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Mumbai im Umbruch: Die Goldgrube

Im Slum Dharavi mitten im indischen Mumbai leben Hunderttausende Menschen in Armut – und sitzen dabei doch auf dem teuersten Boden der Erde. Denn hier sollen Wolkenkratzer entstehen.

Das geht auf die Muskeln. Routiniert dreht sich der junge Inder hinter seinem breiten Tisch zu dem Bottich mit flüssigem Wachs um, taucht den wuchtigen Stempel hinein, dann drückt er das Muster golden in die lange weiße Stoffbahn. Nur ein kurzes Schmatzen ist zu hören, wenn sich der Stempel wieder löst. Es gilt, keine Zeit zu verlieren: Wer nur etwas zu lang verharrt, dem verlaufen die Ornamente – und hier in Mumbai wird nach Stück bezahlt. Batiken ist Schwerarbeit im Akkord. Sechs Männer in weißen Unterhemden schuften schwitzend von früh bis abends. Ihre kleine Fabrik liegt an einer schmalen Gasse in einem der größten Slums Asiens, dem seit dem Kinoerfolg „Slumdog Millionaire“ wohl bekanntesten Elendsviertel der Welt: Dharavi.

Die Männer arbeiten mit einfachsten Mitteln in schlichtester Umgebung. Dabei stehen sie auf dem vielleicht teuersten Boden der Welt. Mumbai ist eine wachsende Wirtschaftsmetropole mit rund 14 Millionen Einwohnern, aber es gibt keinen Platz mehr. Die Quadratmeterpreise zählen zu den höchsten der Erde.

Früher einmal lag Dharavi weit draußen, aber die Stadt ist um das Armenviertel herum gewachsen, heute liegt der Slum auf zwei Quadratkilometern mitten in der Stadt zwischen zwei Bahnlinien. Mehrere tausend Minifabriken gibt es in dem Gewusel der Gassen. Hier leben mindestens eine halbe Million Menschen, etwa 100 000 kommen außerdem täglich zur Arbeit hierher. Gezählt hat das noch niemand so genau. Auf Mumbais Stadtplan ist Dharavi nur ein großer beiger Fleck ohne Konturen, den lediglich ein paar Hauptstraßen durchziehen.

Das wollen die Stadtplaner ändern, es gibt hochfliegende Pläne für das Gebiet. Nach Mumbai will deshalb auch das in Berlin derzeit umstrittene Guggenheim-Lab aus Deutschland weiterziehen – und sich mit den Konflikten um die urbane Erneuerung auseinandersetzen. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit pries den Stadtoberen gerade erst auf seiner Indienreise das „riesige Potenzial“ der Kooperationsmöglichkeiten etwa Berliner Firmen bei der Stadtentwicklung an: „Boomende Metropolen wie Mumbai brauchen den Austausch der Experten.“

Welche Entwicklung Dharavi bevorsteht, ist im angrenzenden neuen Finanzdistrikt Bandra Kurla zu sehen. Dort wachsen teure Wolkenkratzer in die Höhe, Traumrenditen lassen sich erzielen. Auch Dharavi soll umgebaut werden – von der Breite in die Höhe, Häuser mit 100 Stockwerken sind im Gespräch. Je höher gebaut wird, desto höher sind die Gewinne. Doch die Slumbewohner wehren sich gegen die Pläne.

Die Menschen in Dharavi sind inzwischen gut organisiert. Ihr Sprecher ist Jockin Arputham. Er wohnt selbst im Slum, hat in den 70er Jahren die nationale Slumbewohnervereinigung gegründet und ist inzwischen in 37 Ländern der Erde aktiv. Er will, dass Dharavi als Lebens- und Arbeitsplatz für seine Bewohner erhalten bleibt. 70 Prozent der Menschen, die hier leben, verdienen auch ihr Geld an diesem Ort, sagt er. Denn Dharavi ist ein riesiges Industriegebiet. Experten schätzen, dass die Firmen rund 500 Millionen Dollar im Jahr umsetzen. Die Arbeitsbedingungen sind schwierig, die Menschen verdienen nicht viel. „Aber“, sagt Arputham, „hier wird nichts weggeworfen. Und niemand muss hier sterben.“

Es ist heiß in der Batikfabrik, unter jedem Wachstopf steht ein Propangaskocher. Immer wieder gleitet eine Tafel weißes Wachs in die Masse, wischt sich einer der Männer mit einem Tuch den Schweiß vom Körper. „Das ist keine Arbeit für Frauen, zu hart“, erklären die Männer mit ihren Batikstempeln.

