Familie des Krieges: Die Geschichte einer Flucht aus Syrien
Tagesspiegel-Leser Andreas van Lepsius war wieder in Syrien. Er wollte seinem Freund Nasir und dessen Familie helfen, das umkämpfte Land zu verlassen.
Ich sitze zu Tisch mit Nasir, seiner Frau und seinen vier Kindern. So haben Sie, liebe Leser des Tagesspiegels, diese Familie kennengelernt, diese Worte haben den ersten Teil meines Berichtes eingeleitet. Mehrere Monate sind vergangen. Es ist Ende September und erneut sitzen wir zusammen. Diesmal ist es kein großer Tisch, sondern es sind zwei kleine, wir haben sie zusammengerückt, um Platz zu finden.
Es mag sein, dass ich nicht ganz unschuldig bin, vielleicht war ich der Auslöser. Mein Besuch und die vielen Gespräche, die sich um Zukunft drehten, um Möglichkeiten, Chancen und Gefahren, haben Unruhe gebracht. Einige Tage nach meiner Abreise jedenfalls nahmen die Spannungen in der sonst so harmonischen Familie zu. Es ging um Geld, um die strengen Regeln für die Kinder, um die ständige Angst und die häufigen Umzüge. All die inneren und äußeren Konflikte, traten nun, als sich unverhofft Möglichkeiten eröffneten, plötzlich zutage.
Die beiden erwachsenen Söhne vermissten Freunde, Arbeit und Abwechslung vom Alltag. Sie empfanden die Enge des Hauses und die lähmende Langeweile als Last. Sie sind beide Mitte Zwanzig und des Lebens beraubt, das sie eigentlich führen sollten. In einem friedlichen Syrien wären sie vielleicht schon verheiratet, hätten bereits eigene Familien.
Für die beiden inzwischen zwölf- und siebzehnjährigen Mädchen ist die Enge noch unerträglicher. In diesen Zeiten lässt der Vater sie nur selten vor die Tür, und auch dann nicht weit und niemals ohne Begleitung. Und natürlich machen auch sie sich Sorgen. Der Besuch der Schule ist ihnen verwehrt, was sehr schwer für sie ist. Die ältere Tochter ist jetzt in einem Alter, in dem in Syrien Ehen geschlossen und eigene Hausstände gegründet werden.
Die Sorgen, die die Eltern nicht zur Ruhe kommen lassen, sind akuterer Natur: die Ersparnisse neigen sich dem Ende zu, jeden Tag werden die Reserven ein wenig kleiner. Noch reichten sie, um an einem anderen Ort ein neues Leben zu beginnen, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Als neues Risiko sind –zusätzliches Drangsal eines jeden Bürgerkrieges- Gruppen von Plünderern aufgetaucht, desertierte Kombattanten oder Soldaten. Die Familie wohnt in einem kleineren Dorf, leichte Beute für Marodeure.
Vor dem Hintergrund dieser Situation traf Nasir die wohl schwerste Entscheidung seines Lebens. Sie alle würden ihre Heimat verlassen und dabei vieles verlieren, vieles aufgeben müssen, mehr noch als bei all den Aufbrüchen zuvor. Der Krieg hat aus einer Familie mit hart erarbeitetem Wohlstand eine Flüchtlingsfamilie gemacht, kaum etwas ist geblieben aus den guten Zeiten.
Als mich die Mail erreichte und damit die Idee, dem Unheil durch Flucht zu entrinnen, zu einem realen Vorhaben wurde, fühlte ich mich beinahe erleichtert – trotz all der Gefahren und der Unwägbarkeiten, die damit verbunden sein mussten. Mein Angebot, bei diesem Unterfangen jede mir mögliche Hilfe zu leisten, wurde somit zu einer Verpflichtung. Trotzdem verhehle ich nicht, angesichts der Konkretisierung der Pläne für einen Augenblick auch ein wenig Angst vor der eigenen Courage verspürt zu haben.
Zuflucht in Deutschland?
