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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (links) bedankt sich am Wahltag bei seinen Unterstützern.
© AFP

Europa, die Türkei und die Grenzen der Moral: Die Europäische Union wird Erdogan hofieren

Die Wahl in der Türkei war fragwürdig. Doch zur Kritik ist die EU nicht bereit. Sie wird stattdessen Präsident Erdogan politisch aufwerten, weil sie ihn in der Flüchtlingskrise braucht. Ein Kommentar.

Ist Europa erpressbar? Nach der in vielen Aspekte fragwürdigen Wahl in der Türkei wird die Europäische Union nichts von dem tun, was sie tun müsste, wenn es allein nach ihren Werten ginge. Sie wird Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht kritisieren, sondern hofieren, obwohl sein Machtapparat den Wahlausgang mit unlauteren Mitteln beeinflusst hat.

Und zwar so: Missliebige Medien wurden mundtot gemacht. Parteianhänger seiner AKP steckten Büroräume der Opposition in Brand und behinderten deren Wahlkampf.

Erdogan provozierte neue Kämpfe mit der militanten Kurdenorganisation PKK, um die Glaubwürdigkeit der friedfertigen Kurdenpartei HDP zu untergraben und sie nach Möglichkeit unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken. Das alles mit dem Ziel, eine verfassungsändernde Mehrheit zu erreichen und ein auf ihn ausgerichtetes Präsidialsystem einzuführen. Im Juni hatte das nicht geklappt. Also mussten die Bürger erneut abstimmen, bis es ihm passte.

Deutschland und die EU brauchen die Türkei als Partner

Das ist undemokratisch und verlangt nach Missbilligung. Eigentlich. Doch sind dazu weder Deutschland noch die EU bereit. Denn sie brauchen die Türkei als Partner: Erdogan hat es in der Hand, ob die Zahl der Flüchtlinge beherrschbar bleibt oder deutlich anwächst, was wiederum den Zusammenhalt Europas infrage stellen würde – willkommen in der Welt der Realpolitik. Das eigene Überleben ist der krisengeschwächten EU näher als die türkische Demokratie.

Vielen wird das gegen den Strich gehen. Auch dem Teil der in Deutschland lebenden Türken, die auf europäische Unterstützung für ihr Ziel einer Modernisierung der Türkei hoffen. Diese schonungslose Güterabwägung ist aber richtig. Würde die EU den Konflikt mit Erdogan jetzt offen austragen, säße sie nicht am längeren Hebel, jedenfalls nicht kurzfristig und im aktuellen Schwächezustand.

Bei allen demokratischen Mängeln hat Erdogan etwas zu bieten, was der EU einiges wert ist und sie nicht leisten kann: die Kontrolle des Flüchtlingszahlen. Und sei die auch begrenzt.

Die Türkei gibt hunderttausenden Syrienflüchtlingen in Lagern Zuflucht, weitere ein bis zwei Millionen schlagen sich in der Türkei auf eigene Faust durch. Griechenland ist nicht in der Lage, eine Massenmigration über die türkisch-griechische Grenze einzudämmen, Bulgarien auch nicht. Die Türkei mit ihrem großen Militärapparat kann das schon eher. Vor allem aber schafft die Regierung das Klima, in dem muslimische Flüchtlinge dort bleiben. Sieben Milliarden Euro gibt Ankara dafür angeblich pro Jahr aus. Die EU wird entsprechend helfen, damit das so bleibt.

Sie wird Erdogan politisch aufwerten, wird die stockenden Beitrittsgespräche wieder aufnehmen und die Visapflicht für Türken zwar nicht abschaffen, doch für Geschäftsreisende und Wissenschaftler lockern. Auch das hat sich die Türkei nicht durch Modernisierung verdient. Der Fortschrittsbericht, den die EU vor der Wahl zurückhielt, enttäuscht.

Es ist Realpolitik; und es ist eine Chance, wieder Einfluss zu nehmen. Erpressbar wäre die EU erst, wenn sie die Beitrittsbedingungen aufweichen würde. So weit wird es nicht kommen. Mehrere EU-Staaten würden da nicht mitmachen. Erdogan strebt den Beitritt zur EU auch gar nicht mehr an. Er sieht sich als Oberhaupt einer aufstrebenden Regionalmacht, die sich nicht einordnet, sondern auf Augenhöhe redet: mit den USA, mit Russland und Europa.

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