BND und NSA: Die Chronologie des Spionageskandals
Die Geheimdienstaffäre um den BND und die NSA setzt die Bundesregierung immer mehr unter Druck. Welche Verantwortlichen haben wann was gewusst? Eine Chronologie des deutsch-amerikanischen Spionageskandals.
Es ist ein schwerer Verdacht: Hat die Bundesregierung jahrelang tatenlos zugesehen, wie der US-Nachrichtendienst NSA den Bundesnachrichtendienst (BND) für Ausspähaktionen gegen Unternehmen und Behörden in Deutschland und Europa eingespannt hat? Dafür spricht eine Fülle von Fakten und Hinweisen, die von der Bundesregierung bisher nicht entkräftet worden sind. Chronologie eines Überwachungsskandals:
April 2002: Deutschland und die USA vereinbaren eine enge Zusammenarbeit zur Überwachung der Telekommunikation. Die Kooperation wird in einem „Memorandum of Agreement“ geregelt, das der damalige Geheimdienstkoordinator der rot-grünen Bundesregierung und heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) billigt. Die Vereinbarung sieht vor, dass in Deutschland deutsche oder amerikanische Staatsbürger nicht abgehört werden. Zudem soll ausgeschlossen werden, dass deutsche und europäische Wirtschaftsinteressen beeinträchtigt werden.
2004: Die von den USA schon 1952 aufgrund von alliierten Sonderrechten gebaute Abhörstation in Bad Aibling wird dem BND übergeben. Von hier aus fängt der BND in Zusammenarbeit mit der NSA nun Telefongespräche, E-Mails und SMS-Nachrichten ab. Die Daten werden nach Suchbegriffen der NSA ausgeforscht, sogenannten Selektoren. Bis 2015 gaben die Amerikaner 4,6 Millionen solcher Suchbegriffe vor. Täglich werden nach BND-Angaben rund 800 000 Suchanfragen bearbeitet.
Januar 2006: Die BND-Außenstelle in Bad Aibling meldet an die Pullacher BND-Zentrale den Verdacht, dass mit den Selektoren der NSA auch Telekommunikation des europäischen Rüstungskonzerns EADS und seiner Tochter Eurocopter ausgeforscht werde. Ob der damalige BND-Chef Ernst Uhrlau davon erfährt, ist bislang unklar. Schon 2005 waren BND-Mitarbeitern auffällige Suchbegriffe zu den Unternehmen aufgefallen.
2008: Der BND meldet laut „Bild am Sonntag“ in einem streng vertraulichen Bericht an das Kanzleramt, dass die NSA versuche, über die BND-Station in Bad Aibling Wissen über die multinationalen Rüstungskonzerne EADS und Eurocopter abzuschöpfen. Dass der damalige Kanzleramtschef Thomas de Maizière, verantwortlich für die Kontrolle der Geheimdienste, informiert wird, ist nicht bewiesen.
2010: Spätestens jetzt wird das Bundeskanzleramt vom BND nachweislich darüber informiert, dass Suchvorgaben der NSA auf EADS, Eurocopter sowie auf französische Regierungsbehörden zielten. Das geht nach Informationen des „Spiegel“ aus einem Bericht an die zuständige Abteilung 6 des Kanzleramts hervor. 2005 habe die NSA „Erfassungskriterien zu den Firmen EADS, Eurocopter und verschiedenen französischen Behörden“ eingespeist. Die habe der BND entdeckt und im Anschluss unterbunden. Empfänger der Information im Kanzleramt: der Spitzenbeamte Guido Müller, heute BND-Vize. In welchem Umfang Müller den Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Günter Heiß, ins Bild setzte, ist bislang unklar. Der damalige Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU) drängt laut „Welt am Sonntag“ jedoch gegenüber dem BND darauf, dass die Suchwünsche der NSA strenger gesiebt werden, um die Ausspähung deutscher Bürger und Unternehmen sowie europäischer Partner zu verhindern. Parlament und Öffentlichkeit informiert Pofalla nicht.
Juni 2013: Der frühere NSA-Mitarbeiter Edward Snowden legt offen, wie die NSA auf der ganzen Welt Millionen Internet- und Telefondaten überwacht. Snowden hatte Zugang zu streng geheimen Informationen über das amerikanische Überwachungsprogramm Prism und das britische Pendant Tempora zur Erfassung der gesamten digitalen Kommunikation. Nach seiner Flucht nach Hongkong bemüht sich Snowden darum, einen sicheren Aufenthaltsort zu finden. Russland gewährt ihm im August 2013 politisches Asyl. Dort lebt Snowden bis heute. Seine Versuche, einen anderen Asylort zu finden, waren bisher nicht erfolgreich.
August 2013: Der BND reagiert auf die Enthüllung der weltweiten NSA-Abhörmethoden durch Snowden und lässt die Suchbegriffe der Amerikaner für die Abhörstation Bad Aibling überprüfen. Dabei stoßen die BND-Leute in der sogenannten Selektorendatei nach „Spiegel“-Informationen auf etliche E-Mail-Adressen, die zu französischen Diplomaten, Mitarbeitern von EU-Institutionen und europäischen Regierungen führen. Auf einer entsprechenden BND-Liste mit Suchbegriffen, die auf deutsche oder europäische Ziele hindeuten, stehen nach Informationen der „Welt am Sonntag“ rund 2000 Personen und Institutionen. BND-Präsident Gerhard Schindler wird über all das angeblich nicht in Kenntnis gesetzt.