Einer zieht Modebilder mit indischen Schönheiten unter seinem Tisch hervor: „So sehen die Sets aus, die wir machen.“ Die fertigen dreiteiligen Batik-Ensembles kosten im Laden 2400 Rupien, rund 35 Euro. Die Männer, die sie bedrucken, bekommen pro Set 13 Rupien, etwa 19 Cent. „Jeder von uns schafft 40 am Tag“ , erzählen sie, fast ohne vom Stoff aufzuschauen. Mit 520 Rupien (etwa 7,50 Euro) gehören sie in Dharavi zu den gut Verdienenden. Die Frauen und Männer, die zwei Gassen weiter zwischen Bergen von Plastikmüll hocken und Messer, Gabeln, Becher und Tassen von neun Uhr morgens bis halb acht abends in Kisten sortieren, bringen es gerade mal auf 120 Rupien. Bei etwa 150 liegt das Salär der beiden Männer, die draußen auf dem Boden bunte Kabel zwischen ihre nackten Zehen klemmen und ihnen mit geschwungenen Messern den Kupferkern entwinden.

Wenn es nach der indischen Armutsdefinition geht, sind die Arbeiter hier weit davon entfernt, arm zu sein. In Städten, also auch in Mumbai, gelten 28 Rupien (40 Cent) pro Tag als Untergrenze, nach UN-Maßstäben wären es 64 (93 Cent).

Mittags wuchten sie in der Wachsküche einen der Kessel vom Feuer, dann kochen sie ihr Essen. Wohnen die Männer weit entfernt? Einer breitet die Arme aus und lacht. Sie schlafen hier, direkt am Arbeitsplatz. Damit wäre wohl auch klar, warum hier keine Frauen arbeiten. Was folgt, ist nicht etwa verlegenes Schweigen: „Wir sind glücklich! Wir haben die saubersten Betten der Welt. Jeden Tag ein neues Laken! Haben Sie jeden Tag ein frisches Laken?“

Das nennt man Stolz. Mit Romantik sollte das allerdings niemand verwechseln.

Mit den Toiletten zum Beispiel ist das so eine Sache. Ein heikles Thema. Für die Menschen in Dharavi ist es eins der wichtigsten. Hier teilen sich 300 Menschen eine Toilette, erzählt Jockin Arputham, der Sprecher der Slumbewohner. Ob je jede Familie eine eigene haben wird? „Nächstes Jahr wollen wir auf das Verhältnis 50 :1 kommen.“ Geld ist dabei nicht das Problem, sagt Arputham, „alles Land ist komplett belegt“.

Trotzdem ist für den 64-jährigen Arputham ein Slum nichts Verachtenswertes. Schon als 18-Jähriger kam er nach Mumbai in einen Slum. Die britische Autorin May Hobbs hat einmal geschrieben: Was für den einen ein Slum ist, das ist für den anderen seine Gemeinschaft.

Den Kampf für die Leute im Slum hat Jockin Arputham zu seinem Leben gemacht. Er wird längst auch bei den UN gehört, ist ständig unterwegs. In Dharavi ist er die graue Eminenz. Wer hier etwas will, kommt zu ihm.

