in „die dunkle Ecke“ oder in die Einsamkeit fügen. Diese besuchen beispielsweise die „Herbstlaube“ in der Dunckerstraße nahe dem Helmholtzplatz. Der Raum war zu DDR-Zeiten Wahlbüro der „Nationalen Front“ und wurde 1990 von der arbeitslos gewordenen Rechtswissenschaftlerin Karin Ehrlich besetzt. Die damals 46-Jährige stützte die marode Jalousie auf zwei Schrubberstangen, um Licht in das Leben von Schuldnern, Arbeitslosen, Einsamen und Alten zu bringen.
Als ihr Rentnertreff geschlossen werden sollte, probten sie den Aufstand
Jeder war eingeladen, sich hier beraten zu lassen und zusammenzutun. Näh- und Tischlerwerkstätten entstanden, eine Galerie, ein Museum, eine Küche, ein Garten und Programme für Rentner.
Standgehalten haben dem Geist der Zeit nur das Museum und der Rentnertreff, die „Herbstlaube“. Als auch diese im vorigen Jahr demontiert werden sollte, gingen Karin Ehrlich, inzwischen selbst 70 Jahre alt, und ihr
Seniorenstamm auf die Straße. Sie veranstalteten ein Fest und saßen ein Wochenende lang auf den Bänken vor dem Haus: Menschen mit schlohweißem Haar, manche über 90 Jahre alt, fast alle, wie Herr Förster, ehemalige Arbeiter und seit Jahrzehnten in Prenzlauer Berg zu Hause.
Der Aufstand half. Presse kam, die städtische Wohnungsbaugesellschaft Gewobag erließ ihnen einen Teil der Miete, und das Bezirksamt sicherte ihnen eine professionelle Halbtagskraft zu.
Während gegenüber Sonnenbrillen als „Vintage Eyeware“ und nebenan in den Läden „Lila Lämmchen“ und „Lila Grün“ Öko-Textilien feilgeboten werden, parken vor der „Herbstlaube“ also weiterhin Rollatoren.
Eine, die tagtäglich dort einkehrt, ist die ehemalige Fabrikarbeiterin Christa S., die nur ein paar Häuser weiter in einer Einzimmerwohnung im Erdgeschoss lebt. Ihre Wohnzimmerwand hat sie dem David von Michelangelo, der Sixtinischen Madonna und anderen kunsthistorischen Berühmtheiten gewidmet, die sie seinerzeit aus der Hochglanzillustrierten „Sputnik“ oder dem „Neuen Deutschland“ ausgeschnitten und gerahmt hat.
"Falls die Miete erhöht wird, muss ich eben ’ne Stulle weniger essen"
Darunter sitzt sie und sieht aus wie Frau Holle: eine kleine rundliche Dame zwischen dicken Sofakissen. Kürzlich bekam sie einen Brief, in dem eine Mieterhöhung angekündigt wurde. „Mein Sohn ist mit dem Schrieb zum Amt und will da was erreichen. Werden wir sehen, was dabei herauskommt. Aber umziehen möchte ich nicht! In irgendein Loch, das billiger ist und dann irgendwo auswärts, wo ich rundum beschnitten werde, das möchte ich nicht“, sagt sie und haut feste auf die durchsichtige Schondecke ihres Wohnzimmertischchens. „Falls die Miete erhöht wird, muss ich eben ’ne Stulle weniger essen.“
Genügsamkeit ist eine Disziplin, in der die 70-Jährige sich auskennt. Drei Kinder hat sie alleine großgezogen, arbeitete nach der Wende als Reinigungskraft und lebte eine Weile von Hartz IV. Wenn sie morgens zur „Herbstlaube“ geht, wundert sie sich über die voll besetzten Straßencafés. „Ist ja angenehm, die frische Luft und der Austausch! Aber der teure Kaffee. Da kann ich mich doch auch auf die Wiese setzen oder in den Park mit meiner Thermoskanne! Arbeitslose können das nicht sein.“ Nicht arbeitslos und trotzdem den ganzen Tag im Café – wie geht das? Hin und her überlegt sie und kommt nicht darauf. Es geht ihr wie Herrn Förster: Die eigene Straße ist ihr fremd geworden. „Es gibt eigentlich nur noch Cafés und Designerläden.“
Die Alten brauchen Geld - und sie haben Ideen
Lediglich Edeka ist ihr geblieben. Christa S. vermisst einen Fleischer, einen Fischladen und ein Kurzwarengeschäft, in dem man so nützliche Dinge wie Schlüpfergummi kaufen kann. In den vergangenen zehn Jahren hat sich das so entwickelt, in der Zeit, als viele Alte wegzogen. Sie waren mal 200 in der „Herbstlaube“. Jetzt sind sie nur noch 20.
Wenn Christa S. in ihrer Wohnung umhergeht, läuft sie vornüber gebückt. Die beiden verrutschten Wirbel hat sie den Zeiten zu verdanken, in denen sie schwere Bockwurstspieße zwecks Räucherung auf viel zu hohe Pflocken zu hängen hatte. Sehr froh ist sie über die wenigen Meter zu den braunen Polsterstühlen der „Herbstlaube“. Oft sitzt sie auch am Wochenende dort und wartet auf Touristen, die sich das Museum, eine Arbeiterwohnung der Gründerzeit, anschauen wollen. Dann schließt sie auf, sagt „Hello!“ und gibt ihnen eine Führung, Anekdoten aus ihrem Leben inklusive.
Um bleiben zu können, zahlt der harte Kern der „Herbstlaube“ Mitgliedsbeiträge und scheut sich nicht, vorbeiflanierende Prominente am Ärmel zu zupfen und um Spenden zu fragen.
Ihre Lebensklugheit: Wenn es eines gratis gibt, dann ist es Ärger
Die Strümpfe, Topflappen, Mützen und Kinderpullover, an denen die Damen des Vereins jeden Dienstagvormittag herumstricken und -häkeln, liegen auf einem Tischchen vor dem Haus. Die neueste Geschäftsidee sind Socken in Deutschlandfarben, als Fanartikel für die bevorstehende Fußball-WM. Ein Preisschild sucht der Passant allerdings vergeblich: Man ist gemeinnützig und will lieber nicht zu offensiv kommerziell sein. Wenn es eines gratis gibt, dann ist es Ärger, das weiß die versammelte Lebensklugheit dieser Runde.
Im Moment steht ihre Laube auf sicherem Boden, die Pankower Bezirksverordnetenversammlung hat ihnen gerade eine einjährige Förderung bewilligt. Eine kleine Windstille, ein kurzes Luftholen, bevor der Kampf ums Bleiben weitergeht.
„Wenn die Leute wohnen bleiben in den Kiezen, gehen in 20 Jahren die, die jetzt so um die 40 sind, auf die 60 zu. Insofern müssen wir uns auch in unserem sehr jungen Bezirk mit dem Thema demografische Entwicklung auseinandersetzen“, hatte die Stadträtin das Gespräch geschlossen.
Dann wird die Zahl der Rentner am Helmholtzplatz und am Kollwitzplatz auf ein Vielfaches hochschnellen. Doch es werden andere sein als die „Herbstlauben“-Besucher, es werden Rentner sein, die in Eigentumswohnungen leben, ohne sich sorgen zu müssen, in der „dunklen Ecke“ zu landen.
„Wir steuern auf Verhältnisse zu, wo die Armen und Ärmsten im Slum wohnen“, meint Christa S. und greift wieder zu ihrem Häkelhaken. „Aber so lange, wie ick Luft kriege, muss ick weitermachen, wa.“
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