Internationale Sicherheit: Die deutsche Debatte über den INF-Vertrag ist realitätsfern
Die Welt funktioniert nicht mehr wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Nachrüstung ist nur eine Bedrohung von vielen. Ein Kommentar.
Pünktlich zur Münchner Sicherheitskonferenz gönnt sich Deutschland eine kleine Nachrüstungsdebatte. Russland, da sind sich die USA und ihre Nato-Verbündeten sicher, hat gegen den INF-Vertrag verstoßen, also dem Vertrag zwischen den USA und Russland, der die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen zu Lande untersagt. Anfang Februar hat Donald Trump nach vergeblichen Vermittlungsversuchen der Deutschen den Vertrag gekündigt – wofür Angela Merkel ihn nun auf der Münchner Sicherheitskonferenz kritisierte. Die Entscheidung dürfe nicht „in blindes Aufrüsten“ münden, sagte die Kanzlerin.
Doch über Aufrüstung diskutiert die deutsche Politik jetzt wieder. Die CDU, zum Beispiel in Gestalt des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Johann David Wadephul, ist eher für konventionelle Nachrüstung und warnt vor einem neuen deutschen Verrat an den Partnern. Die SPD ist dagegen. Doch so nützlich die Debatte für die parteipolitische Profilierung sein mag – sie geht an den Realitäten vorbei. Die Vorstellung einer bipolaren Welt, in der sich mit ein paar Raketen mehr oder weniger ein Machtgleichgewicht herstellen lässt, ist veraltet. Der Kalte Krieg kommt nicht zurück.
Dass so mancher sich das wünschen mag, ist beinahe verständlich. Die binäre Vorstellung von der „Waffengleichheit“ ist schön einfach. Sie ordnet die chaotische Welt in das Bild einer Wage: Es gibt zwei Schalen, die in Balance sind, wenn in beiden gleich viel liegt. In den 70er und 80er Jahren zählte man Raketen, um zu wissen, ob man sicher ist. Gleich viele Raketen, gleich viel Macht. Auf dieser Gleichgewichtsidee basieren auch die großen Abrüstungsverträge wie der INF-Vertrag. Du darfst nicht haben, was ich nicht habe – fertig ist der Weltfrieden.
Die friedenssichernde Wirkung atomarer Abrüstungsverträge soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Den russischen Verstoß gegen den INF-Vertrag allerdings zum Kern der Sicherheitsdebatte zu machen, wäre ebenso falsch. Seit 1989 haben sich viele weitere Formen der Bedrohung entwickelt, so viele, dass die Stationierung jener atomar bestückbaren russischen SSC-8-Raketen fast wie nur ein Problem unter vielen wirkt. Zu schaden versuchen sich die Großmächte Russland, China und USA beim Handel, in der Wirtschaft, der Innovation und der Information.
Es geht meist darum, den jeweiligen „Gegner“ oder zu Satelliten auserkorene Länder technologisch, wirtschaftlich oder ideologisch zu schwächen oder zu erobern – nicht real. Märkte und Wahlen lassen sich viel schneller beeinflussen als Waffensysteme entwickeln. Um der EU zu schaden, muss Russland nicht im Baltikum einmarschieren. Um sich kleinere asiatische Länder untertan zu machen, muss China sie nicht atomar angreifen.
Die Welt ist ein komplexes System, kein binäres
Die global vernetzte Welt ist geprägt von Interdependenzen und Rückkopplungseffekten. Sie ist ein komplexes System, kein binäres. Handelskriege können schnell auf die eigene Wirtschaft rückkoppeln und politische Mehrheiten verändern. Märkte lassen sich viel schneller verschieben als sich Waffen entwickeln lassen, dadurch können rasch neue Allianzen entstehen. Auch im Wettlauf um Innovationen gibt es keine binären Antworten. Protektionismus mag zunächst funktionieren, langfristig aber die Entwicklung von Ideen, von denen man selbst profitieren könnte, hemmen.
Gleichzeitig verlegt sich der „Krieg“ von der Infrastruktur auf die Köpfe. Russische Cybersöldner haben Emails des National Committees der US-Demokraten erbeutet – doch das eigentliche Ziel war die nationale Psyche der USA. Es geht darum, Gesellschaften zu spalten oder Wahlen zu manipulieren. Sicherheitsexperten fragen schon, ob nicht auch die russischen SSC-8-Rakten Teil eines Angriffs auf die Köpfe sind – mit dem Ziel, dass sich die USA und Europa streiten und Gesellschaften wie die deutsche in einer Nachrüstungsdebatte gespalten werden.
„The Cold War is over“, schrieb Maas
Außenminister Heiko Maas und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen scheinen bereit, das bipolare Zeitalter des Waffengleichgewichts für beendet zu erklären. „The Cold War is over“, schrieb Maas anlässlich der Sicherheitskonferenz in einem Beitrag für die „Security Times“. Das „tit for tat“ der achtziger Jahre funktioniere nicht mehr, sagte von der Leyen. Für die Nato erteilte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg atomarer Aufrüstung eine klare Absage. Der Tenor ist vielmehr: Die Nato ist zwar noch nicht ganz im neuen Denken angekommen. Aber wir bewegen uns darauf zu, Strategien für die hybride Kriegsführung des 21. Jahrhunderts zu entwickeln.
Dass sich dieses Denken langsam ausbreitet, war in München zu spüren. All das spricht nicht dagegen, darüber nachzudenken, mit welchen konventionellen Waffen einer möglichen Gefahr durch atomare russische Mittelstreckenraketen begegnet werden könnte. Aber das allein darf nicht den Anspruch auf den Begriff „Strategie“ erheben. Echte Sicherheit kann es nur geben, wenn Handelspolitik, der Schutz der eigenen Demokratie vor Spalterei, eine kluge Innovationspolitik, starke Bündnisse und klassische Rüstung in eine stimmige Gesamtstrategie gebracht werden.