Heute sitzen auf seinem Teppich zwei lokale Politiker in weißen Hemden, auch sie buhlen um seine Gunst. Arputham redet mit ihnen über Toiletten und Schulen. Arputham trägt ein scharf gebügeltes hellblaues Hemd über grauer Hose, den Kragen offen. Ein goldfarbenes Auto hat ihn in sein Büro im Slum gebracht. Mit einer Kladde unter dem Arm hat er den Laster umrundet, der mit dröhnendem Motor gerade frisches Trinkwasser in einen Vorratstank pumpte, ist aus seinen Schuhen geschlüpft und hat sich mit gekreuzten Beinen auf der geblümten Matratze hinter dem braunen Sideboard niedergelassen. Das dient ihm als Schreibtisch. Seine beiden Handys legt er auf die spiegelnde Platte und blättert in der „Times of India“. Kein Zweifel: Der Boss.

Bevor die Politiker dran sind, füllt sich der braun-gelb gemusterte Teppich vor ihm. Eine Frau mit einem faltenreichen Gesicht und fast ohne Zähne stürzt weinend mit ihrer Tochter herein, kramt aus einer rot-weißen Plastiktüte Papiere, ein Foto von sich vor einer Hütte, ein Handy. Das hält sie Arputham hin, er soll dafür sorgen, dass sie nicht aus ihrer Behausung geworfen wird, wo sie seit sechs Jahren lebt. Sie lebt in einem Übergangscamp, nach Dharavi kann die Alte nicht ziehen, denn hier ist alles voll. Arputham reicht das Telefon weiter an seinen Mitarbeiter Johnbhai, 74 Jahre ist der schon alt. Der Sozialarbeiter lebt seit 42 Jahren im Slum, er wird sich kümmern. 100 Menschen bitten ihn täglich um Hilfe, sagt Arputham.

Jetzt aber will er sich erst mal den wichtigen Infrastrukturfragen widmen. Denn er hat andere Vorstellungen über die Zukunft als die Stadtentwickler. Jockin Arputham ist die Stimme der Slumbewohner und ihr Manager. Er organisiert Protest, und er organisiert Ordnung. Er weiß um seinen Einfluss, und er weiß, dass sie in Dharavi auf einer Diamantmine sitzen. In Bandra Kurla hätten sie 12 000 Euro pro Quadratmeter gezahlt, für Sumpfland, sagt er: „Was kostet es dann wohl hier?“

Auch für Dharavi gibt es offizielle Pläne, die Wolkenkratzer vorsehen, schicke Wohnungen, Einkaufszentren, Straßen. „Die Regierung will hier Schanghai draus machen“, schimpft er. Die Pläne sind mehrmals überarbeitet worden, aber für Arputham sind sie noch immer inakzeptabel. Er will, dass die Slumbewohner mitreden, dass nach ihren Bedürfnissen gebaut wird, nicht nach Reißbrettplänen eines aus Amerika zurückgekehrten Stararchitekten und von Entwicklungsgesellschaften. Alle Slumbewohner, die bis 1995 schon in Dharavi waren, haben ein Recht auf eine kostenlose Wohnung. Zunächst seien nur 14 Quadratmeter pro Familie vorgesehen gewesen. „Wie sollen da denn fünf oder mehr Leute schlafen, übereinander?“ Nach Protesten sind inzwischen rund 28 Quadratmeter pro Familie geplant.

„Wir sind nicht dagegen, dass hier neue Häuser gebaut werden“, sagt Arputham. „Aber es müssen Häuser sein, die zu uns passen“, redet er gegen den Lärm der Autos und Hupen vor der Tür an. Schließlich sei das hier kein Neubaugebiet auf der grünen Wiese. Die Stadtentwickler haben seiner Ansicht nach eine andere Klientel im Auge als die Menschen, die in Dharavi leben.

Der Patron will für seine Leute nur sieben Stockwerke, maximal zehn. Je höher die Häuser, desto weniger kostbarer Boden ist nötig, um die bisherigen Slumbewohner unterzubringen. Mit dem Rest kann man dann guten Gewinn machen. Arputham fordert einen Mix. „Sollen sie ihre 100 Stockwerke bauen mit Toiletten, die sie aus London einfliegen und Waschbecken aus Deutschland. Das sind Häuser für die Reichen.“ In den Häusern, die er sich vorstellt, ziehen unten die bisherigen Betriebe ein, einige Geschäfte auch in den ersten Stock. Arputham will, dass kein Ghetto entsteht, wo die Häuser der Armen an einem Fleck stehen und die der Reichen woanders. Um all das zu finanzieren, könnten sie 25 bis 30 Prozent des Baugrundes nehmen und verkaufen, meint er. „Sie sollen ja ihren Gewinn machen, aber 30 Prozent reichen, lasst sie nicht 300 Prozent bekommen“, sagt er.

