Ursula von der Leyen: "Die Europäer müssen mehr Verantwortung übernehmen"
Die Verteidigungsministerin fordert in einem Beitrag für den Tagesspiegel, dass sich Europa stärker engagieren müsse. Die Nato könne sich nicht um alles kümmern.
Ein Jahr lang dauerte der Wahlkampf in den USA. Ein Medienereignis ersten Ranges. Und trotzdem hat nicht nur die Tatsache, dass Donald Trump gesiegt hat, viele überrascht. Sondern auch die Feststellung, wie wenig wir über sein politisches Programm als Präsident bisher wissen, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Das hat Gründe: Zum einen war Trump ein untypischer Kandidat. Zwar wurde er von der Republikanischen Partei nominiert. Doch weder ließ er sich in ihre Strukturen einbinden, noch berief er sich auf ihre traditionelle Programmatik. Zum anderen war es ungewöhnlich, dass er und sein Team nicht von sich aus die Tuchfühlung mit Vertretern aus den Reihen der verbündeten Staaten suchten. Die engen, seit Jahrzehnten bestehenden guten Kontakte zwischen den Republikanern und der Bundesregierung und den deutschen Parteien kamen nicht zum Tragen.
Erste Analysen haben sich auf jedes seiner Worte aus dem Wahlkampf gestürzt. Doch ist es wichtig, den Theaterdonner erst einmal verklingen zu lassen. Nicht umsonst kennt die amerikanische Politik deswegen eine mehrmonatige Übergangszeit vor der Vereidigung. Diese Zeit werden nun alle nutzen, um sich kennenzulernen und ins Gespräch zu kommen. Dabei muss es uns vor allem auch darum gehen, der neuen Regierung in Washington unsere Standpunkte und Vorstellungen darzulegen und für sie zu werben.
Themen gibt es genug. Denn die sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit denen wir diesseits und jenseits des Atlantiks fertig werden müssen, sind zahlreich. Die USA und Europa sind gefordert wie lange nicht, unsere Werte und unsere Freiheit gemeinsam zu verteidigen. Diese Perspektive schweißt ebenso zusammen wie die Erfahrung von Jahrzehnten engster Zusammenarbeit. Das überbrückt auch kurzfristige Unsicherheiten angesichts der Staffelübergabe im Weißen Haus.
Wir müssen den USA darlegen, dass wir für die gemeinsame Sicherheit relevant sind
Klar ist, dass wir Europäer der neuen US-Administration werden darlegen müssen, dass wir für die gemeinsame Sicherheit relevant sind und sein wollen. Hier ist durchaus Nachholbedarf. Zwar verfügt Europa über großen wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss. Aber auf dem Feld der Sicherheit sind wir bei Weitem noch nicht so handlungs- und entscheidungsfähig, wie wir sein könnten. Darum sind wir schon vor der Wahl in den USA initiativ geworden, damit wir Europäer uns in den nächsten Jahren sicherheitspolitisch besser organisieren – aus eigenem Interesse und auch weil die USA schon seit Längerem fordern, dass die Lasten in der Nato fairer auf die Schultern aller Mitgliedstaaten verteilt werden. Dabei bleibt das Engagement der USA für die gemeinsame Sicherheit auch künftig unverzichtbar. Sie sind der mit Abstand stärkste Pfeiler in der Nato, unserer Allianz, die ihre Festigkeit in unserer Wertegemeinschaft und der unbedingten gegenseitigen Verlässlichkeit findet.
Zugleich wissen wir Europäer auch: Die Nato kann sich nicht um alle Aspekte unserer Sicherheit kümmern. Wir müssen mehr Verantwortung für die Probleme in unserer unmittelbaren Umgebung übernehmen. Ein Blick auf Afrika zeigt uns dies deutlich: Die Bevölkerung auf unserem Nachbarkontinent wächst rasant. Doch die wirtschaftliche Entwicklung hält damit keineswegs Schritt. Kampf um Arbeit, Nahrung, Wasser ist vorprogrammiert. Zugleich ist die politische Lage in vielen Regionen instabil und voller Konflikte. Diese Probleme lösen sich nicht von allein. Und die betroffenen Menschen suchen über kurz oder lang ihr Heil vor Hunger oder Gewalt, Bürgerkriegen und Terror in der gefährlichen Flucht nach Europa. Deswegen ist Europa gefordert, sich zu engagieren: in unserem eigenen Interesse.
Wir haben als Europa eigentlich beste Voraussetzungen, um wesentlich mehr Effizienz zu entwickeln. Die Europäische Union kann traditionell auf einen breiten wirtschaftlichen und humanitären Instrumentenkasten zurückgreifen. Aber ihre militärischen Fähigkeiten sind schwach und wenig strukturiert. Damit schaffen wir es nicht, unsere eigentliche Stärke, das wirksame Bündeln ziviler und militärischer Maßnahmen, voll zur Geltung zu bringen – und zwar nicht in Konkurrenz, sondern in Ergänzung zur Nato.
Einen solchen Instrumentenkasten setzen wir als Deutsche schon in Afrika ein, etwa in Mali. Wir bilden nicht nur die Streitkräfte und Polizei aus, sondern sichern den Friedensvertrag mit unseren Soldaten in einer Mission der Vereinten Nationen, wir investieren in Straßen, Landwirtschaft oder Sanitärversorgung. Wir beraten die Regierung und finanzieren Versöhnungsarbeit.
Europa braucht neue Fähigkeiten - gerade in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Europa kann in weit größerem Maßstab wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung von Sicherheit miteinander verbinden, wenn wir es dazu in die Lage versetzen.
Wir Europäer müssen jetzt die richtigen Weichen stellen: unsere Instrumente besser koordinieren, effizienter werden beim Einsatz unserer Ressourcen, schneller in unseren Entscheidungen. Und es braucht neue Fähigkeiten. Gerade im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Um eines geht es dabei ganz sicher nicht: um eine Europäische Armee oder um eine Konkurrenz zur Nato. Nein, es geht um die Bildung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungsunion, in der wir unsere zivilen Kräfte und Streitkräfte klug aufeinander abstimmen und nutzen. Die Diskussion darüber hat begonnen. Das Verständnis, dass Europa etwas tun muss, ist unter den Mitgliedstaaten der EU so groß wie nie. Dieses Momentum sollten wir Europäer nutzen. Es geht um unseren politischen Willen zur gemeinsamen Relevanz.
Die Präsidentenwahl in den USA erzeugt immer weltweite politische Aufregung. Wir werden in den kommenden Monaten nun Stück für Stück erfahren, was Trump vorhat. Wir – als Europäer und als Deutsche – sollten ihm mit begründetem Selbstbewusstsein und auch mit Neugierde die Hand zur Kooperation reichen. Ich freue mich, sicher schon bald meine neue Kollegin oder meinen neuen Kollegen kennenzulernen. Es gibt viel zu bereden – doch wir fangen zum Glück nicht bei null an.
Ursula von der Leyen ist seit 2013 Bundesministerin der Verteidigung.