Kinderbetreuung durch Leihgroßeltern: Die fremde Oma
Sie geht mit ihr Kuchen essen und bringt sie zum Flötenunterricht. Sie ist für sie da, während die Mutter arbeitet. Ulrike Faßbender könnte Karens Großmutter sein, ist es aber nicht. Sie gehört zu den 495 Alten in Berlin, die fremde Kinder betreuen. Und ein politisches Problem lösen.
Als Meike N. im Jahr 2004 schwanger in der Berliner U-Bahn saß, ahnte sie nur in groben Zügen, wohin die Reise ging: Sie würde ihr Kind allein erziehen. Ihre Zeit würde knapp, sie würde Hilfe in der Betreuung brauchen. Dieses Plakat dort hinten könnte ihr Kind betreffen: Vermittlung von „Wunschgroßeltern“.
Als Ulrike Faßbender, ausgebildete Kinderkrankenschwester, sich von ihrem Mann getrennt hatte, ahnte sie, dieses Angebot aus dem Internet könnte sie betreffen: „Wunschgroßmutter“ werden.
Beide wandten sich an Helga Krull, die sich einmal zur Ingenieurin hat ausbilden lassen, um Schiffe zu bauen, die aber heute den Berliner Großelterndienst leitet. Sie empfängt auf grünen Zweisitzern in der Schöneberger Ansbacher Straße Alleinerziehende in den Stürmen des Lebens und vermittelt ihnen Omas und Opas. Im Dienst: 495. Davon 447 weiblich, 48 männlich. Von letzteren helfen 29 in Paaren, 19 sind einzelne Großväter. Die meisten haben eigene Kinder oder sogar Enkel, die aber nicht in der Stadt leben. Die Expertin in Sachen Großelternbeziehung hat einen verbindlichen Blick, eine ansteckende Ruhe und über sieben Jahre Erfahrung.
Großeltern waren bislang Glück für den, der sie hat. Glücklicher, wer sie in der Nähe hat. Pech, wenn beides nicht der Fall ist oder man sich nicht versteht. Großeltern haben vor allem emotionalen Wert. Und weil auf nichts ein Anspruch besteht, ist alles ein Geschenk. Doch plötzlich sind sie hineingeraten in das politisch umkämpfte Bermudadreieck von Geburtenrate, Berufstätigkeit und Kinderbetreuung, in dem so viele Karrieren spurlos verschwinden.
Im Frühling dieses Jahres machte Familienministerin Kristina Schröder den Vorschlag für eine „Großelternzeit“: Analog zur Elternzeit sollten Großeltern drei Jahre im Job pausieren dürfen. Geld gäbe es keines, aber Rentenpunkte und eine Rückkehrgarantie. Man fragt sich nur etwas ratlos, was Schröders Vorschlag soll, wen er betreffen und wem er nützen könnte. Es sind leibliche Großeltern gemeint, die jung genug sind, um überhaupt regelmäßig die Enkel zu betreuen. Großeltern, die in der Nähe der Enkel wohnen müssten. Es sind nur solche gemeint, die arbeiten, aber auf das Geld aus dieser Tätigkeit nicht angewiesen sind.
„Diese Situation wirkt etwas an den Haaren herbeigezogen“, sagt Helga Krull. Ihr Verein beantwortet seit mehr als 23 Jahren das dringende Bedürfnis nach Betreuung durch Großeltern. Seinen Erfolg verdankt er wohl der Tatsache, dass sie hier von den Lebenssituationen ausgehen und nicht von einem politisch erwünschten Familienideal. Was brauchen Kinder und Großeltern wirklich? Was macht die Großelternbeziehung aus? Unter welchen Umständen gelingt sie am besten?
Meike N. bestellt das Gulasch in der Mittagspause in der Mensa der TU, wo sie sich am Berliner Zentrum für Hochschullehre in Teilzeit um die Finanzen kümmert. Ihre Tochter wird im Januar acht. „Mit verlässlichen Großeltern hätte ich vielleicht einen anderen Job angenommen“, sagt sie. Aber ihre Eltern wohnen in der Nähe von Hannover. In ihrem Alter ziehen sie nicht mehr nach Berlin. Es ist ein strukturelles Problem, sagt N., dass die Menschen immer später Eltern werden und deshalb die Großeltern in einem Alter sind, in dem ihnen eine regelmäßige Kinderbetreuung gar nicht mehr zuzumuten ist.
