„Uns fehlt die Zuversicht“: Die CDU muss bürgerlich bleiben, aber progressiver werden
Wir zeigen zu wenig Haltung, wirken altbacken und langweilig, schreibt die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein über ihre Partei, die CDU. Ein Gastbeitrag.
Karin Prien, 53, ist Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein. Die Juristin wurde in Amsterdam geboren und lebt jetzt in Hamburg und Kiel. Sie ist stellvertretende Vorsitzende im CDU-Landesverband Schleswig-Holstein. Die Mutter dreier Söhne war vor ihrer Ernennung zur Ministerin als Fachanwältin für Handels- und Gesellschaftsrecht tätig und schulpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft.
Die Gründe für die dramatischen Verluste der Union bei der Europawahl sind vielfältig. Noch vielfältiger sind die klugen Ratschläge, die aus einer ehrlichen und inneren Besorgnis über den Zustand unserer Partei derzeit aus ganz unterschiedlichen Ecken zu hören sind. Auch ich mache mir Gedanken über unsere Partei und will nachfolgend einige Gedanken zur Diskussion stellen.
Wenn wir in der Analyse der aktuellen Situation Missstände identifizieren, dann sollten wir dies tun, ohne damit Schuld zuzuweisen. Über Verantwortung wird an anderer Stelle zu sprechen sein, aber heute ist es an der Zeit um über Strukturen und Inhalte nachzudenken.
Wir haben nicht ein einziges positives Thema für Europa gesetzt, hatten keine überzeugenden Antworten bei den maßgeblichen Zukunftsthemen, die aktuell gesellschaftlich diskutiert werden. Wenn wir von Sicherheit sprechen, dann erscheint das Bild von Flüchtlingen im Kopf, weil unser Diskurs vergiftet ist.
Häme zeigen wir statt Respekt gegenüber „Fridays for Future“. Bei der Art.13/17–Debatte müssen wir kommunikativ und inhaltlich vollständiges Versagen anerkennen, und da geht es gleich nicht nur um die „Jugend“, sondern auch um deren Eltern und manche Großeltern.
Wir zeigen zu wenig Haltung, geben zu wenig Orientierung und wirken in der Kampagne altbacken und langweilig. Vor allem aber wirken wir nicht progressiv und gestaltend, sondern kommunizieren aus der Defensive heraus. Wichtiger, uns fehlt es offensichtlich an Zuversicht und Vertrauen in unsere eigene politische Gestaltungskraft.
Asymmetrische Demobilisierung war gestern taktisch genial, aber sie hat uns gelähmt und wirkt heute fatal
Asymmetrische Demobilisierung war gestern taktisch genial, aber sie hat uns gelähmt und wirkt heute fatal. Wer von unseren Wahlkämpfern konnte denn noch auf Anhieb drei Gründe liefern, warum die Union die beste Wahl für Europa 2019 ist? Welche Geschichte von Europa erzählen wir denn mit unseren Kandidaten landauf, landab?
Und schließlich: Wir kommunizieren nur noch auf einem Teil der relevanten Kanäle wirklich offen und neugierig und wir verlieren langsam aber sicher den Anschluss in der digitalen Demokratie und an jene Menschen, die dort längst ihre Meinung bilden und senden. Wir machen vieles gut, aber wir müssen besser werden.
Mein bis heute spannendster CDU-Parteitag fand 1981 in Hamburg statt. Ich war damals 16 Jahre alt und als JU-Mitglied ein klarer Außenseiter in meiner Generation, moralisch tendenziell immer auf der falschen Seite und (fast alle) coolen Jungs waren irgendwie immer bei den anderen.
Auf dem Höhepunkt der Proteste der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss luden Helmut Kohl und Heiner Geissler 500 Jugendliche ein zur Debatte mit den Delegierten auf den 30. CDU-Bundesparteitag. Hanna-Renate Laurin, Gerhard Stoltenberg und Kurt Biedenkopf und Richard von Weizsäcker, allesamt intellektuelle Schwergewichte, leiteten die vier großen Diskussionsforen zu den Themen: (1) Bildung, Beruf, neue Zukunftschancen, (2) Soziale Marktwirtschaft im Dienste der Menschen, (3) Für eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht, sowie (4) Frieden und Freiheit sichern, in dem Richard von Weizsäcker eine legendäre Einführungsrede hielt.
Der Union ist es damals gelungen, sich zu öffnen und die gesellschaftliche Debatte maßgeblich zu prägen und das, obwohl mehrere hunderttausende, vor allem junge Menschen, sich in der Friedensbewegung, bei den Grünen, auf Kirchentagen, aber sicher nicht bei der CDU engagierten.
