Politik: "Die Last des Erinnerns": Unauslöschliche Spuren - Was Europa Afrika schuldet
"Ich, der große General der deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. Das Volk der Herero muss jetzt das Land verlassen.
"Ich, der große General der deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. Das Volk der Herero muss jetzt das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich mit dem großen Rohr es dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen." Dieser Proklamation General Lothar von Trothas folgte 1904 auf dem Territorium des heutigen Namibia ein Völkermord im Namen des deutschen Volkes. Ihm fielen 75 bis 80 Prozent der Herero zum Opfer. Ähnlich erging es den Nama, von denen knapp die Hälfte überlebte. Nahezu weitere 100 000 Tote forderten der Maji-Maji Aufstand und der Hehe-Krieg in Deutsch-Ostafrika.
Diese Völkermorde waren am Beginn des 20. Jahrhunderts Deutschlands Antwort auf den Widerstand von Afrikanern und Afrikanerinnen gegen die Errichtung der deutschen Kolonialherrschaft und ihre blutige Praxis. Die europäische Tyrannei in Afrika hatte schon im 17. Jahrhundert mit einem der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begonnen: dem transatlantischen Sklavenhandel. Zwischen 10 und 30 Millionen Afrikaner und Afrikanerinnen wurden versklavt und aus ihrer Heimat nach Amerika verschleppt; Millionen starben, bevor sie überhaupt den Bestimmungsort erreicht hatten. Durch den Sklavenhandel sind viele afrikanische Gesellschaften nachhaltig erschüttert und zerstört worden.
Kulturelle Vergewaltigung
In seinem Buch "Die Last des Erinnerns" urteilt der nigerianische Schriftsteller und Nobelpreisträger von 1986, Wole Soyinka: "Der Sklavenhandel verursachte in weiten Teilen des Kontinentes auch einen Bruch der organischen wirtschaftlichen Systeme." Diese Zerstörung fand ihre Fortsetzung im Kolonialismus, der - "mindestens in Teilen - zweifellos für die unüberwindlichen wirtschaftlichen Probleme dieses Kontinentes heutzutage verantwortlich gemacht werden" muss. Auch die politische Instabilität "innerhalb der so genannten Nationen, die heute die Gesamtheit des Kontinentes darstellen", führt Wole Soyinka zu Recht auf die Unlogik der Grenzziehungen durch die Kolonialmächte im Zuge der Berliner Konferenz 1884/85 zurück. "Kulturelle und spirituelle Vergewaltigung haben unauslöschliche Spuren in der kollektiven Psyche und dem Identitätsempfinden der Völker hinterlassen, ein Prozess, der durch die aufeinander folgenden Wellen Kolonisierender praktiziert wurde, die die zusammenhängenden Traditionen brutal unterdrückten."
Staatsverbrechen und Völkermorde verjähren nicht. Wole Soyinka fordert Europa und Nordamerika auf, sich der "Last des Erinnerns" zu stellen. Nicht das Ob, sondern das Wie stellt für ihn die entscheidende Frage dar. Geht es allein um finanzielle Entschädigung oder muss sich Wiedergutmachung politisch umfassender gestalten? Gerade weil Entschädigungszahlungen nur bedingt wiedergutmachen, muss ihre Symbolkraft erkennbar sein. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen und eine Erinnerungspolitik zu betreiben, die dem Vergessen des letzten Jahrhunderts ein offensives Mahnen und Erinnern entgegenstellt. Die Verbrechen müssen dokumentiert, der Opfer muss gedacht und die Folgen für die Mentalität auf beiden Seiten müssen aufgedeckt werden.
Als Sklavenhandel und Kolonialismus einer Legitimation bedurften, erfand Europa sein Afrika. Rassen wurden konstruiert und mit einer Ideologie interpretiert, die zur Bildung des Rassismus führte. Er gebar nicht nur den Nationalsozialismus. Auch der gegenwärtige Rassismus speist sich aus dieser Quelle. Der fehlende Bruch mit dem geistigen Erbe von Rassismus und Kolonialismus äußert sich in vielen deutschen Wörtern und zahllosen Stereotypen, mit denen Afrika noch immer wahrgenommen wird.
Doch Stereotype sind nicht unschuldig, sondern gefährlich. Bereiten sie doch den Nährboden für Rassismus. Ob in der Schule oder Universität, ob in den Nachrichten, Filmen oder der Werbung, ob in Museen, Ausstellungen oder Romanen - überall tauchen stereotype Afrikabilder auf, die Berührungsängste und Aversionen, Überlegenheitsgefühle und fehlenden Respekt befördern, zu Rassismus hinführen und im Erbe des Kolonialismus verankert sind. Dank Wole Soyinka und anderen wird im südafrikanischen Durban am 31. August die erste Weltkonferenz über und gegen Rassismus beginnen. Schon im Vorfeld löste sie eine heftige Diskussion aus.
Die Regierungen Europas wollten nach Südafrika fahren, um dort über die Zukunft Afrikas zu debattieren. Die meisten afrikanischen Staaten aber bestehen darauf, dass hier auch über die mentale Kontinuität von Rassismus und die kolonialen Verbrechen des Westens gesprochen wird - eine Forderung, die in Europa und Nordamerika Boykottdrohungen hervorrief. Ein Kompromiss wurde ausgehandelt: Es wird auch über Kolonialismus diskutiert. Aber im westlichen Entwurf der Abschlusserklärung findet sich der fatale Satz, Kolonialismus habe auch seine guten Seiten gehabt.
Deutsche Verantwortung
Auch Deutschland hat sich bisher beharrlich geweigert, Verantwortung für die Kapitalverbrechen in Afrika zu übernehmen. Solange Afrika-Politik mehr dem Entwicklungshilfeministerium als dem Außenministerium zugeordnet wird, sind wir noch weit von einem politischen Signal entfernt. Die Geste eines Schuldenerlasses unterscheidet sich grundlegend von der einer Wiedergutmachung. Die Einberufung einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags und eines internationalen Runden Tisches zu dieser Problematik ist längst überfällig. Wole Soyinka und viele andere fordern solche Aktivitäten schon seit Jahren. Und warum sollte die internationale Zusammenkunft nicht an jenem Ort stattfinden, der die willkürliche Grenzziehung in Afrika symbolisch verkörpert: in Berlin.
Doch solange man im Berliner Afrikanischen Viertel in Wedding auf die Lüderitzstraße oder den Nachtigallplatz trifft, ist Deutschland dafür offenbar nicht reif. Hier wird Männern gedacht, die Vorreiter der Kolonialverbrechen waren. Sie waren nicht zufällig Idole der Nationalsozialisten. Die Straßennamen stehen beispielhaft für einen fehlenden Bruch mit Kolonialismus und Rassismus. Die "Last des Erinnerns" ist, wie Wole Soyinka betont, schmerzhaft, wird aber Früchte tragen in Gegenwart und Zukunft.
Susan Arndt, Ilko Sascha Kowalczuk
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