Ernährungsprobleme: Die fetten Jahre fangen erst an
Studien belegen: Die Ernährungsprobleme werden weltweit größer. Helfen kann nur noch die Politik. Dafür sollte sie auf die Taktik der Multis setzen. Ein Kommentar.
Die Woche begann mit einem Lösungsversuch, doch sie ging mit einer Verschärfung der Probleme weiter. Die schwedische Akademie der Wissenschaften findet das „Nudging“ so faszinierend, dass sie seinem Erfinder Richard Thaler den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften verleiht. Nudging, das Anstupsen, könnte auch etwas zur guten Ernährung beitragen. Und welche Probleme dabei größer werden, verdeutlichte der weitere Verlauf der Woche.
Es müssen wieder mehr Menschen hungern, gleichzeitig nimmt die Zahl der dicken Kinder weltweit zu. Das zeigen der Welternährungsindex einerseits und eine Studie der Weltgesundheitsorganisation andererseits. Nur auf den ersten Blick ist das paradox. Ein Teil des Welthungers lässt sich vor allem mit klimatischen Ursachen und bewaffneten Konflikten erklären. Es gibt auch Länder wie die Zentralafrikanische Republik, die es als gescheiterte Staaten noch nicht einmal hinbekommen, Nahrungsmittelspenden gut zu verteilen. Bei solchen politischen Desastern helfen nur komplexe Lösungen.
Doch auch andere Entwicklungen haben ihre Gemeinsamkeiten. Das Gewicht von Kindern steigt nicht nur in den Industrieländern, auch in Schwellenländern wie China, Brasilien, Indien nimmt die Zahl der übergewichtigen Kinder zu. In einem Land wie Indien bestehen so Hunger und Übergewicht nebeneinander. Ein globaler Lebensmittelgigant macht inzwischen mehr als 40 Prozent seines Umsatzes in Entwicklungs- und Schwellenländern.
Lebensmittelmultis ruinieren mit ihren Produkten regionale Esskultur
Was auf den Tisch kommt, wird in vielen Ländern immer ähnlicher, und genau darin liegt ein Teil des Problems. Die Märkte werden geflutet mit industriell verarbeiteten Lebensmitteln, die oft zu süß, zu salzig und zu fettig sind. Dafür sind sie billig und leicht zuzubereiten. Sie sind oft am besten verpackt, am aufwendigsten beworben und am intensivsten mit heißer Imageluft aufgepustet.
Die Lebensmittelmultis verteidigen ihre Expansion bisweilen damit, dass sie dazu beitrügen, die Weltbevölkerung überhaupt erst satt zu bekommen. In Wirklichkeit erzeugen sie jedoch einen massiven Umbau der lokalen Landwirtschaften. Wenn erst mal Bauern ihre Arbeit eingestellt haben, Menschen in Städte gezogen sind, wird es schwer, diesen Prozess noch einmal rückgängig zu machen. So gehen Möglichkeiten zur Eigenversorgung verloren und mit ihr die regionale Esskultur.
Dafür wächst der Anteil an Fertigprodukten und Fast Food. Es belegt den Megatrend, den der Soziologe Andreas Reckwitz für das 21. Jahrhundert nennt: Der Westen verliert politisch an Einfluss, gewinnt aber als Lebensstil an Bedeutung. Es gehört in Ländern wie Ghana zum Statussymbol, bei einer internationalen Fast-Food-Kette essen zu gehen. So entstehen neue gesüßte und frittierte Gewohnheiten.
Nudging kann der Politik helfen, bei der Ernährungspolitik mehr zu erreichen
Bewegungsmangel durch zu viel Sitzen vor Bildschirmen ist eine zentrale Ursache für Übergewicht – übermäßiger Konsum von bestimmten Nahrungsmitteln eine andere. Ein Ansatz zur besseren Ernährung könnte nun das Nudging sein, also das gewollte Verändern von Verhaltensweisen durch gezielte Impulse. In diesem Fall das sanfte Lenken der Menschen hin zu gesünderem Essen. Dazu bedarf es jedoch erst einmal einer Verständigung: Darf die Politik eingreifen? Bevormundet sie dadurch nicht und vernichtet Freiheiten?
Nudging gibt es jetzt schon. Nur nutzt es vor allem die Wirtschaft. Die prominente Platzierung von Lebensmitteln mit schlechter Ernährungsbilanz, aber grandioser Gewinnspanne in Supermärkten ist nur ein Beispiel dafür. Warum soll allein der profitorientierten Wirtschaft erlaubt sein, was der auch am Gemeinwohl orientierten Politik nicht gestattet sein soll? Muss die Politik einfach zusehen, wie die Gesundheitsbilanz der Bevölkerung im Glukosesirup und Palmöl absäuft? Von Auswirkungen auf die Natur ganz zu schweigen. Die Entwicklung zum Übergewicht hat noch kein Ende gefunden und besorgniserregend sind auch die Fälle von Diabetes Typ 2. Für die immer weiter steigenden Gesundheitskosten müssen Steuer- und Beitragszahler geradestehen. Ist das gerecht?
Es gibt verschiedene Handlungsoptionen für die Politik, um mehr zu erreichen. Sie kann flächendeckend eigenes Nudging betreiben, etwa in Schulkantinen die gesunden Lebensmittel vorne platzieren, die anderen hinten oder gar nicht. Sie kann für Nudging im Privaten werben, darüber aufklären, dass Kinder zum Beispiel eher Obst essen, wenn es schon klein geschnitten ist. Sie kann Werbung für Süßwaren verbieten, die sich vor allem an Kinder richtet. Die Nährstoffampel mit roten Signalen für zu viel Zucker, zu viel schlechtes Fett und zu viel Salz wird sicher auch noch einmal diskutiert.
Und die Politik kann sich an der Preisgestaltung beteiligen. Anstatt die afrikanischen Märkte mit subventionierten europäischen Produkten zu beherrschen, könnte Europa dort Kleinbauern unterstützen und in den eigenen Ländern gute Lebensmittel stärker fördern. Anlässe zum Debattieren und Entscheiden gibt es genug, den nächsten großen am Montag – dem Welternährungstag.
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