Bereits Anfang des Jahres, nachdem sich in den Gesprächen mit Nasir erste Tendenzen in diese Richtung abgezeichnet hatten, Frau und Kinder waren zu dem Zeitpunkt noch nicht einbezogen, habe ich mit der grundsätzlichen Planung begonnen. Ich bin glücklich, Menschen in meinem Bekanntenkreis zu haben, auf die ich mich verlassen kann, von denen ich weiß, dass sie helfen, wenn Hilfe vonnöten ist. Einigen von ihnen, die mehr Fachwissen und wohl auch mehr Geduld im Umgang mit der Bürokratie besitzen, konnte ich den Kontakt zu den deutschen Behörden mit gutem Gewissen überlassen.
Hoffnung verheißende Möglichkeiten, die sich anfänglich zu eröffnen schienen, wurden allerdings nach und nach durch bürokratische Schranken versperrt. Dies schloss eine Einreise nach Deutschland letztendlich aus. Auf die Nennung der Einzelheiten verzichte ich an dieser Stelle, sie sind nebensächlich. Ausschlaggebend war, dass die Bearbeitung des Vorganges für eine legale Einreise der Familie etwa 6 bis 14 (!) Monate in Anspruch genommen hätte, natürlich ohne jede wie auch immer geartete Garantie. Es wären Papiere zu besorgen gewesen. Papiere, die nur wer ausstellen könnte? Die syrischen Behörden! Nicht machbar in diesen Tagen und außerdem ein Wagnis, das einzugehen schlicht verrückt gewesen wäre.
Flucht oder Ausreise, vor allem von Männern im wehrhaften Alter, sind Dinge, die von der syrischen Obrigkeit und dem Geheimdienst nicht gerne gesehen sind. Und selbst wenn der Versuch wider Erwarten gelungen wäre, wäre die Familie mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne die Devisen und die kleinen Goldstücke ausgereist, die Nasir als Grundlage für das Leben im Krieg oder den Neuanfang in einem anderen Land eisern gespart hatte.
Andere Optionen, die seitens der deutschen Behörden als vielleicht erfolgversprechender vorgeschlagen wurden, die Einreise von Vater und ältestem Sohn allein mit der Hoffnung auf späteren Familiennachzug oder ein Antrag auf Asyl, mit ungewissem Ausgang und Arbeitsverbot, kamen für Nasir nicht infrage. Er ist kein Mann, der sein Schicksal und das seiner Angehörigen gern in fremde Hände legt.
Erforderliche Neuplanung
Für eine Flucht bzw. eine Ausreise aus Syrien gibt es, besonders für eine Familie, kaum noch Wege, die als halbwegs sicher zu bezeichnen sind. Grenzübertritte sind im Prinzip nur noch nach Jordanien oder in Richtung Libanon möglich, dahin sind die Wege nicht zu weit und nicht so gefährlich wie die lange und umkämpfte Route durch das ganze Land zur Türkei. Nachdem Deutschland nun als Zufluchtsort ausscheidet, gilt es, ein anderes Land zu finden. Eines, das erreichbar ist, eines, das die Familie einreisen ließe, eines, in dem sie als Christen vor Verfolgung sicher wären.
Vieles ist zu bedenken, abzuwägen, zu planen, viele Kontakte sind zu bemühen, Gespräche müssen geführt werden. Mehrere Reisen werde ich allein zu diesem Zweck unternehmen. Es sind nur zwei Länder, die an dieser Phase als mögliche Zielorte übrig bleiben: Ägypten und der Iran.
Ausgerechnet der Iran, die islamische Diktatur, das Mullah-Regime und ein Feindbild des Westens, ist derzeit der einzige Staat in der Region, der (nicht-konvertierten) Christen Religionsfreiheit gewährt und ihre Rechte sogar in der Verfassung garantiert. Am Wichtigsten aber: der Iran ist der einzige Staat, der seinen Bürgern derzeit innere Sicherheit und Frieden bietet. Außerdem ist – der Konjunktur durch das Ende der Sanktionen sei Dank – die wirtschaftliche Situation vergleichsweise gut.
