zum Hauptinhalt
Für die Türkei und für Deutschland: Helferinnen verteilen vor dem Beginn der Kundgebung Fahnen.
© dpa

Türkei und Deutschland: Die Erdogan-Demo zementiert das Freund-Feind-Denken

Für die einen ist Erdogan ein Diktator, für die anderen ein Opfer: Deutsche und Türken denken nur noch in Schwarz und Weiß übereinander. Die Demo macht das nicht besser. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Claudia Keller

A m Sonntag sind in Köln 30 000 bis 40 000 türkischstämmige Menschen für Demokratie auf die Straße gegangen. Zu anderen Zeiten wäre das ein erfreuliches Ereignis. Nun waren viele außerhalb der türkischen Community nur darüber froh, dass es etwas weniger Demonstranten waren als erwartet und dass es friedlich blieb. Das Motto der Demo lautete „Ja zur Demokratie – Nein zum Staatsstreich“. Doch weil die Kundgebung von der Union Europäisch-Türkischer Demokraten organisiert worden war, einer Lobbyorganisation der türkischen AKP, galt sie von vornherein als Propagandaveranstaltung für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Wer das Meer roter Türkei-Fahnen gesehen hat, konnte sich bestätigt fühlen.

Einige Demonstranten hatten zwar auch deutsche Flaggen mitgebracht oder eine deutsche und eine türkische. Doch das ging unter, wie so vieles in der Wahrnehmung zwischen Deutschen und Türken zurzeit unterbelichtet bleibt. So wird wohl auch der gestrige Sonntag das Schwarz-Weiß-Denken weiter zementieren.

Erdogan führt die Türkei in die Diktatur. So sehen das sehr viele Menschen in Deutschland und Europa. Für sie ist alles, was aus Ankara oder Istanbul kommt, wie mit einem Virus infiziert, mit dem Erdogan-Virus, und deshalb suspekt. Auch die Nachbarn mit Wurzeln in der Türkei werden zunehmend unter Generalverdacht gestellt.

Wir sind Opfer eines Putschversuchs und müssen uns wehren. Europa hat viel Glaubwürdigkeit verspielt (Flüchtlingspolitik) und paktiert mit unseren Feinden (Gülen). Das denken viele Menschen in der Türkei und viele ihrer Verwandten in Deutschland – und stellen ihrerseits Nachbarn, Politiker und Journalisten unter Generalverdacht.

Seit zwei Wochen prallen die unterschiedlichen Wahrnehmungen immer unvermittelter aufeinander. Es scheint nur noch Freund oder Feind zu geben. Der Raum für Grautöne und Differenzierungen wird von Tag zu Tag kleiner – und damit der Raum für Politik. Das ist erschreckend und gefährlich.

Dagegen helfen vielleicht ein paar Erkenntnisse, die nicht neu sind, an die man aber trotzdem immer wieder erinnern muss. Erstens: Nicht alle Türken, die den Putschversuch verurteilen, sind Erdogan-Fans. Zweitens: Die drei Millionen türkischstämmigen Deutschen sind nicht Erdogans fünfte Kolonne, auch wenn tausende gerade für ihn demonstriert haben. Drittens: Erdogan wurde demokratisch gewählt. Viertens: In Deutschland ist es schwer zu verstehen – doch vielen von Putschen gebeutelten Türken erscheint die politische Stabilität unter einem autokratischen Herrscher als kleineres Übel gegenüber einer wackligen Demokratie. Das muss man akzeptieren. Fünftens: Erzwungene Loyalitätsbekenntnisse zu Deutschland stärken die Solidarität mit der Türkei. Sechstens: Wer die Türkei aufgibt, hat die Auseinandersetzung mit Erdogan schon verloren.

Wer auf der anderen Seite des Grabens steht, sollte sich vor Augen führen: Wenn Deutsche Erdogan kritisieren, heißt das nicht automatisch, dass sie ihre türkischen Nachbarn hassen. Zweitens: Die Politik muss zu Recht fragen, welche Inhalte Imame vermitteln, die von Ankara finanziert werden. Drittens: Auch Angela Merkel muss gerade viel einstecken. Viertens: Wer hier lebt und Deutschland aufgibt, wird schizophren.

Zur Startseite