Die Leute wollen auf keinen Fall weg aus Dharavi, nicht hinaus vor die Tore der Stadt. Wie sollten sie dann zur Arbeit kommen, wie den Transport bezahlen? Studien haben längst gezeigt, dass Slumbewohner selbst sehr viel bessere Wohnungen außerhalb schnell an andere vermieten und wieder in die Nähe ihrer Arbeit ziehen.

Und dann ist da noch die Zustimmung der Bewohner. Nach Arputhams Ansicht sollten 80 Prozent der Betroffenen per Unterschrift zustimmen müssen. Damit Arme ihre Stimme nicht für ein paar Rupien an einen Entwickler verkaufen, wie es allzu oft vorgekommen ist, solle man Transparenz schaffen. „Stellen wir die Namen ins Internet, veröffentlichen wir sie in der Zeitung, dann kann jeder sehen, wer für was gestimmt hat“, meint Arputham.

Der Ministerpräsident des Bundesstaates Maharashtra, in dem Mumbai liegt, ist ein ruhiger Mann mit dunklem Schopf und etwas weniger dunklem Schnäuzer. Acht Millionen Menschen leben hier insgesamt in Slums, sagt Prithviraj Chavan von der Kongresspartei. Auch er weiß genau, welche Goldgrube Dharavi ist. Diesen Schatz will der 66-Jährige für Stadt und Land heben und das einträgliche Geschäft in staatlicher Regie machen. Dann sei genug Geld da, um für alle Slumbewohner Wohnungen zu bauen.

Bisher habe eine Mafia aus lokalen Politikern, Verwaltungsmitarbeitern, Polizisten viel Geld in die eigenen Taschen geschafft. Wie das funktioniert? Ein Slum wird definiert, als Entwicklungsprojekt ausgeschrieben, das Gebiet an einen privaten Investor verkauft. Der Käufer muss neue Unterkünfte für die Slumbewohner schaffen. Je weniger er in die Häuser der Slumbewohner investiert, desto mehr bleibt bei ihm und seinen Helfern hängen. Wenn die Slumbewohner aus ihren oft nur ein- oder zweistöckigen Behausungen in Häuser mit 22 Etagen umziehen, bleiben 60 Prozent des Grundes übrig, rechnet Chavan vor – und der sei 20mal so viel wert, wie der Bau der Häuser koste. Daher habe kaum jemand ein Interesse daran, das System zu verändern, klagt er. „Alle wollen dieses Geschäft machen“, sagt der Mann in traditioneller weißer Tracht und grauer Weste. Er will das Land nicht mehr an Investoren verkaufen, sondern eine staatliche Gesellschaft bauen lassen.

Chavan denkt als Chef. Von oben will er den Menschen helfen. Arputham ist deshalb nicht auf seiner Seite. Er will, dass sich die Planer mit den Leuten aus dem Slum an einen Tisch setzen.

Wo werden am Ende wohl die Männer unterkommen, die jeden Tag in der Minifabrik Stoffe bedrucken? Jetzt machen sie erst mal eine Teepause. Einer der Jüngeren läuft raus auf die Gasse und kommt mit zwei Plastiktütchen wieder, in denen milchigbrauner Chai schwappt, Ersatz für eine Kanne. Den Chai kippen sie in schnapsglaskleine Plastikbecher. „Wir lernen jetzt alle Englisch“, sagt einer selbstbewusst in die Runde. Die Zeiten ändern sich. Sie wissen das – auch wenn sie nicht so genau wissen, was das bedeutet. „Wir sind jetzt auf der globalen Landkarte.“

Ingrid Müller

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