zum Hauptinhalt
Weit vom Stamm: Äpfel sind ein Weltmarktprodukt, entsprechende Wege legen sie zurück.
© dpa

Wie regional ist regional?: Die lange Suche nach einem Apfel "von hier"

Die Deutschen essen gerne regionale Produkte, aber manches Obst oder Gemüse aus der Umgebung verschwindet spurlos in der globalisierten Nahrungsmittelproduktion - sogar während der Erntesaison.

Er liegt am Boden. Hellgrün und verbeult. Aus den Aufprallstellen tröpfelt Saft, der Wespen anlockt. Er ist nicht der einzige. Entlang der Landstraßen, die sich von Dorf zu Dorf schlängeln, liegen sie. Äpfel. Reif und darum vom Ast gefallen. Manchmal fährt ein Auto sie zu Matsch.

Es wird Herbst, die Apfelsaison bricht an. In den regionalen Zeitungen wird rituell zu den Apfelerntefesten eingeladen. Denn Äpfel sind erstens der Deutschen liebstes Obst, und zweitens legen die Konsumenten viel Wert auf Nahrungsmittel aus der Region.

Doch wer in Berlin jetzt neue Äpfel aus der Region kaufen möchte, wird vermutlich mit leerem Beutel heimkommen. In den Supermärkten, Discountern und sogar auf Wochenmärkten gibt es, genau wie in anderen Saisons, mehrheitlich Äpfel aus Chile, Argentinien, Neuseeland, Südafrika. Dass das jedes Jahr so ist und Gründe hat, die sich nicht leicht ändern lassen, ergab die Suche nach dem Regionalapfel, die vor einem Jahr begann.

Die Region der Berliner ist Brandenburg. Das Land hatte West-Berlin vor dem Mauerfall von drei Seiten eingekreist, fütterte aber nur die Ost-Berliner. Mit der Wende kamen die guten Äpfel aus Werder und Märkisch Oderland in Reichweite. Kamen sie wirklich?

Rodeprämien für Ost-Bauern, die ihre Apfelplantagen niederholzten

Allein im Havelland wuchsen zu DDR-Zeiten Äpfel auf 11 000 Hektar Land. Kurz nach der Wende wurden dort Millionen Obstbäume gerodet. Im „Nordkurier“ wurde kürzlich beschrieben, wie nach dem Einzug der Marktwirtschaft monatelang Motorsägen dröhnten. Die Äpfel entsprachen nicht den EU-Normen. 8300 D-Mark pro Hektar bekam der Produzent als Rodeprämie, wenn er sich verpflichtete, nach dem Kahlschlag 15 Jahre lang auf die Erzeugung von Äpfeln zu verzichten. Zwei Drittel der Anbauflächen wurden gerodet. Heute werden laut Statistikamt Berlin-Brandenburg in ganz Brandenburg noch auf 900 Hektar Äpfel angebaut, Tendenz sinkend. Der Ertrag deckt mit 25 000 Tonnen lange nicht den Bedarf. Allein die Berliner verzehren das Vierfache.

Die meisten deutschen Äpfel, die in der Hauptstadtregion gegessen werden, wachsen im Alten Land westlich von Hamburg. Das ist eins der größten Obstanbaugebiete Europas. Aber auch die Äpfel, die dort in den nächsten Wochen geerntet werden, kommen nicht direkt in die Regale. Schätzungsweise 80 Prozent von ihnen werden zunächst weggepackt. Die Händler warten, bis die Äpfel von der Südhalbkugel, gefolgt von denen aus Italien, Frankreich und Österreich fast aufgebraucht sind. Nur dann bekommen sie einen vernünftigen Preis. Das bestätigt am Telefon auch eine Mitarbeiterin des Obst- und Gartenbauverbands Brandenburg: „Die große Mehrheit der Brandenburger Äpfel wird gelagert“, sagt eine Mitarbeiterin. Und schon vor fünf Jahren stellte das Brandenburgische Landwirtschaftsministerium in einer Lageanalyse fest: „Die Obstmärkte sind seit Jahren in großem Umfang globalisiert und international ausgerichtet.“

Lange waren Obstbäume ein Hobby der Adligen, allein Klöster kultivierten den Anbau

Das war mal ganz anders. Die Römer brachten im dritten Jahrhundert Apfel, Birne und Kirsche in den Norden, und da, wo sie einst herrschten, hielt sich das Obst. Sein Anbau wurde bis ins 18. Jahrhundert eher als Hobby betrieben, dessen Erzeugnisse vor Ort blieben. Allein Klöster nutzten Obstanbau planmäßig. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg beschloss im 17. Jahrhundert „Ehestandsbaumgesetze“, die Eheleuten befohlen, vor der Trauung Obstbäume zu pflanzen. Unter König Friedrich von Preußen wurde der organisierte Anbau von Obstbäumen ausgebaut, Obst wurde als Nahrungsmittel immer wichtiger. In den 1920er Jahren dann entstanden in Europa die ersten Obstplantagen, die Vielfalt der regionalen Sorten begann zu schrumpfen.