Sympathie bindet sie aneinander, nicht die Familie
N., 45, hat nach der Banklehre viele Jahre mit Lust und Erfolg an der Finanzierung gewerblicher Immobilien gearbeitet. Als sie nach der Geburt ihrer Tochter eine neue Stelle suchte, vermittelten ihr potenzielle Arbeitgeber, dass sie leider nicht noch jemanden gebrauchen könnten, der immer in den Sommerferien Urlaub braucht. Den Fragebogen für den Berliner Großelterndienst hat sie schon kurz nach Karens Geburt ausgefüllt. Denn sie wollte eine Person, die eine dauerhafte Bindung aufbaut, keinen Babysitter auf Durchreise. Als Karen zweieinhalb war, kam Hannelore, die erste Wunsch-Oma. Nach vier Jahren wurde es ihr körperlich zu anstrengend. Seit Januar hat Karen Ulrike. Ein grünäugiges, hellhäutiges Mädchen und eine Dame mit kurzen Haaren pellen sich in ihrer beider Friedenauer Stammcafé aus ihren Übergangsjacken. Ulrike Faßbender, 64, ist eine Frau mit gestreifter Bluse, Schmuck und Energie; ihr Ermüdungsbruch am Fuß kommt vom Tennis. Sie dirigiert die siebenjährige Karen, mit der sie gerade beim Flötenunterricht war, vor die Kuchenvitrine. „Na, kannst du dich für etwas entscheiden?“
Ulrike Faßbender wuchs in Bocholt auf, eine von vier Geschwistern, rundherum Pferdekoppeln. Der Vater baut eine internationale Spedition auf, aber sie will schon immer Kinderkrankenschwester werden. Als solche zieht sie 1970 nach Berlin, neun Jahre später feiert sie Hochzeit mit einem Arzt.
Sie schätzte sich glücklich, dass sie zu Hause war, nur gelegentlich in der Praxis ihres Mannes half, es wäre sonst kaum zu machen gewesen. Der Sohn musste zum Tennis, die Tochter segelte Regatten. Sechs Wochen war sie für die Europameisterschaft von der Schule befreit – und jedes Wochenende los mit gepackter Tasche. In dieser Familie schreiben sie sich noch immer echte Briefe.
Aber: „Unter jedem Dach ist ein Ach“, sagt Faßbender, geschieden im Jahr 2000. Die Tochter studierte BWL, heiratete einen Italiener und arbeitet jetzt in einem renommierten Hotel in Rom, der Sohn ist Anwalt. Aber Großmutter ist sie durch sie noch nicht geworden.
Und dann hört Karen aufmerksam zu, wie Ulrike in diesen flüssigen, begeisterten Tonfall der Menschen verfällt, die aus der eigenen, glücklichen Kindheit erzählen: Die Großeltern wohnten schräg gegenüber, sonntags nahmen sie die Enkel mit in ein Café mit Spielplatz. Freitags kochten sie Reisbrei. In den Ferien fuhren sie mit ihnen an die See. Für die Kirmes besorgte der Opa von der Bank eine in Papier gewickelte Rolle Groschen, die er an die Kinder verteilte. „Und als die Oma auf der Kirmes mit der Geisterbahn fuhr, hat sie darin ihren schönen Pariser Hut verloren.“
So erzählt sie Karen auch abends am Bett zum Einschlafen ihre eigenen, persönlichen Familiengeschichten. Sie hält Karen, das Großstadt-Einzelkind, auf dem Laufenden, wenn in Bocholt wieder ein Fohlen geboren wird. Es spielt keine Rolle, dass das Fohlen nicht blutsverwandt ist. Das Leben im Gewimmel einer großen Familie ist dem Mädchen so fremd wie ein Märchen. Karen sagt, diese Geschichten hört sie am liebsten immer wieder.
„Kannst du dich erinnern?“, fragt Ulrike. „An die Schlange?“ Und Karen, den Mund voll Kuchen, nickt.