Es besteht Aussicht auf Arbeit, Bedarf ist genug vorhanden, der Nasir mit seinem phänomenalen Sprachtalent und seinem älteren Sohn, der Maschinentechniker ist, bald in Lohn und Brot bringen könnte. Diese Überlegungen waren es wohl, die Nasir, vor diese Wahl gestellt, am Ende bewogen, sich für den Iran zu entscheiden - entgegen meines Rats, denn in Ägypten hätte ich mithilfe meiner vielen langjährigen Kontakte wesentlich nützlicher sein können als im Iran.
Das Ziel: eine Diktatur, bei der viele an Flucht denken
Bei der Planung einer Flucht ist die Balance zu wahren: das Gleichgewicht einer gewissen Verschwiegenheit auf der einen Seite und der Einbeziehung von Menschen, deren Hilfe zum Erfolg des Unternehmens gebraucht wird, auf der anderen. Ohne Unterstützung an den richtigen Stellen ist der Misserfolg vorprogrammiert. Eine Flucht als "One-Man-Show" funktioniert im Kino, im Leben aber ist das unvorstellbar.
So erklärt sich zum Beispiel ein Mitarbeiter jenes Hotels in Teheran, in dem ich bei meinen letzten Besuchen im Lande logierte, auf meine Bitte hin bereit, bei der Suche nach einem kleinen Haus oder einer Wohnung behilflich zu sein. Diese sei gedacht für die Unterbringung einer mitreisenden Familie, die zu lange zu bleiben beabsichtigt, um im Hotel zu leben. Dass es sich nicht um eine deutsche Familie handelt, wie er annehmen muss, verschweige ich. Der Ort der Abreise steht fest, eine Stadt, um die herum der Krieg tobt. Das Ziel ist benannt, eine Diktatur, bei deren Nennung viele Menschen immer noch eher an Flucht denken als an Rettung. Die Zeit der Ungewissheit, des Wartens ist vorbei. Ab jetzt kann ich gezielt vorgehen. Es ist sozusagen "Tag Eins der Flucht".
Schnell ist klar: Die beste, schnellste und vergleichsweise sicherste Möglichkeit der Ausreise führt in den Libanon. Etwa 70 Kilometer Wegstrecke sind zu überwinden, von Damaskus bis an die Grenze, dann nach Beirut. Dort angekommen soll es weiter mit dem Flugzeug gehen, fast täglich gibt es Flüge nach Teheran, mit Airlines, die – auch das gilt es zu bedenken – entsprechend viel Reisegepäck für sieben Personen befördern.
Beinahe alles werden sie dennoch zurücklassen müssen, aber auch Papiere, ein paar persönliche Gegenstände, Kleidung und andere Dinge des täglichen Bedarfs haben ihr Gewicht und Volumen, immer noch, auch wenn so viel schon in den vergangenen Monaten, bei den zahlreichen überstürzten nächtlichen Aufbrüchen, um irgendeiner Gefahr zu entrinnen, verloren gegangen ist.
Die Vorbereitungen laufen an
Die Anspannung der Familie erhöht sich spürbar. Das zeigt sich unter anderem darin, dass Nasir darauf besteht, alle vier Männer unserer Gruppe auf der Fahrt bis zur Grenze zu bewaffnen. Pistolen zu beschaffen wäre kein großes Problem. Allerdings müsste man dazu in Kontakt mit Kreisen treten, zu denen Distanz zu halten sich empfiehlt. Wer in diesen Zeiten bis zu 1000 Euro ausgeben kann, könnte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aus unterschiedlichsten Gründen. Aufmerksamkeit ist aber genau das Gegenteil von dem, was wir für die erfolgreiche Durchführung der Flucht brauchen.