Heute werden weltweit großenteils dieselben Exportapfelsorten angebaut. Nun fragt man sich: Wäre es dann nicht sinnvoller, wenn alle ihre frischen Äpfel daheim essen? Die Apfelwirtschaft folgt aber längst einer ganz anderen Logik.

Die Äpfel von der Südhalbkugel werden nämlich in Europa gelagert, zum Beispiel im Rotterdamer Hafen. Sie sind schon hier. Aber im Frühjahr, wenn sie frisch sind, meist ungreifbar. Auch sie warten auf gute Preise. Ihre größte Offensive auf den europäischen Markt fängt im Sommer an.

Der Verdrängungswettbewerb lässt sich am Berliner Supermarktregal beobachten. November, Dezember, Januar: Das Apfelangebot kommt mehrheitlich noch von der Südhalbkugel und ist höchstens mal mit einer Sorte aus Deutschland und einer aus den Niederlanden angereichert. Allmählich mischen sich französische, österreichische und italienische Äpfel dazwischen. Letztere werden bevorzugt als „Südtiroler“ oder „Alpen-Äpfel“ vermarktet, weil das irgendwie noch nach deutscher Herkunft klingt. Erst im Februar und März wird das Angebot deutscher Äpfel in Berlin sichtbar größer und bisweilen billiger. Irgendwann im März, also ein halbes Jahr nach der Ernte in Deutschland, entsteht ein Gleichgewicht zwischen Äpfeln aus der Heimat und ausländischen.

Wo "Werder Frucht" draufsteht, muss nicht unbedingt Obst aus Werder drinsein

Weit vom Stamm: Äpfel sind ein Weltmarktprodukt, entsprechende Wege legen sie zurück.
Weit vom Stamm: Äpfel sind ein Weltmarktprodukt, entsprechende Wege legen sie zurück.
© dpa

Regionale Äpfel sind nur selten dabei, jedenfalls, wenn damit Äpfel aus Brandenburg gemeint sind. Ende April kann der Berliner, der einen frischen Apfel essen will, jetzt die „Neue Ernte“ kaufen: aus Chile. Und auch an den Regalen mit deutschen oder niederländischen Elstar und Boskop liest man bisweilen „Neue Ernte“ – im März.

Anfang Mai blühen die Obstbäume. Die Baumblütenfeste werden angekündigt. Nach Werder bei Potsdam kommen jedes Jahr bis zu eine halbe Million Besucher. Blühen dort auch noch Apfelbäume? Die Tourismus-Webseite „Willkommen in der Blütenstadt Werder (Havel)“ erzählt von „einem der größten Obstanbaugebiete Deutschlands“ und vom „leckeren Obstwein“ – und von Äpfeln kein Wort. Ein Supermarkt, der gern mit Regionalwaren wirbt, schreibt, dass das Havelland „auch als Brandenburgs Obstgarten bezeichnet wird“. Aber ist diese Bezeichnung berechtigt?

In der ganzen Geschichte haben die Supermarkt- und Discounterketten das Sagen. Sie nehmen ungern kleine Mengen erntefrischer Äpfel von Regionalanbietern ab. Man will einen ganzjährig gleichen gesicherten Umsatz. Dieses Marktgesetz gilt nicht nur bei Äpfeln. Aus dem gleichen Grund möchten die internationalen Supermarktketten in zum Beispiel Ungarn den kleinen ungarischen Paprikazüchtern nicht die frische Saisonware abnehmen. Sie bevorzugen die kontinuierlichen Paprikamassen niederländischer und spanischer Herkunft.

Das merkt auch die einsame Marktfrau, die im Frühjahr mit ihren Äpfeln aus Werder auf dem Wochenmarkt am Boxhagener Platz steht. „Ach Werder.“, seufzt sie. „Nur den Namen gibt es noch. Nach der Wende sind die LPGs von der Treuhandanstalt übernommen und kaputtgemacht worden.“ Das Angebot auf dem Markt unterscheide sich kaum vom Supermarkt, sagt sie. „Die kaufen doch alle bei den gleichen Großmärkten ein. Man nimmt den kleinen Obstbauern die Waren nur im Notfall ab, zu Dumpingpreisen.“ Deswegen werden die Brandenburger Äpfel überwiegend am eigenen Hof und in der nahen Umgebung verkauft. Und wenn nicht, landen sie in der Saft- und Apfelmusindustrie.

