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Politik: Die Freiheit, sonst nichts

Von Sebastian Bickerich

Budapest strahlt in allen Farben des Herbstes an diesem herrlichen Oktobertag. Niemand ahnt, dass dieser Tag, der 23. Oktober 1956, Ungarn und die Welt verändern wird. Zwei Demonstrationszüge ziehen durch die Stadt, um sich mit polnischen Arbeitern zu solidarisieren, die sich in Posen gegen die stalinistische Führung erhoben hatten. Im Februar, mehr als ein halbes Jahr zuvor, hatte der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow mit seinem Vorgänger Stalin abgerechnet und damit einen ungeheuren Freiheitsdrang in Osteuropa ausgelöst.

Schnell weiten sich die Kundgebungen in Budapest zu einem Volksaufstand gegen die sowjetische Besatzungsmacht aus, schnell gerät die Herrschaft der Stalinisten ins Wanken. 13 Tage währt der ungarische Traum von Demokratie und Freiheit, 13 Tage die Regierungszeit des Imre Nagy, jenes Ministerpräsidenten, dessen knarzende Radioansprache im Angesicht der Niederlage sich ins Gedächtnis Ungarns und der Welt eingebrannt hat: „Hier spricht Ministerpräsident Imre Nagy. Sowjetische Truppen haben im Morgengrauen zu einem Angriff auf unsere Hauptstadt angesetzt... Unsere Truppen stehen im Kampf. Die Regierung ist auf ihrem Platz. Ich bringe diese Tatsachen der Ordnung halber unserem Land und der ganzen Welt zur Kenntnis.“ 2500 Menschen lassen in den folgenden Tagen ihr Leben, 12 000 wurden bei den Kämpfen mit der russischen Invasionsstreitmacht verletzt, 200 000 Ungarn verlassen später ihre Heimat.

Wenn das offizielle Budapest heute der Revolution gedenkt, wird das ein Trauerspiel. Die Konservativen, die seit Wochen den Sturz des sozialistischen Lügenpremiers Ferenc Gyurcsany fordern, sehen den nationalen Befreiungskampf von 1956 als noch nicht abgeschlossen, sehen die gleichen Verräter von damals an der Macht – „Verräter“, gegen die sie sich in einer demokratischen Wahl nicht durchsetzen konnten. Die Sozialisten tun ihrerseits das Beste, um die Feierlichkeiten als Beweis ihrer Regierungsfähigkeit darzustellen, nach den durch ein inkriminierendes Tonband öffentlich gewordenen Wahlkampflügen ihres Ministerpräsidenten. So ist Ungarn ausgerechnet im 50. Jubiläumsjahr des Aufstands gespalten wie nie. Und glaubt man dem Schriftsteller Peter Esterhazy, dann hat das Land die Erinnerung an 1956 sogar schon wieder verloren – sie ist nunmehr bloß eine „parteipolitische Beute“.

Doch die Erinnerung an 1956 ist mehr als innenpolitisches Gezänk. Es ist die Erinnerung an ein Weltereignis, an ein Beispiel für Zivilcourage – und an ein Ereignis, das uns Deutschen auf lange Sicht die Einheit erst möglich machte. In all den Wirren dieses zweiten großen Schicksalsjahres 1989 gerät es ja nur allzu leicht in Vergessenheit: Es war Ungarn, das in Erinnerung an die Ereignisse von 1956 im Mai 1989 den elektrischen Zaun des „Eisernen Vorhangs“ abschaltete und auf Flüchtlinge nicht mehr schoss. Es war Ungarn, das im Juni 1989 den Stacheldraht durchschnitt und die Grenzen für DDR-Bürger öffnete.

Viel wird in diesen Tagen über das Erbe dieser Revolution gestritten, nicht nur in Ungarn. Hätten die Revolutionäre siegen können? Wurden sie damals von den USA, die Tag für Tag über ihre Propagandasender Durchhalteparolen ausgaben, instrumentalisiert? Waren es England und Frankreich, die die Ungarn verraten haben, als sie inmitten der Budapester Revolutionstage die Suezkrise entfachten? Es ist müßig, heute darauf Antworten finden zu wollen. Was bleibt, ist etwas anderes: der Kampf eines kleinen Volkes gegen eine Supermacht, „für die Freiheit und sonst nichts“, so hat die Philosophin Hannah Arendt es genannt.

Der Aufstand im Oktober 1956 war die größte Herausforderung der sowjetischen Macht in Osteuropa – und zugleich ein weithin sichtbares Zeichen für den Bankrott des Kommunismus. Er war eine siegreiche Niederlage, ein unvergängliches Kapitel aus der Geschichte menschlichen Mutes. Das ist es, was nicht nur in Ungarn bleibt: die Gewissheit, im Kampf um Demokratie und Freiheit auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Eine Gewissheit, die uns auch heute noch ein Beispiel ist.

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