Es war einmal, dass Ulrikes Bruder, da war er schon mindestens zehn, eines Nachts schreiend erwachte: Eine Schlange in seinem Bett! Da stoben alle vier Geschwister aus ihren Decken und tauchten unter die Betten, die Schlange zu suchen. Aber alles Suchen half nichts. Eine Schlange war nirgends zu sehen. Da bemerkte der Bruder, dass er in einem Arm kein Gefühl mehr hatte. Er hatte darauf gelegen und der taube Arm hatte sich angefühlt wie etwas Fremdes, Langes, Kaltes. Wie eine Schlange halt! Karen kichert.
Wie Ulrike Faßbenders Bruder damals der Arm taub wurde, kalt und fremd, so stirbt seit Jahren eine Extremität der Großfamilie ab, die vorher ganz selbstverständlich zum Leben dazugehörte: die Großmutter als rechte Hand der Mutter. Seit Jahren besteht Bedauern über diesen angeblich eingeschlafenen Arm der funktionierenden Großfamilie, diese erkaltete Extremität, die jetzt überall gesucht, aber selten gefunden wird. Aber vermutlich gehört auch diese Erzählung in das Reich der Märchen.
Statistiken sagen etwas anderes: Es warten immer mehr Großeltern sehnsüchtig auf ein spät geborenes Enkelkind. In den Patchworkfamilien fühlen sich für ein Kind mehr als vier Großeltern zuständig. Und die Beziehung zwischen den Generationen – auch im Erziehungsstil – sei so einvernehmlich wie noch nie. Zugleich aber wohnen vor allem in den Städten viele nicht mehr nah bei ihren Eltern. Solvente „Best Agers“ sind nicht mehr mit Kochen und Kinderbetreuung zufrieden. Ob Schröders Vorschlag daran etwas ändern würde? Welche Anreize braucht es, damit sich die Menschen umeinander kümmern?
Man träufelt selbst gekochte Marmelade auf die Brötchen
Es gibt verschiedene Gründe, weshalb Menschen in den Genuss gekommen sind, von Ulrike Faßbender betreut zu werden. Weil sie ein Stockwerk unter ihr wohnten, kümmerte sie sich um die Kinder zweier Schauspieler. Wenn die Eltern auf der Bühne standen, schliefen die Kinder bei ihr ein. Die Eltern holten sie nach dem Schlussapplaus ab.
Weil sie sich einer alten Freundin aus dem Tennisclub nahe fühlt, kauft sie für die inzwischen 96 Jahre alte Dame ein, die heute im Altenheim wohnt.
Und weil sie keine fünf Minuten Fußweg von Karen entfernt lebt, kam ihr ehrenamtlicher Einsatz für ihre Wunschenkelin zustande.
Auf solche Beziehungen bestehen keine Ansprüche, die Verbindungen erfüllen keine formalen Kriterien, dem Staat sind sie nicht schützenswert, und doch sind sie da, weil sie sich so ergeben haben. Sie fußen auf Sympathie und Gelegenheit.
Aber Sympathie und Gelegenheit sind keine Begriffe in der Gesetzgebung. Für den Staat ist es mehr wert, wenn jemand ein eigenes Enkelkind oder eigene Eltern pflegt, als wenn er sich um Freunde oder Bekannte kümmert. Aber vielleicht sind sich manchmal Freunde näher als Eltern und Kinder? Der Staat, der Beziehungen auf diese Art wertet, würde mit einer Großelternzeit in Wahrheit keine neue Regel, sondern eine weitere Ausnahme schaffen, unter der man einem unflexiblen Arbeitsmarkt entfliehen darf.
Helga Krull weiß, dass jeder Einzelfall bis in die Details abgestimmt werden muss, damit eine Beziehung glückt. Sie hat auf ihrem Sofa einen sechsten Sinn dafür entwickelt. Einige Frauen haben eine besondere Vorliebe für kleine Kinder, andere Allergien gegen Haustierhaare. Berufstätige können nur an Samstagen zur Verfügung stehen. Oder der Wille ist da, aber das Stockwerk zu hoch. Einige würden ihre neuen Enkel gerne mit in den Urlaub nehmen, und wenn alle das wollen, können sie das tun. Im Idealfall trifft das Bedürfnis, dass jemand die Tochter vom Flötenunterricht abholt, auf die Möglichkeit, die Tochter vom Flötenunterricht abzuholen. Das ist die Gelegenheit.