12. August 2013: Kanzleramtschef Pofalla tritt vor dem Geheimdienstkontrollgremium des Bundestages auf – und erklärt die NSA-Affäre für beendet. Seine Argumentation: Die britischen und amerikanischen Geheimdienste hätten ihm schriftlich bestätigt, dass sie sich in Deutschland an deutsches Recht hielten. Pofalla wörtlich: „Der Vorwurf der vermeintlichen Totalausspähung in Deutschland ist nach den Angaben der NSA, des britischen Dienstes und unserer Nachrichtendienste vom Tisch.“
24. Oktober 2013: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärt: „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht“. Sie reagiert damit auf Enthüllungen, wonach ihr Mobiltelefon Ziel von Spähaktionen amerikanischer Geheimdienste war. Merkel versichert, das Ausspähen unter Freunden sei gegenüber niemandem legitim. „Das gilt für jeden Bürger und jede Bürgerin in Deutschland. Dafür bin ich als Bundeskanzlerin auch verantwortlich, das durchzusetzen.“
Februar 2014: Außenminister Steinmeier versucht bei einer USA-Reise den transatlantischen Partner davon zu überzeugen, dass ein No-Spy-Abkommen – ein Vertrag, in dem sich beide Seiten verpflichten, sich gegenseitig nicht auszuspähen – eine gute Idee wäre. Sein Amtskollege John Kerry macht jedoch klar, dass die USA nicht bereit sind, über ein solches Abkommen zu verhandeln. Steinmeier kündigt darauf einen „Cyber-Dialog“ zwischen Deutschland und den USA an, der die Vorstellungen von „Privatsphäre und Sicherheit“ auf der einen und der anderen Seite des Atlantiks ausloten soll.
20. März 2014: Der Bundestag setzt einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der NSA-Affäre ein, um das Ausmaß und die Hintergründe der Ausspähungen hierzulande offenzulegen.
August 2014: Es wird bekannt: Nicht nur die Amerikaner haben Regierungen ausgespäht. Auch der BND hat befreundete Regierungen, unter anderem der Türkei, abgehört. Auch die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton wurde „als Beifang“, also nach BND-Angaben unabsichtlich, von der Behörde abgehört.
März 2015: Angeblich erfährt die BND-Führung erst jetzt, dass der Dienst in Bad Aibling eine „Ablehnungsdatei“ geführt hat. Darin wurden jene NSA-Selektoren gesammelt, die der BND seit 2002 ausgesondert hat. Es soll sich nach „Spiegel“-Informationen um insgesamt 40 000 Suchvorgaben handeln.
12. März 2015: BND-Chef Gerhard Schindler erklärt im Kanzleramt, dass BND-Mitarbeitern jahrelang regelwidrige Suchbegriffe aufgefallen waren, dies aber nicht an die BND-Führung gemeldet worden sei.
14. April 2015: Das Ressort von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) antwortet auf eine parlamentarische Anfrage der Linken: „Es liegen weiterhin keine Erkenntnisse zu angeblicher Wirtschaftsspionage durch die NSA oder andere US-Dienste in anderen Staaten vor.“ Formuliert wurde die Antwort jedoch nicht vom Innenministerium, sondern vom Kanzleramt, wie sich später herausstellt. Den unter anderen von der Linken erhobenen Vorwurf der Lüge weist de Maizière vehement zurück.
23. April 2015: Das unter Druck geratene Bundeskanzleramt geht scharf mit dem BND ins Gericht. Regierungssprecher Steffen Seibert erklärt: „Im Rahmen der Dienst- und Fachaufsicht hat das Bundeskanzleramt technische und organisatorische Defizite beim BND identifiziert. Das Bundeskanzleramt hat unverzüglich Weisung erteilt, diese zu beheben.“ Das Kanzleramt prüfe außerdem, ob die Antworten auf „die zu diesem Sachverhalt gestellten parlamentarischen Fragen weiterhin uneingeschränkt Bestand haben“.
Was wird als Nächstes folgen?
Am kommenden Donnerstag, den 7. Mai 2015 sind ein Unterabteilungsleiter und ein Referatsleiter des BND als Zeugen vor dem NSA-Untersuchungsausschuss geladen. Es handelt sich um jene Mitarbeiter, die nach den Snowden-Enthüllungen die vom NSA abgefragten Selektoren überprüft und einen Teil davon blockiert haben.
Grundsätzlich fordern alle Fraktionen im Bundestag die Regierung dazu auf, die vollständige Selektorenliste im Ausschuss vorzulegen. Kanzleramtschef Peter Altmaier versucht derzeit, die Zustimmung der USA dazu einzuholen. Doch ein Ja der Amerikaner gilt als ausgeschlossen.
Das stellt Bundeskanzlerin Merkel vor die Frage, ob sie sich im Zweifel über die Bedenken ihres mächtigsten Bündnispartners hinwegsetzen soll. Die Kanzlerin sieht sich auch in der Pflicht, alles dafür zu tun, um einen Terroranschlag in Deutschland zu verhindern. In Sicherheitskreisen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass ein wirksamer Schutz ohne Informationen von US-Geheimdiensten kaum möglich sei.