Die Kunden in Bioläden haben es nicht leichter

Das alles soll der Berliner Verbraucher möglichst nicht merken. Es gibt immer wieder Äpfel von „Werder Frucht“, das steht auf der Verpackung. Hinter dem Namen steckt aber eine Vermarktungsgesellschaft, die die Äpfel von überallher vertreibt. „Werder-Äpfel“ stammen nur selten aus dem Havelland oder wenigstens aus Brandenburg, sondern werden dort nur abgepackt und gehandelt.

Die Kunden der Bioläden haben es in Regionalitätsfragen nicht leichter. „All unsere Äpfel kommen jetzt von einer einzigen Demeter-Farm“ erzählt ein junger Mitarbeiter einer Filiale der Bio Company. Die heiße Augustin. Auf Nachfrage der Kundin schaut er im Büro nach, wo die liegt, und kommt zögernd zurück. „Na, ja, die liegt in Niedersachsen, im Alten Land. Ja, das ist nicht gerade in unserer Region. Aber wir sind heilfroh, dass wir unsere Äpfel nicht aus Übersee holen müssen.“ Allerdings werden Bio-Äpfel manchmal noch länger gelagert als die konventionell erzeugten. „Sogar bis in den Juli hinein“, teilt die Augustin-Webseite mit. Die Lagerung in Kühlhäusern kostet viel Energie. Ob man da noch von „Nachhaltigkeit“ sprechen kann? Dann sagt der Mitarbeiter der Bio Company noch etwas Bemerkenswertes. „Hier in Berlin-Brandenburg ist der Boden nun mal ungeeignet für den biologischen Anbau. Der ist zu schlecht. Hier müssen deswegen noch mehr Chemikalien auf die Äpfel gespritzt werden als sonst wo.“ Und spielt das verschmutzte Grundwasser wegen des bekanntlich heftig gespritzten und großflächigen Silomaisanbaus für Biogasanlagen eine Rolle? „Ja, das kommt noch hinzu.“

Die Großhändler bestimmen, wo die Ware hingeht, nicht die Produzenten

Im Mai tauchen sie dann endlich in größeren Mengen auf: „Äpfel aus Brandenburg! Marktfrisch!“, locken die Werbeinformationen die Kunden ans Regal. Was nicht gleichbedeutend mit erntefrisch ist. Diese Pinova, Braeburn und Jonagold stammen nicht aus Werder, sondern aus Altlandsberg bei Strausberg. Der In- und Verkaufsleiter der „BB Brandenburger Fruchthandel GmbH“ in Altlandsberg zeigt sich am Telefon erstaunt. ‚‚Sie haben sich überall in Berlin umgeschaut, und vorher kaum Äpfel aus Brandenburg finden können?“, sagt er mit bayerischem Akzent. „Ja, es gibt diesen Regionaltrend. Und wenn er nicht umgesetzt wird, stimmt mich das traurig.“ Weiß er denn nicht, wo seine Äpfel verkauft werden? „Die Verteilung bestimmen nicht wir, sondern die Abnehmer. Insbesondere sind das die Einkaufschefs der einzelnen Supermarktfilialen. Aber kommen Sie doch mal vorbei.“

Obstanbau ist teuer und anstrengend - der Anbau von Silomais nicht

Weit vom Stamm: Äpfel sind ein Weltmarktprodukt, entsprechende Wege legen sie zurück.
Weit vom Stamm: Äpfel sind ein Weltmarktprodukt, entsprechende Wege legen sie zurück.
© dpa

Die BB Brandenburger Fruchthandel GmbH ist im Altlandsberger Ortsteil Wesendahl ansässig, 30 Kilometer östlich von Berlin. Der Weg dorthin führt am Ende über eine sechs Kilometer lange Landstraße, an der hohe, stolze Apfelbäume stehen. Das sind diese typischen alten Brandenburger Alleen. Die Äpfel werden längst nicht mehr geerntet. Echte Apfelbäume sind marktwirtschaftlich betrachtet Vergangenheit. In Wesendahl stehen stammlose Sträucher, nicht viel höher als nur zwei Meter, sehr nah aneinandergereiht. Das ist eine wenig romantische Apfelstrauchwelt, von umfangreichen Kühllagern und Verpackungshallen flankiert. Nur so lohnt sich der zeitgenössische Apfelanbau.

„Wir haben hier die größte Obstanbaufläche Brandenburgs: 300 Hektar, davon 250 für Apfelanbau“, erklärt der Leiter Ein- und Verkauf, der am Telefon freundlich eingeladen hat, und tatsächlich aus Bayern stammt. 300 Hektar: Das ist zwar ungefähr so groß wie das Tempelhofer Feld – aber nichts verglichen mit Brandenburgs Vergangenheit als Obstgarten Berlins.

