Interview mit Reiner Haseloff: „Die große Mehrheit der Ostdeutschen ist weltoffen“
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) wehrt sich im Interview mit dem Tagesspiegel gegen die Stigmatisierung der Ostdeutschen als fremdenfeindlich.
- Antje Sirleschtov
- Albert Funk
Herr Haseloff, ist Sachsen-Anhalt ein Einwanderungsland?
Blickt man auf die Flüchtlingszahlen, dann ist klar: Deutschland ist attraktiv für die Menschen, wir sind ein Einwanderungsland. Und das ist gut. Allein Sachsen-Anhalt verliert pro Jahr rund 16 000 Menschen wegen der Demografie. Wir haben nur eine Zukunft, wenn es Zuwanderung gibt. Natürlich ist es eine Herausforderung, den Flüchtlingsstrom zu bewältigen. Aber es ist auch eine große Chance, wenn es uns gelingt, die Menschen zu integrieren, die mit sicherer Bleibeperspektive zu uns kommen.
Heidenau, Freital, Tröglitz in Sachsen und in Sachsen-Anhalt sind zu Synonymen des Fremdenhasses geworden. Der Bundespräsident spricht von Dunkeldeutschland. Warum sind die Ostdeutschen dem Fremdenhass gegenüber so offen?
Ich komme viel herum in Deutschland, und ich kann keine Unterschiede in der grundsätzlichen Bereitschaft zu helfen zwischen Ost- und Westdeutschland erkennen. Was ich aber erlebe, ist ein bundesweiter Zusammenschluss rechtsextremistischer Kräfte, die die Gesellschaft destabilisieren wollen. Dieses auch im Internet geknüpfte Netzwerk geht auf brutale und menschenverachtende Weise vor. Das aber ist ein deutschlandweites, teilweise sogar ein europäisches Phänomen, dem wir mit allen Mitteln des Rechtsstaates, auch mit dem Verfassungsschutz, begegnen müssen. Deshalb verlangen 16 Bundesländer das Verbot der NPD.
Warum finden die rechtsextremen Kräfte in Ostdeutschland so viel Unterstützung in der Bevölkerung?
Die große Mehrheit der Ostdeutschen ist weltoffen und solidarisch, und die Hilfsbereitschaft der Menschen in Sachsen-Anhalt und im Osten ist enorm. Aber die Sorgen der Ostdeutschen vor Überforderung sind vielleicht größer als in Westdeutschland. Das liegt gewiss auch an den Wendeerfahrungen, als große Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst an der Tagesordnung waren. Wenn 80 Prozent aller Einwohner eines Landkreises eine Akte beim Arbeitsamt haben, dann löst das traumatische Erfahrungen aus. Wir sind in den neuen Bundesländern eine junge Demokratie. Die meisten Menschen haben einen großen Teil ihres Lebens in der Diktatur verbracht. Wir haben unsere eigene Geschichte, und die ist nicht leicht. Das führt dazu, dass soziale Kompetenzen nicht überall gleichmäßig ausgebildet sind. In kritischen Situationen wie jetzt wird das deutlich. Ich will aber auch ganz klar sagen: Jede Form von Rassismus und Fremdenhass bekämpfen wir entschlossen. Wenn aber nach Ereignissen wie in Heidenau überall in den Zeitungen pauschal steht, dass die Ostdeutschen fremdenfeindlich sind, dann erzeugt das Gegenwehr und ist nicht hilfreich.
Wie viele Flüchtlinge werden in diesem Jahr nach Sachsen-Anhalt kommen?
Nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel, der von allen anerkannten Verteilungsformel, erwarten wir bis zum Ende des Jahres bis zu 23 000 Flüchtlinge. Davon sind rund 40 Prozent aus den Ländern des Westbalkans und rund 40 Prozent aus Syrien.
Wie bewältigt das Land den Zustrom?
Die zentrale Aufnahmestelle wäre mit der Zahl der Flüchtlinge klargekommen, die nach der nur halb so hohen Prognose des Bundesinnenministers vom Frühsommer zu bewältigen war. Wenn jetzt 800 000 nach ganz Deutschland kommen, dann müssen natürlich auch wir rasch mit Containern, Zelten und weiteren Erstaufnahmeeinrichtungen nachrüsten. Unser Ziel ist es, dass wir jeden Flüchtling in einer festen Unterkunft unterbringen, wenn das Wetter schlechter wird. Und ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen.
Die hohen Zahlen waren abzusehen. Hat der Bund zu spät die Wahrheit offenbart?
Nicht jede Entwicklung der letzten Monate war wirklich absehbar, auch nicht für den Bund. Aber wahr ist, dass der Bundesinnenminister mit Zahlen hantiert hat, die nur widerspiegeln, wie viele Flüchtlinge einen Asylantrag abgegeben haben. Vor den Türen der Aufnahmelager stehen aber wesentlich mehr Menschen, die zum Teil sehr lange Zeit benötigen, um die notwendigen Unterlagen für den Antrag zusammenzutragen. Leider erst jetzt schaltet der Bund auf die Realität um.
Wer bezahlt die Unterbringung?
In der Erstaufnahme wir, sonst die Kommunen. Wir haben den Kommunen versprochen, dass wir auch ihre Kosten voll übernehmen. Das heißt aber jetzt, dass wir viel mehr bezahlen müssen und deshalb auch vom Bund rasch mehr Geld benötigen.
Was halten Sie von der Idee einer Grundgesetzänderung, damit der Bund den Kommunen die Kosten direkt begleichen kann und nicht über den Umweg der Länder?
Die Flüchtlingsunterbringung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe und erfolgt nach Bundesgesetzen. Deshalb muss der Bund die Kosten tragen, egal, ob direkt oder über die Länder. Denkbar ist auch, dass der Bund bestimmte Leistungen, etwa die medizinische Versorgung und die Sprachlehrgänge, komplett finanziert.
Sigmar Gabriel, der Vizekanzler, schlägt vor, dass der Bund die Kosten der Unterkunft komplett übernimmt. Ist das in Ihrem Interesse?
Das wäre richtig. Genauso wichtig ist es, dass die Asylverfahren beschleunigt werden. Denn die Länder und Kommunen müssen bis zum Abschluss der Verfahren die Kosten tragen, und erst danach trägt der Bund sie. Wenn das Verfahren beschleunigt wird, werden auch die Kosten der Kommunen sinken und das Finanzproblem wäre weitestgehend gelöst.
Wie sollen die Verfahren gestrafft werden?
Es ist richtig, dass der Bund jetzt mehr Stellen geschaffen hat, um die Anträge auszufüllen. Es ist aber nicht so leicht, so viele Mitarbeiter in so kurzer Zeit einzuarbeiten. Deshalb müssen wir zu strukturellen Kürzungen der Verfahren an sich kommen. Notfalls müssen zeitlich befristet Eilverfahrensregelungen erlassen werden. Was auch helfen würde, wäre ein Stichtag, ab dem alle noch ungelösten Altverfahren für Menschen mit sicherer Bleibeperspektive – manche dauern jahrelang – einfach abgeschlossen und den Menschen pauschal Bleiberecht zuerkannt wird. Das würde alle entlasten und Kraft bringen für die vielen neu Ankommenden.