Wir erzielen einen Kompromiss. Es gibt seit Jahren eine Makarow-Pistole im Haus, diese werden wir mitführen. Wir vereinbaren, dass er sie mir übergeben wird, sobald ich in Damaskus eingetroffen bin, und ich sie dann während der Fahrt bei mir trage. Ganz wohl ist mir dabei nicht, aber so war es nun beschlossen. Ich würde sie einstecken, kurz vor der Grenze werden wir sie sowieso entsorgen müssen. Im Libanon könnte uns eine illegale Waffe in größte Schwierigkeiten bringen.
Viel wichtiger und schwieriger ist es, ein zweites Fahrzeug zu organisieren. Dabei kann ich Nasir nicht helfen. Als Ausländer, der mit Touristenvisum reist, wäre das allzu auffällig und damit verdächtig. Auch Nasir als Einheimischer muss sich eine passende Ausrede einfallen lassen, um zu erklären, warum er ein weiteres Fahrzeug braucht, als er den alten Zweitwagen eines Hoteliers, für den er früher oft gearbeitet hat, erwirbt.
All diese Dinge besprechen und koordinieren wir – ich befinde mich zu diesem Zeitpunkt ja noch an meinem Schreibtisch in Berlin – konspirativ per Mail und Fake-Account bei Facebook, Telefonate vermeiden wir. Es gelingt mir, sowohl meine Einreise als auch die der Familie in den Iran zu organisieren, die dazu benötigten Papiere sollen am Flughafen bereit liegen, nur der genaue Reisetag müsse noch mitgeteilt werden. Wenn ich sonst die vielen Flugportale und Onlineshops auch kritisch betrachte, diesmal sind sie sehr hilfreich. Die Buchung von sieben Plätzen ist relativ unkompliziert, wenn auch zu einem horrenden Preis.
Ankunft in Damaskus und der Aufbruch ins Ungewisse
Es ist Zeit für mich, kleines Reisegepäck zu schnüren und nach Damaskus aufzubrechen. Wie versprochen werde ich die Familie begleiten, ich werde gemeinsam mit diesen sechs Menschen, die mir so ans Herz gewachsen sind, Teheran sicher und wohlbehalten erreichen oder – wenn es anders kommen soll – alle auftretenden Probleme teilen. Die Begrüßung ist herzlich, wenn auch die Hektik, bei den Eltern und den beiden Töchtern kann man fast von Panik sprechen, mit Händen zu greifen ist. Die beiden jungen Männer versuchen der allgemeinen Nervosität mit demonstrativer Gelassenheit entgegenzuwirken, aber auch ihnen ist anzumerken: das ist wohl eher Fassade.
Zunächst ist erforderlich, „Lage zu machen“, wie man beim Militär sagt, sich also ein möglichst umfassendes Bild der Gesamtsituation am Einsatzort zu verschaffen. Zu diesem Zweck unternehme ich Erkundungsfahrten, vor allem der Strecke zur libanesischen Grenze gilt meine Aufmerksamkeit. Ich vertraue dabei auf meine Erfahrung und auf mein Gespür, so dass ich das Risiko, welches mit diesen Touren objektiv verbunden ist, glaube einschätzen und eingehen zu können. Ich habe Erfolg und bleibe unbehelligt und erfahre, was wir wissen müssen.
Wie bereits vermutet, hat die syrische Regierung das Grenzregime fast vollständig eingestellt. Es ist Krieg, jeder Soldat wird gebraucht und da ist kaum einer übrig, einen nicht umkämpften Schlagbaum zu sichern, auf dessen anderer Seite ohnehin ein libanesischer Grenzpolizist die gleiche Aufgabe erfüllt.
Welche Tageszeit für unser Unterfangen die beste Wahl ist, gilt es sorgsam zu überlegen: Die Plünderer pflegen mit der Dunkelheit aufzutauchen, lichtscheues Gesindel eben. Tagsüber lassen sie sich nicht blicken, weil dann ab und zu Militärfahrzeuge der syrischen Armee unterwegs sind, auf der Suche nach Deserteuren und nach zu rekrutierenden Männern im wehrfähigen Alter. Im Idealfall werden wir weder den einen noch den anderen begegnen. Etwa zwei Stunden nach Sonnenaufgang, spätestens um 9 Uhr, werden wir starten.