Die CDU muss eine bürgerliche Progressivität entwickeln
Die CDU/CSU gewann am 6. März 1983 die Bundestagswahlen haushoch mit 48,8 Prozent (!). Helmut Kohl und Heiner Geißler hatten die CDU von einer satten, verkrusteten Honoratiorenpartei in eine moderne, kampagnenfähige Mitgliederpartei verwandelt, in der die Vision für ein Leben in einer gerechteren Gesellschaft mit Aufstiegschancen für jeden, in Sicherheit, Wohlstand und Freiheit diskutiert und gestaltet wurde, in der der Brückenschlag zwischen den Generationen, zwischen Arbeit und Kapital und sogar die Gleichberechtigung am Ende leidlich gelungen ist.
Unser Parteiensystem hat sich gewandelt. Solche Wahlergebnisse werden wir auf absehbare nicht wieder erleben und das ewige Nachtrauern der 40 Prozent plus X-Zeiten hilft niemandem. Was wir dagegen vor Augen haben müssen, ist die Frage, wie die CDU auf Dauer die gestaltende bürgerlich-progressive Kraft in Deutschland bleiben kann. Je mehr ich unsere Partei beobachte, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass wir innerhalb der CDU eine „Bürgerliche Progressivität“ entwickeln müssen.
Wir haben verlernt, unsere Vorstellung von einer nachhaltigen, sozial und ökologisch gerechteren Chancengesellschaft zu formulieren
Wo stehen wir heute? Wir haben verlernt, unsere Vorstellung von einer nachhaltigen, sozial und ökologisch gerechteren Chancengesellschaft zu formulieren, in der wir uns zutrauen unsere Gesellschaft trotz aller Fliehkräfte zusammenzuhalten, in der wir uns zutrauen, unsere liberale Demokratie zu verteidigen, unseren Wohlstand marktwirtschaftlich, technologieoffen, wissenschaftsfreundlich und in engem Schulterschluss mit unseren europäischen Partner weiterzuentwickeln, zu formulieren und zu vertreten.
Wahrgenommen werden wir im Moment bestenfalls als Moderatoren, oftmals als Verhinderer, nicht selten rückwärtsgewandt. Manche unter uns sehnen sich vor lauter Zukunftsangst nostalgisch nach der heilen Welt der alten Bundesrepublik, die es so nie gab und nicht mehr geben wird.
Uns fehlt der Mut, gesellschaftliche Debatten früh aufzunehmen und zu prägen, oft fehlt der Zugang in die gesellschaftlichen Räume in denen die maßgeblichen Diskurse stattfinden. Wir kommen nicht aus unserer Komfortzone der Selbstbestätigung bei der Zusammenkunft des Ortsverbandes heraus. Wir meiden die Auseinandersetzung, weil die Debatten uns manches Mal lästig sind.
Wir sind in Würde gealtert, aber in der Außenwahrnehmung bleibt davon nur noch „alt“ übrig
Wir sind als Volkspartei in die Jahre gekommen, durchaus in Würde gealtert. In der Außenwahrnehmung bleibt davon aber nur noch „alt“ übrig. Unsere Dialogformate und unsere Parteikultur sind zu unattraktiv, zu statisch, zu inhaltsleer, zu wenig offen in eine Gesellschaft hinein, in der sich viele Menschen punktuell und monothematisch organisieren.
Wir Christdemokraten liefern zu selten Perspektiven für Frauen, für Junge und Zugewanderte, aber auch für schlicht für eben jene Menschen, die sich für eine Sache, aber nicht für eine Partei engagieren wollen. Die Verteidigung der eigenen Pfründe verstellt den Blick auf die Wege zum gemeinsamen Erfolg. Wo sind unsere Zukunftslust, unsere Kreativität und unser Zutrauen? „Nichts ist selbstverständlich, aber alles ist möglich.“
Die Antwort heißt dabei keineswegs, grüner zu werden, sondern sich dessen bewusst zu werden, was christdemokratische Schöpfungsbewahrung ist und diese wieder besser zu kommunizieren.
Die Antwort heißt keineswegs, wirtschaftsliberaler zu werden, sondern sich daran zu erinnern, dass es Christdemokraten waren, die das Wirtschaftswunder in Deutschland geprägt und die Leitplanken dafür gesetzt haben, dass unser Mittelstand der Motor unseres Wohlstandes ist.
Die Antwort heißt weder "grün werden" noch "nach rechts rücken"
Und die Antwort, das will ich besonders unterstreichen, heißt nicht nach rechts zu rücken. Ausgrenzung und Abschottung sind genauso wenig christdemokratisch wie Menschen auf ihre Religion oder Herkunft zu reduzieren. An der Abgrenzung zu Radikalen und Extremisten, nach links und rechts, darf auch kommunikativ niemals Zweifel aufkommen.
Gestaltungswille, Optimismus und Freude auf die Zukunft kommen bei uns Christdemokraten zusammen mit dem Bestreben, alle Menschen in diesem Land im Blick zu haben und Veränderungen empathisch umzusetzen. Das ist Bürgerliche Progressivität. Bürgerliche Progressivität heißt, nach Innovationen und Zukunft zu suchen, nach Lösungen und Entwicklungen die Partizipation ermöglichen und den Einzelnen stärken.