Das andere ist die Sympathie. Helga Krull weist darauf hin, wie elementar es ist, dass Großeltern die Erziehung der Eltern nicht unterlaufen. Mögen sie die Mutter nicht, wird es auch mit der Beziehung zum Enkel nichts. Denn ein Kind, sagt sie, spüre das Missfallen und gerate auf lange Sicht in Bedrängnis zwischen zwei Vertrauenspersonen.
Mütter, sagt sie, blenden beim ersten Kennenlernen negative Gefühle oft aus, weil sie so verzweifelt auf Hilfe angewiesen sind. Die Helferinnen ignorieren manchmal ein schlechtes Gefühl, weil sie es gewohnt sind, ihr Leben als Pflicht zu begreifen. Die Ingenieurin für Schiffbau hat nun mit einer Generation Frauen zu tun, die sich selbst oft hintangestellt hat. Die möchte sie ermutigen, auf sich selbst zu hören. „Es geht auch darum, ehrlich zu sich selbst zu sein.“
Für all dies muss noch niemand seine Arbeit niederlegen. Es ist mit sehr viel weniger Kosten und Aufwand verbunden, wenn sich die Nachbarin nebenbei um ein Kind kümmert, als wenn an einem anderen Ort irgendwo in Deutschland eine Großmutter mit verwandten Genen und staatlicher Berechtigung ihren Job aufgibt, um ihre Kinder zu entlasten.
Dass der Berliner Großelterndienst, der seit 23 Jahren stetig wächst, mit seiner Lösung einen gesellschaftlichen Nerv getroffen hat, sieht man an der bundesweiten Nachfrage. Helga Krull erhält Anfragen aus ganz Deutschland. Man wolle ebenfalls einen Dienst aufbauen, worauf zu achten sei? Helga Krull wurde als Expertin in den Bundestag eingeladen, als es um die Umgangsrechte von Großeltern bei der Trennung der Eltern ging.
„Ulrike ist tagtägliche Überlebenshilfe“, sagt Meike N. heute. Erst sollte sie Karen nur vom Flötenunterricht abholen, inzwischen bringt sie sie auch zu Bett. „Karen erzählt Ulrike abends andere Sachen als mir“, hat sie bemerkt. Wenn mal jemand anders auf sie aufpassen soll, fragt sie: „Warum kommt Ulrike nicht?“ Die Wunschgroßmutter ist für Karen eine echte Vertrauensperson geworden. Es sieht so aus, als erwüchse auch hier aus einer Summe scheinbar banaler Handlungen am Ende für ein Kind etwas Bedeutendes, Prägendes.
„Ich muss meinen Frauen den Rücken stärken, die neigen ja dazu, zu viel zu machen“, sagt Helga Krull. An einem Donnerstagmorgen strömen die Wunschgroßeltern in das Schöneberger Büro, es ist für das monatliche Frühstück gedeckt. Man träufelt selbst gekochte Marmelade auf die Brötchen. Die Kaffeekannen kreisen. Am gedeckten Tisch sitzt eine ehemalige Alleinerziehende, die jetzt einer anderen helfen will. Da ist ein Paar, das sich dreimal die Woche kümmert, ohne sich ausgenutzt zu fühlen. Müssen Großeltern eigentlich zur Grippeimpfung?, wird gefragt. Ist es normal, dass ein Kind bei der Verabschiedung im Kindergarten so viel weint?
Helga Krull hat auch eine Verantwortung für diese Helfer. Immer mal wieder muss sie erklären, dass der Großelterndienst keine Familienhilfe ist. Putzen und aufräumen, sagt sie ihren Frauen, ist nicht Ihre Aufgabe. Sie rät ihnen dann: „Wenn Sie den Schmutz nicht ertragen können, ist es für Sie die falsche Familie.“ Auch dem Jugendamt, das sich gerne auf das Ehrenamt verlässt, erklärt sie das hin und wieder. Einmal im Jahr im September beantragt sie beim Senat ihre eigene Stelle neu.
90 Prozent der Alleinerziehenden in Deutschland sind Frauen. Wenn die abends ihr Armutsrisiko ins Bett gebracht haben, träumen sie von einer Großmutter.
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