Es würde zu weit führen, all die Dinge zu nennen, an die zu denken ist und die zu erledigen sind, bevor eine solche Mission beginnen kann. Es sind Kleinigkeiten, die aber große Auswirkungen haben können. Alles, was wir jetzt vergessen, ist nicht nachzuholen. Das, was wir hier vorhaben, sind keine Ferien, sondern ein endgültiger Aufbruch, der uns durch umkämpftes Kriegsgebiet führen wird. Der Flug war gebucht, zu einem möglichst späten Zeitpunkt, um uns einen Zeitpuffer zu gewährleisten, den wir – hoffentlich nicht – brauchen werden, falls eine oder mehrere der vielen Unwägbarkeiten eintreten sollten. Es ist Donnerstag, wir machen uns auf den Weg.
Die Grenzüberquerung
Wir haben das erhoffte Glück, denn die Fahrt zur Grenze verläuft erfreulich unspektakulär. Nur wenige Fahrzeuge sind um diese Zeit unterwegs, kein Militär ist weit und breit zu sehen und – Gott sei Dank - auch keine Marodeure, die uns gefährlich werden könnten. Als Mahnmale der ständig lauernden Gefahr passieren wir einige Autowracks. Diese weisen eindeutige Spuren von Beschuss auf, einige sind ausgebrannt, für das Schicksal der Insassen ist das Schlimmste anzunehmen.
Angesichts dieses beklemmenden Anblicks scheint uns wahrlich keine unserer zahlreichen Vorsichtsmaßnahmen übertrieben gewesen zu sein. Wie erwartet gibt es keinerlei syrischen Ausreisekontrollen an der Grenze. Dafür folgt sogleich die nächste Herausforderung: Es gilt jetzt in den Libanon einzureisen, die erste große Bewährungsprobe für mich.
Zwei junge Soldaten halten uns an, sie fragen nach dem Grund der Einreise, nach unseren Papieren. Zeit für meinen Auftritt. Ich verleugne meine Sprachkenntnisse und verlange auf deutsch, einen Offizier zu sprechen. Nasir erfüllt die Aufgabe, wegen der er mich offiziell begleitet, er dolmetscht. Nach einer angemessenen Wartezeit, die überbrückt wird mit der internationalen Geste, Zigaretten anzubieten, erscheint gemächlich der diensthabende Korporal, etwa in meinem Alter. Ich begrüße ihn militärisch korrekt, eine Ehrenbezeugung vor den Augen seiner Untergebenen, die ihm sichtlich gefällt.
Was nun folgt, ist Schmeichelei und Falle zugleich. Ich lasse Nasir übersetzen: Es täte mir sehr leid, den Herrn "Major" bei seinen wichtigen Amtsgeschäften zu stören, aber ein Mann in seiner hohen Position verfüge doch sicher über alle Vollmachten, so auch die, schnell über unsere Durchreise zu entscheiden, nicht wahr? Damit ist er unter Zugzwang gesetzt. Widerspricht er mir jetzt, dann räumt er damit ein, diese Macht nicht zu haben. So ist mein Plan, mein Spiel mit der Eitelkeit. Denn noch befinden wir uns auf syrischem Boden, es liegt in unserem dringenden Interesse, aufwändige Telefonate und Rücksprache mit Vorgesetzten zu vermeiden. Das könnte sonst sehr viele Stunden wertvoller Zeit kosten.
Meine Strategie hat Erfolg. Man hat andere Probleme als Durchreisende mit Flugtickets, die das Land sogleich wieder verlassen. Pro forma werden die Fahrzeuge oberflächlich untersucht, und schließlich dürfen wir fahren, in der Tasche alle notwendigen Papiere für den Transfer. Zurück bleiben – neben der gesamten Vergangenheit meiner Begleiter – nur einige Packungen Zigaretten, ein Bakschisch von etwa hundert Euro und eine alte Makarow-Armeepistole, bedeckt von drei Handvoll Sand.
