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Politik: Die Dimensionen des Papstes

NEUNTE POLENREISE

Von Christoph von Marschall

Hoffen die Menschen auf ein Wunder? Mehr als zwei Millionen sind gestern nach Krakau geströmt, um eine Messe mit dem Papst zu feiern. Er hat ja ein Wunder vollbracht, ihr Johannes Paul II. Seine Wahl 1978, seine ersten Polenreisen 1979, 1983 und 1987 – sie gaben seinen Landsleuten den Mut, die Solidarnosc zu gründen, die erste freie Gewerkschaft im Ostblock, und auch nach deren Verbot, trotz Kriegsrechts, weiter aufzubegehren. Es war der Anfang vom Ende des Kommunismus und des sowjetischen Imperiums.

Nun ist der Heilige Vater alt geworden und gebrechlich. Er sitzt zusammengesunken da, seine Worte sind zum Teil schwer zu verstehen. Doch jeder Auftritt in diesem Zustand scheint seine Anziehungskraft noch zu steigern. Nicht nur in Polen, nicht nur bei den Älteren, die seine historische Rolle persönlich erlebt haben. Zum Weltjugendtreffen mit ihm in Kanada kam eine halbe Million Jugendliche; sie haben ihn nie anders gekannt als gezeichnet vom Attentat und der Parkinson-Krankheit, auch im Leiden ganz der Stellvertreter Christi auf Erden. Irgendetwas an ihm müssen sie wunderbar finden. Vielleicht, dass er auch mit 82 Jahren unbeirrbar seinen polnischen, päpstlichen Weg geht? Wie er sich dem Zeitgeist entgegenstellt mit den Selig- und Heiligsprechungen längst Verstorbener und dem Appell, ganz auf die göttliche Barmherzigkeit zu vertrauen?

Sie jubeln ihm zu. Und doch ist dies kein unbefleckter Triumphzug. Er hat Polen die Freiheit gebracht, aber nicht die Freiheit, die er meinte. Für viele auch nicht die Freiheit, die sie erhofft hatten. Vielleicht ist er deshalb so zurückhaltend mit Äußerungen zu Polens EU-Beitritt, den er doch grundsätzlich unterstützt. In den Predigten dieser vier Tage erinnert er an die Menschen, die keine Arbeit haben und keine Perspektive, denen die menschlichen Kosten der Wende zur Marktwirtschaft aufgebürdet werden, die auf ein Wunder hoffen müssen. Oder auf die Barmherzigkeit ihrer Mitbürger.

Auch Polen ist von der Säkularisierung erfasst. Die Losungen auf den Fahnen – totus tuus (ganz Dein) und Polonia semper fidelis (Polen immer treu) – gelten dem Papst, nicht seinen Geboten. Das ist die Kehrseite seiner Popularität und wundersamen Wandlung zum Popstar, nach 98 Reisen weltweit. Womöglich glauben heute mehr Leute an den Papst als an Gott, nicht nur in Polen.

Es sei seine letzte Reise, will der deutsche Boulevard herausgefunden haben. Er werde in der Heimat seinen Rücktritt erklären, behaupten französische Blätter. Sie werden sich noch wundern. Gewiss, bei vielen Stationen dieses Besuchs schwingt ein Hauch von Abschied mit, von Rückblick: Er wohnt noch einmal in den Räumen, die von 1964 bis 1978 die seinen waren, als Erzbischof von Krakau; man hat sie unverändert gelassen. Er geht in die Chemiefabrik Solvay, wo er unter deutscher Besatzung arbeiten musste, während er sich heimlich zum Priester ausbilden ließ. Und zum Grab der Eltern. Die letzte Messe liest er in Kalwaria Zebrzydowska, wohin er in seiner Jugend mit dem Vater pilgerte. Und sieht seinen Geburtsort Wadowice wieder, wenn auch nur aus dem Helikopter.

Andererseits: Die Heimatluft hat an Karol Wojtyla ein kleines Wunder vollbracht. Das Flugzeug konnte er auf eigenen Füßen verlassen, ohne Hebebühne. Seine Stimme klingt fester als sonst. Plötzlich kann man es glauben, dem Krankenbild zum Trotz: dass er, wie geplant, Kroatien besucht, die Philippinen – und vielleicht noch einmal Polen. Die Zeit der politischen Wunder ist vorbei, aber Mut machen und Kraft zum Durchhalten geben, das kann er noch: sich selbst und so vielen anderen. Einer muss es tun.

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