Bundestag mit neuer Rekordgröße: Die deutsche Wahlrechtswundertüte
Der Bundestag wächst weiter. Unser Wahlsystem funktioniert nicht mehr, eine echte Reform ist geboten. Das neue Parlament hat eine Aufgabe. Ein Kommentar.
Da haben sie nun den Salat. Oder wir. Der Bundestag ist nochmals gewachsen mit der Wahl vom Sonntag. Die hinteren Reihen müssen erweitert werden. 735 Abgeordnete sind es geworden, ein neuer Rekord. Aber atmen da schon welche auf? Immerhin gab es die begründete Erwartung, dass es noch einige Dutzend Sitze mehr werden könnten. Und die Horrorszenarien, die auch verbreitet worden waren, mit bis zu 1000 Sitzen, die sind ja erst recht nicht eingetreten.
Also alles halb so wild? Was ist schon der Unterschied zwischen 709 bisher und 735 jetzt? Muss es da wirklich noch eine Wahlrechtsreform geben? Hat nicht die schwarz-rote Kleinreform aus dem vorigen Jahre zumindest ein bisschen gewirkt? Und wird sie nicht im zweiten Schritt noch mehr bewirken?
Es kommt darauf an, was man von einem Wahlrecht, von einem Wahlsystem erwartet. Dass das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Stellungnahme zum schwarz-roten Wahlgesetz schon mal hat anklingen lassen, dass solche Gesetze auch für Normalwähler verständlich sein sollten, darf man aber als kleine Warnung nehmen. Und dass der Bundestag sich demnächst von Karlsruhe wieder Kriterien vorschreiben lässt, sollte man eigentlich nicht hoffen. Erst die Selbstaufblähung, dann die aufgedrängte Korrektur? Sollte sich dieser Bundestag, erweitert um Dutzende Hinterbänkler, nicht langsam mal besinnen und so etwas wie Selbstrespekt zeigen?
Eine feste Größe
Ein Parlament braucht eine feste Größe. Das sollte bei der dringend gebotenen Wahlrechtsreform der erste Ansatzpunkt sein. Ein Wahlrecht, das die Sitzzahl offen, also unberechenbar lässt, kann doch nicht überzeugend wirken. Zumal das auch kostet, mit den Umbauten, Erweiterungen, neuen Büros. Auch eine Deckelung des Aufwuchses ist kein Behelf. Man muss im Bundestag nun endlich begreifen, dass dieses Wahlsystem, diese Variante der personalisierten Verhältniswahl, schlicht und einfach nichts mehr taugt. Und dass ein Wahlrecht sich nicht daran orientieren darf, welche momentanen Interessen Parteien und Fraktionen haben.
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Das Problem dieses Wahlsystems ist die mittlerweile völlig bankrotte Verbindung von Mehrheitswahl und Verhältniswahl. Genauer gesagt: die aus der Mehrheitswahl übernommene Direktmandatsgarantie, also die Bestimmung, dass Wahlkreissieger einen sicheren Sitz haben. Eingebettet in eine Verhältniswahl, die mittlerweile mit einem locker werdenden Vielparteiensystem verbunden ist, kann das aber nicht funktionieren.
Direktmandat unter 20 Prozent
Denn wenn Wahlkreise mit weniger als 30 Prozent gewonnen werden können, kann man ja vernünftigerweise nicht mehr von Siegern oder Siegerinnen reden, sondern allenfalls von Wahlkreisersten. In keinem echten Mehrheitswahlsystem genügen solche Ergebnisse in der Regel, um ein Mandat zu bekommen. Und am Sonntag gingen Direktmandate für 25 Prozent und weniger weg. In Dresden reichten gar 18,6 Prozent. Das ist eine Farce. Was wir haben, ist eine unechte Mehrheitswahl. Darin liegt eine der Ursachen für den größeren Bundestag.
Dass es allein am Ergebnis in einem Bundesland hängen kann, dass sich der Bundestag um 137 Sitze vergrößert, sollte auch stutzig machen. Das bayerische Problem war (theoretisch) schon lange auf dem Schirm. Aber es wurde (praktisch) ignoriert, vor allem von der CSU, die dadurch ja nur Vorteile hat. Dass sie nun durch eine kleine Änderung im vorigen Jahr – drei Überhänge ohne Ausgleich - auch noch überrepräsentiert ist, ist eine weitere Merkwürdigkeit in der deutschen Wahlrechtswundertüte.
Reform statt Herumschrauberei
Die Erkenntnis, dass dieses Wahlsystem nicht mehr reformierbar ist, dass es unter den Bedingungen einer Vielparteiendemokratie einfach nicht mehr funktioniert, dass es auch weitaus größere Parlamente als das nun gewählte zum Ergebnis haben kann, dass es durch das weitere Drehen an irgendwelchen Schrauben nicht mehr besser wird, muss sich nach diesem Wahlsonntag auch im Parlament selbst durchsetzen. Vertrauen sollte man darauf aber nicht. Die Gefahr, dass es einen Gewöhnungseffekt gibt, dass es ja auch schön ist, wenn die Fraktionen allesamt ein wenig größer sind als bei der Normgröße von 598 Mandaten, dass man immer und überall Wichtigeres zu tun ha la das Wahlrecht zu reformieren – all das kann dazu führen, dass der Bundestag die notwendige größere Reform weiter verschleppt. Das darf nicht sein. Die große Wahlrechtsreform muss in den nächsten Koalitionsvertrag, egal wer regiert. Dieser Bundestag hat hier eine große Aufgabe.