Angekommen im Libanon
Die Fahrt geht weiter Richtung Beirut. Die Stadt wurde früher, zu anderen Zeiten, das Paris des Nahen Ostens genannt. Ein Ort, an dem sehr unterschiedliche Menschen zusammenkommen, auch unzählige Flüchtlinge aus Syrien haben hier Zuflucht gefunden. Aber Nasir will keiner von ihnen sein, sein Weg führt weiter, daher interessiert uns hier nur eines, der Flughafen. Wir parken die Wagen und laden das Gepäck aus. Wenn alles gut geht, ist auch dies ein Abschied, einer von so vielen in diesen Tagen.
Am liebsten will Nasir sofort einchecken, so schnell wie möglich in den sicheren Bereich. Nur zu verständlich, seit Jahren sucht er instinktiv den sichersten Ort für ihren Aufenthalt, ein kriegsbedingtes Verhaltensmuster. Auch ich halte das für eine gute Idee und kümmere mich um den Einkauf einiger Kleinigkeiten, denn uns stehen noch einige Stunden Wartezeit und dann ein längerer Flug bevor. Der Check-In verläuft ohne Probleme, die Papiere werden kurz geprüft, einige Stempel, die üblichen Kontrollen, dann ist auch diese Hürde genommen. Auch hier gilt: Wer als Ausländer das Land verlassen will, insbesondere als Syrer, dem werden keinerlei Steine in den Weg gelegt.
Über den Flug ist nicht viel zu berichten: Nasir und ich erfreuten uns an den großen Augen, die die Kinder machten, dem Erstaunen in ihren Gesichtern über die Kraft der Beschleunigung beim Start, den Blick aus solcher Höhe und dann das nie gekannte Erlebnis, sich über den Wolken zu befinden. Die Einweisung der Sicherheitsmaßnahmen löst – wie so oft – Heiterkeit aus bei den Flugnovizen, die Jüngste ist begeistert und führt etwas später ihre Variante vor.
Ankunft und Willkommen in der Diktatur
Wir sind gelandet. Ich wende mich an einen Mitarbeiter der Sicherheit, zeige meinen Pass und erkläre ihm, dass für mich und die mich begleitende Familie diverse Papiere am Flughafen hinterlegt wurden und wir von einem Mitarbeiter unseres Hotels erwartet werden. Auch hier ist der deutsche Pass eine gute Empfehlung, kurze Zeit später werden wir in einen Nebenraum dirigiert. Im Libanon waren wir lediglich auf der Durchreise, nun hingegen auf der Einreise, daher ist hier, im Iran, die Prüfung der Papiere erheblich intensiver. Eingehend erkundigt man sich nach dem Grund des Aufenthalts, ebenso nach der Unterbringung. Aber die Legende steht, die Papiere sind in Ordnung, die beigefügte Empfehlung eines Iraners leistet ihren erwarteten Dienst.
Während wir die Kontrolle über uns ergehen ließen, ist auch unser Gepäck komplett untersucht worden, ohne Beanstandung. Eines ist noch zu erledigen, bevor wir das Flughafengebäude verlassen und meine Begleiter in ihr neues Leben treten können: Nasirs Frau und die ältere Tochter haben sich den iranischen Vorschriften entsprechend zu kleiden. Das bedeutet, alle Körperteile mit Ausnahme der Hände, der Füße und dem Gesicht müssen durch weite Tücher bedeckt sein. Bereits in Syrien hatten die beiden für entsprechende Kleidung gesorgt, teilweise trugen sie sie schon dort, um nicht sofort als Christinnen erkannt zu werden.
Schnell finden wir den Mitarbeiter des Hotels. Sein Erstaunen über unsere Gruppe ist unverkennbar. Ein großzügiges Trinkgeld für seine Wartezeit und ein weiteres dafür, dass er die Familie persönlich in das angemietete kleine Haus begleitet, lassen seine Zurückhaltung weichen; er ist kooperativ. Schließlich sind die Papiere in Ordnung, die Miete ist bezahlt, um alles Weitere braucht er sich nicht zu kümmern. Auch im Iran sind Devisen ein Schlüssel, der fast überall passt.
