Inflation in den USA und in Deutschland: Die EZB vergibt mit ihrem Nicht-Handeln eine Chance
Anders als die US-Notenbank läuten die Europäer keine Zinswende ein. Das könnte gründlich schief gehen. Ein Kommentar.
Die Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) war am Donnerstag voller Spannung erwartet worden. Während die Inflation in Deutschland mit 5,2 Prozent auf den höchsten Stand seit den frühen 1990er Jahren liegt, hatten sich viele Beobachter ein entschiedenes Signal für ein Ende der lockeren Geldpolitik gewünscht. Zumal die US-Notenbank Fed am Tag zuvor die Weichen für eine Zinswende eingeläutet hatte. Die EZB hätte das Signal für eine Rückkehr zum Vorkrisenmodus auch in Europa geben können. Doch dann passierte: nichts.
Oder zumindest: zu wenig. Denn was die Notenbanker verkündeten – den Ausstieg aus dem Anleihenkaufprogramm PEPP, das als Corona Hilfsprogramm ins Leben gerufen worden war – ist erstens schon mehr oder weniger zuvor kommuniziert worden und zweitens das Minimum dessen, was angesichts der Inflationsraten nötig wäre. Vom Ende anderer Kaufprogramme war keine Rede; im Gegenteil, sie werden sogar erhöht. Und von der Anhebung des Leitzinses erst recht nicht.
Ein Blick in die USA hätte Warnung sein können
Dabei hätte ein Blick in die USA nicht nur Vorbild, sondern auch Warnung sein können. Denn hier droht die Inflation außer Kontrolle zu geraten. Fed-Chef Jerome Powell hat längst eingestanden, dass er mit diesen Teuerungsraten von fast sieben Prozent nicht gerechnet hatte. Und eine Spirale aus Preis- und Lohnsteigerungen, die immer wieder zu höheren Forderungen auf beiden Seiten führt, ist dort bereits absehbar. Lang darf die EZB nicht mehr warten, um eine solche Entwicklung in Europa zu verhindern.
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Hinzu kommt, dass auch die Börsen die Inflation längst als reale Gefahr erkannt haben und nicht mehr nur auf das billige Geld aus sind. Das zeigt die Reaktion der Märkte auf die beiden Notenbank-Entscheidungen der vergangenen Tage: Nach der geldpolitischen Straffung der Fed machten alle großen Indizes einen Sprung nach oben; nach dem „Weiter-so“ der EZB war an den europäischen Börsen kaum eine Reaktion zu spüren.
Auch die nötigen öffentlichen Investitionen nach der Coronakrise wären bei einer weniger lockeren Geldpolitik zu stemmen. Erst am Mittwoch hatte die Bundesfinanzagentur mitgeteilt, dass auch 2022 mehr als 400 Milliarden Euro von privaten Investoren geliehen werden sollen. Dass die EZB als Abnehmer der Anleihen wegen des möglichen Endes der Kaufprogramme wegfallen würde, wäre kein Problem, hieß es weiter. Im Gegenteil: Für die freie Handelbarkeit der Bundeswertpapiere könne es sogar von Vorteil sein, wenn dieser große Käufer kürzer trete.
Die EZB hat nur ein Interesse
All das interessiert die EZB allerdings – zumindest formell – relativ wenig. Ihr Auftrag ist es, die Geldwertstabilität zu sichern. Dass die Börsen nicht abstürzen und die Konjunktur wieder läuft ist dafür zwar elementar, aber eben nur mittelbar Teil des Abwägungen der Notenbanker. Sie blicken lieber auf die mittelfristigen Inflationsraten, denn daran werden sie gemessen.
Und solange ihre Prognosen von einer Teuerungsrate von 1,8 Prozent im Jahr 2023 ausgehen und damit schon in absehbarer Zeit wieder unter dem erklärten Ziel von zwei Prozent liegen, wird im Hochhaus in Frankfurt kein akuter Handlungsbedarf gesehen. Aus Sicht von EZB-Chefin Christine Lagarde wäre das Jahr 2021 dann nur ein kurzer Ausreißer, der dazu beiträgt, dem gewünschten Ziel wenigstens etwas näher zu kommen. Denn das hatte die EZB seit Jahren konsequent verfehlt.
Allerdings könnte es auch Lagarde misstrauisch stimmen, dass nicht nur ihr Kollege Powell in den USA seine Inflationsprognosen immer weiter nach oben korrigieren musste. Auch die EZB hob die Vorhersagen für die kommenden Jahre an. Das zeigt, dass die Preissteigerungen ohne aktives Gegensteuern eine Eigendynamik entwickeln können, die immer schwerer aufzuhalten sein wird. Diese Woche wird deshalb aus geldpolitischer Sicht als vergebene Chance in Erinnerung bleiben.