Bürgerlich-progressiv ist aber auch das Mitnehmen breiter Schichten der Bevölkerung, das Erklären und das Nehmen von Ängsten. Als Christdemokraten springen wir nicht gleich auf jeden Zug, den wir hinter einer großen Wolke vermuten. Aber wir freuen uns darauf, die neue Technik zu entdecken und zu sehen, wie wir sie dem Menschen und unserer Gesellschaft nutzbar machen können.
Eine bürgerlich-progressive Partei heißt aber auch, dass gemeinsame gesellschaftliche Ziele, Anreize, Vertrauen in die Kreativität und die Schaffenskraft von Menschen, der Zusammenhalt von Familien und Gesellschaft, die Innovationskraft von Wissenschaft, Forschung und Unternehmern und der Glauben an die treibende Kraft der sozialen Marktwirtschaft unsere Chance sind und bleiben. Dazu müssen wir über uns nachdenken.
Der Grundsatzprogramm-Prozess ist dringend notwendig
Der Grundsatzprogramm-Prozess ist dringend notwendig. Nach 1978, 1994, 2007 brauchen wir neue Antworten bei den Themen Nachhaltigkeit, in der sozialen Marktwirtschaft, namentlich der Versöhnung von Wohlstand, Klimaschutz und Biodiversität, Demographie und Generationengerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Chancen und Gestaltung der digitalen Gesellschaft, Weiterentwicklung der Europäischen Union und Deutschlands internationaler Rolle, Migration und Fachkräftebedarf, Weltoffenheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt in Stadt und Land.
Wir müssen aber auch verstärkt über die Themen sprechen, die in unseren vergangenen Grundsatzprogrammen noch nicht die Agenda bestimmt haben. Digitale und informationelle Selbstbestimmung, Künstliche Intelligenz und die Chancen von Big Data aber auch die Fragen nach digitaler Partizipation und digitaler Wertschöpfung. Im Jahre 70 nach Verkündung des Grundgesetzes müssen wir Christdemokraten auch die Frage stellen, wie es denn um den Grundrechtschutz im digitalen Zeitalter gestellt ist.
Keines der aktuellen Probleme werden wir durch Bevormundung und Erziehung zum besseren Menschen, durch Gängelung und moralischen Überlegenheitsgestus, durch Tugendfuror und Verbote lösen.
Progressiv angehen sollten wir nicht nur die Inhalte, sondern auch den Umgang und die innerparteiliche Willensbildung. Wir müssen Barcamps genauso selbstverständlich machen wie den bewährten Stammtisch, wir brauchen Foren und Plattformen im Netz und eine starke Präsenz in der sozialen Medien.
Es muss endlich selbstverständlich sein, Wissenschaft und Fachleute zu uns einzuladen, wenn wir um Lösungen ringen. Und wir müssen uns frei davon machen, nur solche Experten zu rate zu ziehen, die unserem Status quo nahestehen. Kontroverse schärft den Geist, Gegenrede schärft das Argument! Auch und gerade über die gedankliche Enge von Legislaturperioden hinweg.
Wir müssen dem Anspruch gerecht werden, als Volkspartei die großen gesellschaftlichen Fragen im zivilisierten Diskurs und im Ausgleich zu beantworten. Die Versuchung der Bewegungspartei mag manchen reizen, riskiert aber die Abkehr von Freiheit und Pluralismus.
Wir müssen Inhalte bottom-up entwickeln
Wir müssen mit den Menschen überall dort kommunizieren, wo sie unterwegs sind, analog und digital. Inhalte entwickeln wir bottom-up. Strukturen verbessern wir top-down. 400.000 CDU Mitglieder sind der größte bürgerliche Wissensschatz in Europa. Das wird zum Kernelement unserer Bürgerlichen Progressivität.
Und wie schaffen wir den Spagat zwischen den Liberalen, Christlichsozialen und den Konservativen? Wie bringen wir jene zusammen, die die Öffnung weit in die gesellschaftliche Mitte weiter für überlebenswichtig halten und denen, die ein deutlich konservativeres Profil ersehnen?
Der erste Schritt ist, dass wir weniger in diesen abgrenzenden Kategorien denken, sondern dass wir uns gemeinsam als Teil dieser bürgerlichen Progressivität sehen, die unsere Partei für unser Land weiterentwickeln will.
Wir sind stolz auf unsere Wurzeln, auf die vielen klugen Köpfe, die mit ihren unterschiedlichen Perspektiven den Reichtum und die Kraft unserer Volkspartei ausmachen und müssen ihnen den Raum in der inhaltlichen Auseinandersetzung geben. Dabei muss klar sein, dass wir zusammengehören, respektvoll miteinander umgehen und nur als Team gewinnen können. Nichts ist selbstverständlich, aber alles ist möglich.
Karin Prien