Ich beziehe mein gebuchtes Hotel. Vereinbart ist, dass ich die Familie am nächsten Tag besuche. Dann beginnt die Familie damit, sich in ihrem neuen Zuhause einzurichten. Es sind nur drei Zimmer, alles andere als groß, eine kleine Kochstelle und ein Bad von ebenfalls überschaubaren Dimensionen. Wenig Platz für sechs Personen, aber für die nächste Zeit muss es genügen. Dafür ist die erste Nacht in diesem Haus auch die erste Nacht seit Jahren, in der alle ohne Angst vor Krieg, vor Verfolgung und vor Überfällen schlafen können. Niemand von uns im friedlichen und privilegierten Deutschland wird wirklich ermessen können, was das bedeutet.
Ein Ausflug in die Innenstadt Teherans
Am folgenden Tag, es ist Samstag, meldet sich der Kontaktmann, der Nasir behilflich sein wird, die entscheidenden Behördengänge zu erledigen. Am Montag ist der erste wichtige Termin, es ist viel zu besprechen und intensiv vorzubereiten. Derweil mache ich mit dem Rest der Familie den ersten Ausflug in die Innenstadt Teherans. Wir können laufen, verweilen, uns frei bewegen, ganz nach Lust und Laune. Für die Familie eine lange vermisste Normalität, die jüngste Tochter kann sich überhaupt nicht erinnern, diese Freiheit je genossen zu haben.
Unser vorrangiges Augenmerk gilt Märkten und anderen Möglichkeiten, sich mit Alltagsbedarf zu versorgen. Innerhalb von drei Stunden kann alles eingekauft werden, was eine sechsköpfige Familie zum Leben braucht. Später – wenn erst ein Auto angeschafft ist – wird dies bequemer und mit weniger Zeitaufwand zu erledigen sein. Am Sonntag unternehmen wir, Nasir begleitet uns dieses Mal, eine weitere, lange Erkundungstour durch die Stadt. Wir suchen und finden auch die Räumlichkeiten, die der christlichen Gemeinde als Versammlungsort dienen. Den Kontakt zu den Glaubensbrüdern will Nasir aber erst etwas später herstellen.
Wichtiger ist der Termin am nächsten Tag. Am Montag, es ist gegen 10 Uhr, bricht Nasir mit dem Kontaktmann in die Innenstadt auf, um seine Gespräche mit den Behörden zu führen. Ich bleibe bei Frau und Kindern zurück, ziemlich angespannt, es hängt viel, sehr viel davon ab, heute ein positives Ergebnis zu erzielen. Der Iran hat kein Einwanderungsgesetz, keine Rechtsansprüche, die eine sichere Aufenthaltsgenehmigung garantieren. Auch wird es vergleichsweise selten vorkommen, dass jemand in diesem Staat Asyl beantragt. Es liegt im freien Ermessen der Behörden, Aufenthalt zu gewähren oder zu verweigern. Es zeigt sich, dass seine Entscheidung, den Iran als Zuflucht zu wählen, nicht falsch gewesen ist, der Staat hat sich in unserem Fall so pragmatisch gezeigt, wie wir es erhofft hatten.
Lange und intensive Gespräche hat Nasir führen müssen, peinlich genau wurden seine persönlichen Daten sowie seine politischen und religiösen Einstellungen abgefragt und bewertet. Dem folgte eine eingehende Prüfung all der vielen Dokumente, Zeugnisse und Empfehlungen, die er zur Stützung seines Anliegens vorlegen konnte. Die Entscheidung: Nasir und seine Familie erhalten eine Aufenthaltsgenehmigung, zunächst befristet auf sechs Monate. Nach dieser Probezeit wird über eine Verlängerung entschieden.