Die BB Brandenburger Fruchthandel GmbH ist allerdings, genau wie Werder Frucht, in erster Linie eine Vermarktungsgesellschaft. Es kommen nach Altlandsberg, zum Beispiel, Äpfel aus Sachsen, die als Regionalprodukt nach ihrer Lagerung irgendwann nach Sachsen zurückkehren. Sie könnten im Prinzip auch als „deutsche Äpfel“ in Brasilien enden. So funktioniert heute der Obsthandel.

„Die Obstproduktion ist eine Passion, eine Leidenschaft“, betont der Verkaufsleiter. „Die Inhaber, zwei Südtiroler, kommen selbst aus der Apfelbranche. Sie haben das ganze moderne Know-how hierher gebracht. Landwirtschaft ist eine riskante Unternehmung. Das ist Industrie ohne Dach. Man muss groß investieren: Der Anbau dieser Äpfel kostet uns 30.000 Euro pro Hektar.“

Regional kann von überall her sein, der Begriff ist nicht geschützt

Die Südtiroler Inhaber sind nicht nur Apfelliebhaber. Sie sind auch als Großgrundbesitzer, Immobilienmakler und Kapitalanlagenverwalter registriert. Nur die wenigsten Obstbauern in Brandenburg können auf diesem kapital- und arbeitsintensiven Feld mithalten. Wer selbst noch Land besitzt, baut eher risikolosen hoch subventionierten „Silomais“ oder sonstiges Getreide an als Äpfel.

Es ist Hochsommer geworden. In der letzten Juliwoche macht Rewe-Berlin eine große Werbekampagne für regionale Frischprodukte: „Äpfel aus Brandenburg.“ Wo sind diese Jonagold nun angebaut? Die Antwort der Angestellten beim Frischgemüse ist ernüchternd. „Wissen Sie, die Rewe-Kette ist so groß, da kann ,regional’ überall her sein.“ Ein Vorgesetzter mischt sich ein. „Diese Äpfel kommen aus Werder“, sagt er gelangweilt. „Steht ja auf der Packung.“ Das hat er wohl aus der eigenen Werbung: „Das Obst und Gemüse gedeiht im Havelland unter idealen Bedingungen.“ Das Wort „gedeiht“ ist gut gewählt: damit muss nicht „wächst“ gemeint sein: „gelagert“ passt auch. Der telefonische Rewe-Kundenservice fragt später auf Wunsch noch mal „beim Einkauf“ nach, aber leider: „Man gibt die entsprechenden Daten nicht weiter, weil die Kunden sie nicht brauchen.“

Über den Vermarkter selbst, Werder Frucht, kommt der Verbraucher am Telefon dann überraschend schnell weiter. „Sie haben sogar die Partienummer der Packung? Brauche ich gar nicht. Äpfel aus Brandenburg, das kann nicht sein. Das ist bei uns vorbei. Unsere Äpfel kommen zurzeit aus Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt.“ Vielleicht hatte Rewe noch eine Restpartie vorrätig.

Ende August, kurz vor der nächsten Ernte, kommen "Brandenburger Äpfel" ins Regal

„Regional“ ist in Berlin, das hat die Suche über ein ganzes Jahr ergeben, nur selten synonym mit „aus Brandenburg“. Der Begriff „regional“ ist nicht definiert, es gibt keine Vorschriften zu seiner Verwendung, das bietet Spielraum. Eine Rewe-Filiale bietet bisweilen sogar Äpfel aus Österreich als „regionale“ an.

Ende August, kurz vor der Apfelernte, hat die Kette Kaufland zwei deutsche Apfelsorten, neben zehn ausländischen im Angebot: Wirklich regionale Jonagold aus Altlandsberg und Junami aus dem Alten Land. Beide Sorten haben fast ein Jahr lang im Kühllager gelegen. Und die Letzteren sind, laut Sticker auf der Kiste, aus Niedersachsen zur Abpackung nach Rheinland-Pfalz gereist und wurden von dort nach Berlin transportiert. Sie haben gut 1100 Kilometer zurückgelegt. So steht es um die beliebten „Äpfel aus der Heimat“: alt und oft nicht gerade nachhaltig produziert.

Und jetzt beginnt die nächste Erntesaison, und das globale Spiel mit der Massenware Apfel geht von vorne los. Die Berliner, die gerne einmal im Jahr frische Äpfel „von hier“ essen möchten, verlassen am besten die Stadt. Sie können auf dem Weg über die Brandenburger Alleen anhalten und sich die heruntergefallenen Äpfel selber einsammeln.

Annemieke Hendriks

Zur Startseite