Allerdings ist dieses Zugeständnis mit Auflagen und Regeln verbunden, nicht sehr viele zwar, dafür sind sie umso strenger einzuhalten: Beihilfen – gleich welcher Art – gibt es nicht, die Familie muss für ihr Auskommen selbst sorgen, wobei es gleichgültig ist, ob dies durch Arbeit oder durch vorhandenes Vermögen bewerkstelligt wird. Religiöse Betätigung ist gestattet, solange sie in eigenen, geschlossenen Räumen oder im Gebäude einer der christlichen Gemeinden erfolgt; öffentliche Ausübung oder gar Missionierung sind strikt untersagt. Politische Betätigung durch Ausländer ist unerwünscht, dies ist hierzulande als Synonym zu verstehen für „streng verboten“. Die Vorschriften der Sittenpolizei sind einzuhalten, dies betrifft insbesondere die Kleidung der Frauen, aber auch den Konsum von Alkohol, Drogen, Nikotin.
Das Leben der Familie verändert sich
Der Iran ist eine Diktatur. Nasir war sich dessen bewusst, als er die Entscheidung traf. Vieles wird sich für die Familie ändern, einiges zum Negativen, einiges zum Positiven. Für Nasir selbst wird die Umstellung wohl am einfachsten sein. Er wird nach Arbeit suchen und - da bin ich mir sehr sicher - auch bald finden. Es sind die Fähigkeiten, die ihn immer ausgezeichnet haben, die nun erneut gefragt sind. Einschneidendere Auswirkungen hat die örtliche Veränderung für die Söhne. Die Chancen auf Partnerschaft und Ehe sind nicht gestiegen, im Gegenteil. Es gibt nur eine kleine christliche Gemeinde, eine konfessionsübergreifende Heirat ist so gut wie ausgeschlossen. Ihr Vater ist ohnehin der Meinung, es habe nun Priorität, die Sprache zu lernen und zu arbeiten.
Noch unmittelbarer werden die Mutter und die fast erwachsene Tochter ihre Lebensweise umzustellen haben. Ihnen legt der Iran eine Kleiderordnung auf, die auch für Christinnen und Ausländerinnen gleichermaßen gilt. Heute sind meist eher Ermahnungen als Strafen die Folge, wenn Verstöße festgestellt werden, aber als lediglich geduldete Syrerinnen ist es doppelt geraten, nicht in dieser Weise aufzufallen.
Die jüngste Tochter ist noch einige Jahre von den strengen Vorschriften befreit. Sie muss sich nun sprachliche Grundkenntnisse aneignen, dann wird es für sie wieder in eine Schule gehen. Die ganz bunten Kleider, die sie so liebt, wird sie allerdings nur zu Hause tragen können. Alle in der Familie haben große Opfer gebracht, alle geben ein Stück ihrer persönlichen Freiheit auf, um in Frieden leben zu können. Frieden in einer Diktatur, in einem sehr kleinen Haus, in einem fremden Land. Aber immerhin Frieden.
Abreise
Es ist Zeit für mich abzureisen. Ich nehme eine Bitte mit, die ich gerne erfülle. Natürlich kennt die Familie den ersten Reisebericht. Und ich habe versprochen, auch über die Flucht einen Bericht für den Tagesspiegel zu schreiben. Und hier die Bitte: "Du kannst allen ruhig meinen Namen sagen". Sie lächelt, als sie das sagt ... Das mache ich gerne. Ich richte Ihnen Grüße aus von Rabia, dem Kind des Krieges.
Ich möchte den vielen Freunden und Bekannten danken, und auch den vielen Helfern, die ich weder persönlich kenne noch kennenlernen werde. Ohne sie wäre diese Flucht weder so geplant noch durchgeführt worden. Sie alle haben ohne persönliche Vorteile geholfen, mit Zeit, Rat und Tat.
Erneut Dank für die Zeit und Mühe des unermüdlichen Gegenlesens an mogberlin. Seine wertvollen Kommentare, Anregungen und die Nachfragen zu Details sind in diesen Beitrag eingeflossen.
Lesen Sie hier den ersten Artikel unseres Community-Mitglieds Andreas van Lepsius über seine Freundschaft mit Nasir und dessen Familie.
Andreas van Lepsius